Stell dir vor, du hast Krebs. Die Diagnose hast du gerade erst bekommen. Es ist keine zehn Minuten her. Du trägst den ausgedruckten Zettel, der dir in der Klinik in die Hand gedrückt wurde, noch in deiner Tasche. An der Bushaltestelle hast du den Impuls, es zu erzählen. Stelle dir weiter vor, dass du das auch noch im nächsten Moment tun willst. Du rufst jemanden an. Du sagst: „Ich habe Krebs.“ Folgendes könnte passieren (eigene Erfahrung und aus Erzählungen):
- Du hörst: „Ach, das wird schon wieder.“ Gedankliches Schulterklopfen. „Das hatte die Freundin von der Arbeitskollegin meines Versicherungsmaklers auch.“ Du bekommst ungefragte Tipps für absurde Wundermittelchen. Vielleicht schaltest du auf Durchzug.
- Du hörst: „Das tut mir leid.“ Betretenes Schweigen. Dann: „Und wie geht’s dir sonst so?“ Du erzählst von der Schulaufführung deiner Tochter, von der anstehenden Beförderung im Job, von der Gasnachzahlung und dir ist zum Heulen.
- Du hörst, wie die Telefonverbindung plötzlich beendet ist. Die Person ruft nicht zurück. Sie antwortet nicht auf deine Sprachnachricht, die du ihr morgen schicken wirst. Und auch nicht auf die SMS in drei Wochen.
Es klopfet an …
Etwa 500.000 Menschen ergeht es jedes Jahr so oder ähnlich. Eine Krebsdiagnose reißt dich aus dem Leben, wie du es kanntest. Das gleiche gilt für das Umfeld: Angehörige, Zugehörige und Freund:innenkreis. Obwohl du vielleicht schon Oma, Opa oder andere Familienmitglieder verloren hast – jetzt stehst du plötzlich der eigenen Sterblichkeit gegenüber. Sie tippt dir auf die Stirn und sagt: „Hey, kleine Erinnerung, du lebst nicht ewig.“ Mir erging es gleich. Anfangs wollte ich es nicht wahrhaben, spielte die Diagnose (Hodenkrebs, 2015) herunter. Ich sprach nur mit dem engsten Umfeld darüber, vertuschte und tabuisierte, fühlte mich nach der Operation geheilt. Der Krebs kam zurück und der Tod griff mir ein zweites Mal in den Nacken (Knochenmetastase in der Schulter, 2017). Jetzt ist es definitiv, dachte ich. Du bist eben nicht unsterblich. Benimm dich nicht so. Lass das Versteckspiel. Sprich endlich darüber.
Die Menschen haben offensichtlich ein Problem mit Krebs. Nicht alle. Aber viele. Es wird nicht gern darüber geredet. Es kommen plötzlich Gefühle hoch. Negative. Huh. Das sind doch diese Dinger, die wir nicht so gern spüren. Nur wenn wir etwas genauer hinsehen, sind genau diese Gefühle wichtige kleine Helfende. Sie leiten dich dorthin, wo dein Leben schmerzt, damit du möglichst so reagierst, dass es nicht mehr (oder nicht mehr so stark) weh tut. Verdrängung ist eine Variante. Nachhaltiger ist Konfrontation und Integration. Klar, das geht nicht von heute auf morgen. Viele schaffen es nicht alleine und holen sich Hilfe. Psychologisch-sozialpädagogische Beratung, psychoonkologische Begleitung oder psychotherapeutische Betreuung. Das ist vollkommen normal. Du bist nicht allein.
Wozu überhaupt ein Tabu?
Das Wort „Tabu“ kommt ursprünglich aus dem Polynesischen. Seit jeher wurden damit magische, heilige, religiöse, unantastbare, und auch unreine sowie verbotene Dinge bezeichnet. Heutzutage treten Tabus als tief in der Gesellschaft verwurzelte Verbote in Erscheinung. Ungeschriebene Gesetze, höfliche Gepflogenheiten oder kulturelle Schweigethemen gesellen sich dazu. Schwere Krankheit, Sterben und Tod sind drei solcher Tabus – sie reißen die Gräben zwischen uns und in uns auf. Damit bin ich schon beim Krebs. In unserer Gesellschaft wird Krebs nämlich immer noch mit dem unausweichlichen und unmittelbaren Tod verbunden. Immer noch deshalb, weil es eigentlich nicht mehr nötig wäre.
Krebs bedingt heute nicht mehr unbedingt Sterben. Einige Krebsarten sind heilbar, die früher noch den Tod bedeuteten. Ist keine Heilung möglich, kann teilweise trotzdem noch lange damit gelebt werden. In der Gesellschaft ist das vielen nicht bewusst. Zu groß ist die Angst vor dem Tod, vor dem Sterben, vor dem Krebs. Deshalb wird tabuisiert – wie Krankheit überhaupt in die Ecke gestellt wird, weil sie nicht zur Leistungsgesellschaft passt. Bitte lasst uns das ändern. Krankheit ist alles andere als Schwäche. Du musst dich nicht dafür schämen, krank zu sein. Verminderte Leistungsfähigkeit ist keine Schwäche. Sterben ist kein Versagen. Sterblichkeit ist menschlich. Wir sterben jeden Tag ein kleines Bisschen. Und wir leben jeden neuen Tag weiter. Das ist Überleben.
Die vierte Möglichkeit
Zugegeben, die eingangs aufgelisteten drei Varianten des Gesprächsverlaufs sind nicht alle. Und dieses abrupte Abreißen der Verbindung ist gar nicht so selten. Es gibt sogar einen Fachbegriff dafür: Cancer Ghosting. Manche aus dem Umfeld reduzieren den Kontakt, andere melden sich gar nicht mehr. Betroffene fühlen sich verlassen, ausgegrenzt, im Stich gelassen. Das muss nicht sein. Klar, nicht zu wissen, was du deiner:m Freund:in antwortest, wenn sie:er „Ich habe Krebs“ sagt, erzeugt Scham. Da seid ihr aber zu zweit. „Ich habe Krebs“ zu sagen, ist für viele Betroffene eine ebenso riesige Überwindung.
Wie wäre es, ehrliche Betroffenheit zu zeigen? Das ist auch keine Schwäche. So könntest du reagieren: „Ich weiß jetzt gar nicht, was ich sagen soll. Darf ich dich umarmen?“ Oder fragen: „Darf ich dir beim Einkauf/bei organisatorischen Dingen/beim Aufpassen auf deine Kinder/(Liste kreativ ergänzbar) helfen?“ Solche Sätze bieten die Möglichkeit für eine vierte Option des Gesprächsausgangs. Die, eines offenen Begegnens auf Augenhöhe. Auch wenn du nicht selbst körperlich vom Krebs betroffen bist, durch das Mitteilen der Diagnose bist du co-betroffen, zumindest für den Moment. Du durchlebst ähnliche Gefühle wie die erkrankte Person.

Das verschwindende Tabu
Wahrscheinlich sind Sterben und Tod auch deshalb tabubehaftet in unserer Gesellschaft, weil es zu sehr schmerzt, uns eingestehen zu müssen, dass wir keine Worte zum Trösten des geliebten Menschen haben. Dabei kann es auch für uns selbst tröstlich sein, einmal nicht weiter zu wissen. Keinen guten Spruch auf Lager zu haben. Halten wir das aus. Lassen wir es zu.
Eine Zahl noch zum Abschluss. 1,6 Millionen Menschen lebten 2018 mit Krebs. Das sind zwei Prozent der Bevölkerung. In einem voll besetzten Stadtbus fahren quasi zwei an Krebs erkrankte Menschen mit. Krebs ist keine seltene Krankheit und kein fixes Todesurteil. Die Überlebensraten vieler Krebsarten sind in den vergangenen 20 Jahren stark gestiegen. Manche Krebsarten können dauerhaft geheilt werden. Wie Hodenkrebs. Bei mir ist die Therapie jetzt fünf Jahre her. Generell heißt es: Tritt innerhalb von fünf Jahren kein Rückfall auf, ist dieser – statistisch gesehen – wenig wahrscheinlich, selbst wenn vorher ein metastasiertes Stadium vorlag. Sind Krebserkrankungen nicht heilbar, können sie oftmals in chronische Erkrankungen umgewandelt werden. Das Tabu ist unbegründet. Reißen wir es ein. Reden wir über Krebs.
Autor: Alexander Greiner, Titelbild: Sabine Hauswirth
Anlaufstellen und Notrufnummern für Menschen mit Krebs: www.influcancer.com.
Weitere Texte zum Thema Krebs findest du auf Alexanders Homepage. Du kannst ihm auch auf Instagram folgen.

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One Comment on “Krebs – wieso reden wir nicht gern darüber?”