Als ich die Treppe zur Wohnung meines Vaters hochsteige, wartet er nicht wie üblich in der Tür auf mich. Ich trete durch die angelehnte Tür und entdecke ihn in der Küche. Sein Handy steht auf der Ablagefläche und er telefoniert mit jemandem aus unserer Heimat, der Ukraine.

»Komm mal her«, sagt er auf Russisch, als er mich sieht. »Schau mal, das ist meine Tochter«, richtet er an das Display. Dann geht er zur Seite, um mir Platz zu machen, zieht mich ins Bild.

Am Lenin-Tattoo auf der Brust erkenne ich meinen Onkel. Sonst kannte ich ihn nur von einer Fotoreihe, die er mal meiner Oma geschickt hatte. Um ihr zu beweisen, dass er das mit Western Union über Verwandte weitergegebene Geld auch wirklich für eine Winterjacke ausgegeben hatte.

Die einzigen Neuigkeiten, die bis zu mir durchdrangen, waren seine Entlassungen und Verhaftungen. Schon mit elf Jahren kapierte ich, dass er es sowieso nicht mehr als ein paar Monate an der frischen Luft aushielt.

Mit so einem langen Register an Verurteilungen ist es ziemlich schwer, einen Job zu finden. Nur wenige schaffen es aus dem Knast zurück ins normale Leben, jedoch bestätigen Ausnahmen die Regel. Einer davon, die es geschafft haben, wohnt sogar bei mir im Studentenwohnheim. Seine Vergangenheit ist ihm unangenehm und ich bin die Einzige, die davon weiß.

Zu Lebzeiten schickte meine Oma meinem Onkel heimlich Geld und mein Vater schimpfte immer mit ihr, wenn er es herausfand. Das letzte Mal hatte mein Onkel mich live kurz vor unserer Abreise nach Deutschland gesehen.

»Hallo«, sage ich.
»Eine junge Frau«, sagt er. Sonst haben wir uns nichts zu sagen.
»Der hat nicht mehr viel Zeit«, sagt mein Vater, also gehe ich ins Wohnzimmer und warte dort, bis er das Telefonat beendet hat.

Auf einem Beistelltisch liegen drei schöne hölzerne Backgammon-Spielbretter, jedes mit einem anderen Motiv aufwendig geschnitzt.

»Wofür 3?«, ich schaue meinen Vater fragend an, dann schweift mein Blick zum Stapel.
»Das ist Knastarbeit« ,erklärt er mir. „So was wird sehr hoch geschätzt. Es ist feinste Handarbeit und sehr umständlich, sie aus dem Knast zu schmuggeln. Dein Onkel schafft sie hier her und ich verkaufe sie von hier teuer weiter.«
»Das hat mein Onkel geschnitzt?«, frage ich erstaunt.

Kaum vorstellbar, dass der zahnlose Typ von eben zu solcher Kunst fähig ist. Bei dieser Frage muss mein Vater laut lachen.

»Natürlich nicht! Dein Onkel doch nicht, der hat zwei linke Hände. Der kümmert sich um den Transport aus dem Knast heraus.«

Ah, logo, natürlich, klar, denke ich mir. Mein Onkel kümmert sich also mal wieder um den kriminellen Part.

Viel habe ich nicht von meinem Onkel gehört. Was willst du einem kleinen Mädchen auch von einem Knasti erzählen. Früher habe ich mich immer gewundert, wofür er sitzt, doch sagen wollte es mir keiner. Heute verstehe ich wieso.

Ein Krimineller ist eben ein Krimineller, wobei er dann erwischt wird und wofür er in den Knast geht, ist dann oft Zufall. Die meisten Taten bleiben unbemerkt.

Zumindest bei meinen Bekannten ist es so. Von den Dealern, die ich kenne, sitzt nur einer wirklich wegen Drogen. Dieser wurde aber nicht in flagranti erwischt, sondern verraten.

Als ich ihn kennenlernte, wusste ich nicht, dass er gesucht wird, weil er seine Bewährungsauflagen nicht einhielt. Es überraschte kaum jemanden, als er rein ging. Das war schon längst überfällig, denn er dealte Jahre im großen Stil; verkaufte mehrere Kilo Gras, Pepp, Koks, Emma und Keta die Woche, sowie mehrere Tausend Teile und Pappen.

Ein anderer Freund wurde von seinen Eltern angezeigt, als er mit neunzehn noch zuhause wohnte, wegen einer kleinen Menge Pepp, die er provokant im Kühlschrank lagerte. Also musste ein Verfahren eröffnet werden, doch er erschien nie zu den Gerichtsverhandlungen. Da wurde irgendwann ein Suchbefehl erlassen und bei der nächsten Kontrolle kam er sofort in Untersuchungshaft. Dort verbrachte er zwei bis drei Monate und wurde nach der Gerichtsverhandlung auf Bewährung entlassen. Man könnte meinen, er hätte daraus gelernt.

Er kam wohlgenährt und nüchtern aus der Haft, zog wieder zu seinen Eltern und plante, sich wieder ins Leben zu integrieren. Doch er fing wieder an zu ballern und zu verkaufen und flog bei seinen Eltern raus. Er ging nicht zu seiner Bewährungshelferin, hielt sich nicht an die Auflagen. Jetzt sitzt er für mindestens zwei Jahre.

Noch einer saß ein paar Monate wegen nicht bezahlter Strafen. Ein anderer für’s Schwarzfahren. Noch ein weiterer saß für bewaffneten Raubüberfall ca. Eineinhalb Jahre.

Sie alle haben eine lange Liste an begangenen Verbrechen: Diebstahl, Raub, Urkundenfälschung, Betrug, Beleidigung von Beamt:innen, Körperverletzung und hauptsächlich den Verkauf von Drogen. Wofür man reingeht, ist da eher Zufall oder Schicksal beziehungsweise das Universum, wie du willst.

Wer sich für diesen Lebensweg entscheidet, lebt unterm Radar und tut alles, um so wenig wie möglich im Register aufzutauchen. Man wechselt ständig die Wohnung, bucht Airbnbs, ist irgendwo gemeldet, nur nicht da, wo man wohnt. Jedes Zusammentreffen mit der Polizei kann Urlaub hinter schwedischen Gardinen bedeuten. Obwohl das klar ist, ist es den wenigsten meiner Bekannten wirklich bewusst. Sie leben schnell, konsumieren viel und denken nicht an morgen.

»Knast in Deutschland ist wie Urlaub«, pflegt mein Vater zu sagen. Sein Kollege von damals meint, der Ukrainische wäre Urlaub im Vergleich zum Russischen.

Mittlerweile bin ich alt genug. Für meinen Vater, denke ich zumindest. Ich fange an mich zu fragen und zu wundern, wer diese Leute sind, mit denen ich einen Großteil meiner DNA teile. Es ist Jahre her, dass ich jemanden aus meiner Familie getroffen habe, abgesehen von meinen Eltern. Ich glaube, Knastis haben es nicht so sehr mit familiären Beziehungen. Gibt ja Gründe, wieso sie ihren Weg so gewählt haben.

Meine Stiefmutter hat Geburtstag. Der russische Tisch ist gedeckt, doch heute trinke ich nicht mit. Als wir mit dem Essen fertig sind und die Frau meines Vaters die Küche verlässt, fängt mein Vater an, von seinem Geschäftsessen zu erzählen. Sein Freund, der sich mit deutsch-ukrainischen Businessbeziehungen befasst, hat ihn letztens zu einer Unterredung mit seinem Chef mitgenommen, in beratender Funktion. Stolz wie Oskar erzählt er mir von seinem Anzug. Sogar eine Krawatte hätte er angehabt. Diese Vorstellung amüsiert mich.

»…und eine Hublot trage ich dann.«
»Eine was?«, frage ich verwirrt.
»Eine Hublot, eine Prestige-Armbanduhr. Kennst du nicht?«
»Rolex kenne ich.«

Mein Vater muss lachen.

»Google doch«, sagt er.

Ich zücke mein Handy. Diese Uhren kosten 5, 25, 400 k. Erstaunt blicke ich zu meinem Vater hoch.

»Hast du die ausgeliehen?«, frage ich verwundert.

»Geschenkt.«

»Von wem?«

Gekonnt ignoriert er die Frage und holt die Uhr aus dem Schlafzimmer.

Eine Uhr wie eine Uhr halt.

»Aber ist eine der billigen Versionen. Die hat nur 10k gekostet und ist auch schon Jahrzehnte alt.«

Ich nehme das Teil in die Hand. Drehe sie herum, begutachte sie von allen Seiten, halte sie ins Licht, als würde ich ihr die Tausende Euro ansehen können. Ich wiege sie ein bisschen mit der Hand, weil ich denke, dass man das so macht. Auf der Rückseite dreht sich etwas mit meinen Bewegungen mit.

»Steht die?«, fragt mich mein Vater.
»Ne, die tickt noch, aber schnell.«
»Ist das so eine, die man aufzieht?«, frage ich und suche nach dem Rädchen.
»Die zieht sich von selber auf.«
»Ah, dieses Dreh-Teil hinten?«
»Genau, beim Gehen schwingt die Hand und dann bleibt die auch nie stehen.«
»Und von wem hast du die?«, versuche ich es noch einmal.
»Geschenkt bekommen«, weicht er wieder aus.

Ich blicke ihn herausfordernd an. Er gibt nach.
»Von meinem Vater, deinem Opa. Vor ein paar Jahren hat er mir die gegeben.«

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Illustration © tarantrullart

Vollkommen erstaunt muss ich erst mal kurz überlegen. Über meinen Opa weiß ich praktisch nichts, außer das er nie für seine Familie da war, meine Oma verarscht hat und parallel zwei Ehen geführt hat. Mit meiner Oma hatte er meinen Vater und besagten Onkel und mit einer anderen Frau zwei weitere Söhne. Außer meinem Papa war jeder davon im Knast.

Bei uns in der Familie sagt man: Sei froh, dass dein Sohn im Knast ist, dort hat er ein Dach über dem Kopf, nüchtert aus und kann sich wenigstens nicht umbringen.

Für den jüngsten Bruder meines Vaters stimmte das sogar. Ein paar Monate nach seiner Entlassung traf er mit der Heroin-Spritze die falsche Stelle und beendete sein Leben ungewollt mit Ende zwanzig. An seinem ersten Todestag brach mein Vater an seinem Grab zusammen und wünschte sich an seine Stelle. Er hätte nicht gut auf seinen jüngsten Bruder aufgepasst.

»Was hat dein Vater gemacht, dass er sich so eine Uhr leisten konnte?«
Mein Vater überlegt kurz was er mir sagen kann und was nicht.

»Hmmm, also studiert hat er, aber sein Geld hat er mit Urkunden-Fälschungen und Betrug gemacht. Saß auch das ein oder andere Mal.«

Aha, der Apfel fällt also nicht weit vom Stamm. Wieso nur hatte ich das noch nie gehört?

»Aber hat schon Stil, also mehr Niveau, als …?«
Mir fällt das richtige Wort nicht ein.
»Als Straßenkriminalität?«, hilft mein Vater nach.
»Ja genau.« Wir grinsen uns gegenseitig an.
»Ja gut, könnte man schon so sagen.«
»Wo wir schon mal beim Thema sind,..« Es ist die perfekte Gelegenheit, um das Thema wieder auf meinen Onkel zu lenken. Ich hatte sowieso geplant, unauffällig ein Gespräch über meinen Onkel einzuleiten, um diesen Bericht zu verfassen.
»..wofür sitzt dein Bruder eigentlich?«

Mein Vater lächelt mich an.

»Dein Onkel hat insgesamt siebenundzwanzig Jahre im Knast verbracht. Welches Mal meinst du?«

Gut. Fair enough, denke ich. Also frage ich, wie alt er ist. Siebenundvierzig. Mein Vater bemerkt meine Neugierde und fragt, was ich denn genau über meinen Onkel wissen wollte. Ich will wissen, was er verbrochen hat.

»Die Liste ist lang“, sagt mein Vater. Er hätte Leute ausgeraubt, bedroht und umgebracht.
»Umgebracht?!«, frage ich verstört.
»Vermutlich schon. Du musst wissen, Schatz, er ist einer der bekanntesten Verbrecher unserer Heimatstadt. Er kennt jeden, kann jeden finden, hat überall seine Leute. Er regelt seine Geschäfte auch aus dem Knast heraus. Ich zeig dir mal paar Videos, die sollten deine Fragen am besten beantworten.«

Mein Vater holt sein iPhone raus und scrollt auf WhatsApp etwas hoch. Er zeigt mir ein Video, auf dem mein Onkel beim Boxtraining zu sehen ist, viel fetter, als ich ihn in Erinnerung hab.

»Stolze hundertdreißig Kilo wiegt der. Siehst du, wie der Typ, der die Pratze hält, wegfliegt? Wenn der einem eine reinhaut, dann steht der nicht mehr auf.«
Ein bisschen Stolz schwingt in seiner Stimme mit.

»Warte mal, wer hat denn dieses Video gemacht? Ich dachte, Handys sind im Knast verboten.«

»Sind sie auch.«

Meinem Vater muss man aber auch alles aus der Nase ziehen.

»Und woher kommt dann das Video?«
»Wenn man als Verbrecher eine Autorität ist, dann hat man da so seine Vorteile in der Anstalt, wenn’s mal Stress gibt. Du kannst dir vorstellen, dass es in einer Anstalt mit ca. 1,5k Insassen ab und zu mal Ärger gibt. Wenn die Wärter:innen das alleine nicht schaffen, dann kommen sie zu ihm und bitten ihn um Hilfe. Und jetzt stell dir mal vor, die rasten alle gleichzeitig aus! Dann kommt da dein Onkel ins Spiel. Er kümmert sich dann um die Aufmüpfigen und dafür genießt er gewisse Vorteile. Die besten Zellen, bessere Behandlung, iPhones und iPads. Die sind zwar nicht erlaubt, aber da drücken die Wärter beide Augen zu.«

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Illustration © tarantrullart

»Nicht schlecht«, staune ich und trinke einen Schluck Tee. Dazu fällt mir dann auch nichts mehr ein. Wir gehen raus auf den Balkon, zünden uns eine Zigarette an und schauen der Sonne dabei zu, wie sie untergeht. Endlich ist es warm draußen.

Irgendwann stehe ich auf und mache mich fertig, denn es ist Zeit für mich nach Hause zu fahren.

Autorin: Mary

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