WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von Panikattacken.
Es ist Februar 2020. Kürzlich habe ich die letzte mündliche Bachelor-Prüfung meines kulturwissenschaftlichen Studiums hinter mich gebracht. Und so trete ich meine kleine Reise nach Berlin an, wie eigentlich jeden Monat. Aber diesmal ist es anders: Nach einem Jahr Fernbeziehung wird es endlich keine Abschiede mehr geben. Meinen jetzigen Ex-Freund lernte ich zu Beginn des Studiums in Koblenz kennen. Allerdings baute er seine Zelte in der überschaubaren rheinland-pfälzischen Stadt wieder ab, denn einmal Berliner, immer Berliner, so schien es mir. Wir fieberten beide auf das Ende meines Studiums hin: keine Abschiede mehr und vor allem nie mehr Fahrten mit der Deutschen Bahn. Es sollte eine rosige Zukunft vor uns liegen: Eine kleine Altbauwohnung mit knarrenden Dielen und hohen, mit Stuck besetzten Decken und vielleicht noch ein kleiner Balkon. In den vergangenen Jahren lernte ich jedoch, dass die Dinge selten nach Plan verlaufen.
Am Tag nach meiner Ankunft verließ mein Ex-Freund die Ein-Zimmer-Wohnung und verkündete mir, dass er nach der Arbeit noch mit seinen Jungs das Champions-League-Finale schauen wolle. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, machte sich plötzlich ein Gefühl der Leere in mir breit: War es die richtige Entscheidung, Hunderte Kilometer von meiner Heimat wegzuziehen? Er kommt erst in 11 Stunden nach Hause. Was soll ich machen? Diese Stadt ist so riesig. Wo soll ich hin? Ich kenne hier niemanden. Bekomme ich hier einen Studienplatz, der mir gefällt? Mein Herz kam mir bald zu den Ohren raus. Anfänglich schob ich den erhöhten Puls auf die vier Tassen Kaffee vom Vormittag. Ich begann zu schwitzen, mir wurde zugleich heiß und kalt. Selbst auf dem Sofa verspürte ich ein intensives Schwindelgefühl. Meine Atmung wurde flach und schnell. Ich saß diesen Zustand aus. Doch irgendwann rief ich den Rettungswagen, denn ich hatte das Gefühl, ich würde sterben. Heute, nach über zwei Jahren Therapie weiß ich, dass die körperlichen Symptome häufig durch Stressoren ausgelöst werden. Die Gedanken, die kurz vor der Panikattacke durch meinen Kopf rasten, bezüglich des Umzugs, meiner Zukunft und über mein neues Leben in dieser riesigen Stadt haben offenbar etwas in mir ausgelöst.
Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber dies sollte meine erste und lange nicht die letzte Panikattacke gewesen sein. Das ist heute zweieinhalb Jahre her. Das Leben mit der Angst begleitet mich seitdem, egal wo mich mein Weg hinführt. Mittlerweile äußert es sich so, dass ich nicht genug Luft bekomme, bis hin zu einem starken Schwindelgefühl. Manchmal, wenn sich diese Gefühle sehr intensiv und lange halten, fühlt es sich an, als sei ich in meinem eigenen Körper gefangen. Ein unausweichlicher Kontrollverlust über den eigenen Körper, der in den ungünstigsten Momenten eintritt: beim Anstehen an der Kasse im Supermarkt, bei Spaziergängen, bei Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, in Restaurants, im Kino. Eigentlich jede Situation, die sich außerhalb der eigenen vier Wände abspielt, bietet Potenzial für eine Panikattacke. Es sind oft die Menschenmassen, die äußerliche Reizüberflutung an Geräuschen und visuellen Eindrücken, soziale Situationen oder das Gefühl, eine Situation nicht mehr verlassen zu können, darin gefangen zu sein. Es war ein langer Weg dahin zu verstehen, dass keine ernst zu nehmende Erkrankung derlei Symptome bei mir verursacht. Eine besondere Beliebtheit verspreche ich mir bei meiner Krankenkasse sicherlich nicht mehr. Unzählige Male verbrachte ich Nächte in der Notaufnahme oder Nachmittage in den Wartezimmern diverser Arztpraxen, um mich noch einmal gründlich durchchecken zu lassen. Eine physische Ursache wurde nie festgestellt. Einerseits immer wieder beruhigend, andererseits machte es mich fertig, dass mein Körper stets derart extrem auf stressige Situationen reagierte.
Ich hatte damals in Berlin großes Glück, schnell bei einer Therapeutin untergekommen zu sein. An dieser Stelle soll kurz erwähnt werden, wie ich zu diesem Therapieplatz gekommen bin, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie ermüdend und frustrierend die Suche nach passenden Therapeut:innen sein kann: Zunächst einmal empfehle ich, die 116117 zu wählen. Über diese Patient:innenservice-Hotline können Anrufer:innen zu einem Erstgespräch an eine:n Therapeut:in in der Nähe vermittelt werden. Auf diesen Termin wartet man etwa ein bis zwei Wochen. Bei diesem Treffen wird dann geklärt, ob in der Praxis, die für das Erstgespräch aufgesucht wurde, noch frei Plätze verfügbar sind. Ich hatte eben das Glück, dass meine Therapeutin mich tatsächlich übernehmen konnte, insofern hatte ich keine Wartezeit. Bei vielen Patient:innen sieht das leider anders aus.
Ohne diese Hilfestellung wäre ich jedenfalls nicht an dem Punkt, an dem ich heute bin. Es ist die Konfrontation, der ich häufig aus dem Weg ging, die letztlich jedoch Heilung in einem gewissen Maß verspricht. An einer Panikattacke stirbt man nicht. Damit kann man Zugfahren, essen gehen, das Kino besuchen, in Supermärkten an der Kasse anstehen und alle anderen normalen Dinge erledigen. An einer Panikattacke stirbt man nicht. Aber es ist trotzdem unangenehm, auf einer vierstündigen Zugfahrt plötzlich keine Luft mehr zu bekommen oder beim ersten Date mit einem neuen Mann im Restaurant. Wenn das Gefühl der Atemnot sehr intensiv wird, schreie ich innerlich und würde am liebsten um mich schlagen. Jedes neue Geräusch, jeder Reiz von außen ist dann zu viel. Der Körper scheint dann mehr ein Gefängnis als ein Tempel zu sein. Dieses Gefühl der Atemnot kann ein Symptom von Panikattacken sein, muss aber nicht.
Panikattacken verlaufen individuell sehr unterschiedlich. Einige Patient:innen sind eher auf ihren rasenden Puls fokussiert und geraten dadurch in Panik. Die Symptome zeigen sich vielfältig. Herzrasen, Muskelzuckungen, Schweißausbrüche, Schwindel, Kurzatmigkeit sowie eine verschwommene Sicht sind nur einige davon. Auch die Methoden, wie man in den Momenten mit den Symptomen umgeht, unterscheiden sich von Patient:in zu Patient:in. Viele helfen sich zum Beispiel durch Atemübungen. Das funktioniert bei mir jedoch überhaupt nicht, im Gegenteil: Je mehr ich mich auf meine Atmung konzentriere, desto schlimmer wird es. So unbefriedigend das auch klingen mag: wie man damit umgeht, muss leider jede:r für sich individuell in Zusammenarbeit mit der/dem Therapeut:in herausfinden.
Allerdings ist es nicht nur der Körper, über den man dann und wann die Kontrolle verliert. Auch die Gedanken spielen manchmal verrückt. Ich hatte Momente, in denen ich Angst hatte, meinen Verstand zu verlieren, als ob ich jeden Moment durchdrehen würde. Manchmal steigerte ich mich in die abstrusesten Szenarien hinein, als ob mein Gehirn sich auf jedes nur denkbar eintreffende Ereignis zuvor gründlichst vorbereiten wolle. Diese Gedanken und Gefühle haben mir große Angst gemacht. Kontrollverlust ist der Zustand, vor dem ich sicherlich die größte Angst habe. Sowohl mein Körper als auch mein Verstand sollen gefälligst so funktionieren, wie ich das möchte. Aber genau da beginnt der Teufelskreis. Wir kennen das alle: Immer dann, wenn man tunlichst versucht, ein Ereignis um jeden Preis zu verhindern, steigt gleichzeitig das Potenzial für das Eintreffen eines solchen Ereignisses. Angenommen, man ist dafür zuständig, auf einer pompösen Hochzeit die teure, fünfstöckige Hochzeitstorte vom Eingang bis zum Buffet zu tragen. Während alle Augen auf einen gerichtet sind, hat man nur den einen Gedanken: Nicht fallen lassen! Unterdessen trägt man sich diesen Gedanken im Kopf wie ein Mantra vor, wieder und wieder. Genau dadurch wird man mit jedem Schritt unsicherer und schon landet der Traum in Weiß auf dem Tanzparkett. Das macht den Umgang mit Ängsten und Panikattacken so schwer, weil man immer hofft, dass sie nicht eintreten. Man wünscht sich so sehr, dass man ein unbeschwertes erstes Treffen mit dem Kerl hat, mit dem man seit einer Woche chattet. Man will endlich funktionieren, so wie die anderen einen haben wollen, ganz normal eben.
Ich habe sehr viel Zeit damit verschwendet, mich dafür zu schämen, dass ich an der Rewe-Kasse meistens beginne, zu hyperventilieren und die normalsten Dinge für mich eine Herausforderung sind. Die meisten Menschen in ihren Zwanzigern machen Karriere, gründen vielleicht sogar schon eine Familie inklusive Eigenheim und Labrador. Ich fahre eben Zug. Aber die Karriere mache ich trotzdem, auch wenn schon das Zugfahren eine Herausforderung für mich ist. Denn ich habe beschlossen, dass ich mir von meinen Ängsten nicht mehr diktieren lasse, wann und ob ich einkaufen gehe, ob ein Spaziergang gerade machbar wäre und was die Gäste von der Party vor drei Wochen darüber denken, dass ich nach einigen Bieren irgendeinen Stuss erzählt habe. Dieser Kontrollverlust ist im Grunde der Größte: die Tatsache, dass man sich selber einschränkt und eine unsichtbare Blase um sich herum errichtet, damit nichts potenziell Gefährliches nach innen dringt.
Christoph Corell, Leiter der psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche an der Charité Berlin, gibt im Tagesspiegel ein Interview zum Thema Angsterkrankungen und klärt darüber auf, dass Angsterkrankungen meistens relativ früh auftreten, also im Kindes- und Jugendalter beziehungsweise im frühen Erwachsenenalter. Etwa 50 Prozent der psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 14. Lebensjahr und 75 Prozent der psychischen Erkrankungen zeigen sich vor dem 24. Lebensjahr. Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sind allein in Europa circa 60 Millionen Menschen von einer Angststörung betroffen, in Deutschland etwa zwölf Millionen. Damit zählt die Angststörung noch vor der Depression zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland.
Das Leiden an einer Angststörung macht einen also keineswegs zu einem Sonderfall, der keinen Platz in der Gesellschaft hat. Für mich war das immer ein Problem. Ich hatte diese mentale Erkrankung und in gewissen Situationen äußert sich das merklich. Deshalb bin ich weniger normal als andere. Meine Ängste und meine Panikattacken verstand ich immer als Schwäche meiner Person. Mittlerweile hat sich meine Sichtweise jedoch gedreht. Daran ist zu erkennen, dass man mit derartigen Leiden nicht alleine ist. Auch in meinem persönlichen Umfeld fallen mir einige Personen ein, die mindestens schon einmal eine Panikattacke hatten oder denen bereits eine Angst- oder Panikstörung diagnostiziert wurde.
Außerdem bin ich durch meine Angststörung schon unzählige Male über mich hinausgewachsen, habe meine Grenzen überwunden und stetig neue Ziele erreicht. Die kleinen Kämpfe, die im Inneren von Betroffenen stattfinden, wenn sie an der Kasse anstehen, im Zug sitzen oder durch ein überfülltes Museum laufen, merkt man ihnen meist nicht an. Ich persönlich fühle mich mittlerweile stark, wenn ich solche Situationen meistere und mich ein weiteres Mal trotz innerer Widrigkeiten dazu überwunden habe, meinen Ängsten zu stellen.
Ich möchte auch nicht mehr, dass diese Erkrankung einfach aus meinem Leben verschwindet. Denn sie ist nicht nur ein Teil meiner Persönlichkeit, sondern kann in bestimmten Situationen auch inspirierend sein. Ich habe mich so schon das eine oder andere Mal überraschen können. Nach der Trennung von meinem jetzigen Ex-Freund dachte ich, wie die meisten anderen Menschen mit Liebeskummer, dass das Leben vorbei sei. Aber vor allen Dingen fragte ich mich, wie ich nun alleine mit dieser Angststörung leben sollte. Er war doch sonst immer da. Oder war er das überhaupt? Eine Woche, nachdem er mich verlassen hatte, war mir klar, dass ich mein sicheres Schneckenhaus verlassen musste, denn ich wollte in meine Heimat zu meiner Familie und meinen Freund:innen. Dafür musste ich mit den Öffentlichen in unsere ehemalige Wohnung und dann fünf Stunden Zug fahren. Allein der Besuch in der Wohnung war rein emotional furchtbar auslaugend. Dennoch habe ich all das an nur einem Tag bewältigt ohne unerwünschte Atemaussetzer und Panikanfälle. Was sagt das über mich aus?
Dass ich alles schaffen kann, was ich mir vornehme und dass ich deutlich stärker bin, als ich es noch wenige Stunden zuvor von mir erwartet hatte. Das Leben mit der Angst ist keine Leichtigkeit. Manchmal zehrt es sämtliche Energiereserven aus mir heraus und ich fühle mich in mir selbst gefangen. Aber die meiste Zeit habe ich gelernt, wie mutig und stark ich doch sein kann!
Meine Message an betroffene Personen ist deshalb: Heilung ist kein linearer Prozess. Es wird immer wieder Situationen geben, in denen man intensiver oder anders reagiert als andere Menschen um einen herum. Aber man kann lernen, mit diesen Attacken und Ängsten zu leben. An dieser Stelle soll jedoch noch mal gesagt sein, dass es kein Zeichen von Schwäche ist, sich professionelle Hilfe zu suchen. Dafür sind Therapeut:innen da und eure mentale Gesundheit ist mindestens genauso wichtig wie eure physische Gesundheit.
Mein Ex-Freund und ich sind aus gutem Grund mittlerweile kein Paar mehr, um den Bogen wieder zum Anfang zurückzuschlagen. Ich denke, wir waren, wie man heute so schön inflationär sagt, toxisch füreinander. Er kam mit meiner Angststörung nicht zurecht. Er hatte einen obsessiven Hang zu Normalität und Leichtigkeit. Doch weder ich noch das Leben selbst konnten ihm diese Bedürfnisse dauerhaft erfüllen. Ich hatte irgendwann den Druck, in seiner Gegenwart immer funktionieren zu müssen und so „normal“ wie nur möglich zu sein. Das wiederum führte dazu, dass ich oft schlecht gelaunt und frustriert war. Die Folgen waren endlose Streitereien über nichts und wieder nichts, denn der Zeitpunkt, an dem wir nicht mehr zueinander gehörten, war schon längst überschritten. Wir haben es so lange ausgedehnt, wie es nur ging. Schließlich hat er sich getrennt. Und heute bin ich ihm dankbar dafür, denn jetzt werde ich glücklich mit mir und für mich selbst.
Autorin: Anna-Lena Hauch, Illustration: Teresa Vollmuth
Anmerkung der Redaktion: Dies ist ein Erfahrungsbericht und gilt mitnichten für alle Menschen mit Angststörung. Es geht hier um eine persönliche Perspektive, nicht um Pauschalisierung.

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Autor:innen
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An Panikattacken und Angststörungen litt ich ebenfalls, so ähnlich wie dort beschrieben. Doch ich fand einen Weg, der mich zu 100% geheilt hat, denn ich habe keine Angst mehr und keine Panik. Ich finde es immer wieder schade, zu hören dass man „lernt damit zu leben“ was allerdings in meinen Augen kein Leben ist! Alles hat eine Ursache, diese muss man herausfinden, egal wie. Ich tat es durch Meditative Anwendungen, und bin mehr als bereit für die Zukunft! Das wünsche ich einfach jedem….