In meinem Umfeld sind viele Menschen tätowiert. So viele, dass ich mir manchmal denke, dass ich für sie als Untätowierter nicht dazu gehöre. Als Tourfotograf darf ich manchmal durch den ein oder anderen Backstage stolpern. Oder ich stehe auf der Bühne und hundert Vollgehackte schauen hoch und bestaunen meine bleichen Waden. Ein Blick in die Runde genügt: Hier sind alle tätowiert. Von den Zehen bis zum Scheitel und von der Poritze bis zum Philtrum springen mich Slogans, Bandnamen, Anime-Charaktere und Einkaufslisten an. Ein paar Wochen vorher hatte man mir beim Einlass zu einer Metal-Show geraten, an einem anderen Tag wiederzukommen. Heute würde schließlich Metal gespielt und ich wäre ja eher der Hip-Hopper. Über die Inklusivität oder Exklusivität der Szene möchte ich an dieser Stelle nicht sprechen.
Ich wollte mit einem Tätowierer sprechen. Der sollte mir meine Skrupel nehmen, mich tätowieren zu lassen. Mit mir über Schönheitsideale sprechen und von interessanten Geschichten seiner Kund:innen berichten. Aus Recherchegründen bin ich ihm bei Instagram gefolgt. Durch die Kommentare unter seinen Posts war ich sicher, dass ich ein interessantes Gespräch mit ihm führen würde.
Wie veränderst du das Selbstbild deiner Klient:innen? Wie fühlst du dich dabei, das Schönheitsideal anderer mit zu formen? Die meisten Tattoos bleiben für immer: Spürst du eine Verantwortung gegenüber der Körperlichkeit anderer? Innerlich hoffte ich auch, dass er mir anbieten würde, mich umsonst zu stechen, wenn das Interview cool wird. Ich habe einige Menschen in meinem Freundeskreis, die gut und gratis tätowieren. Aber ich möchte ungern die Skizzenunterlage für Amateure bieten. Bitte nicht beleidigt sein, immerhin lieben die Amateure das, was sie tun (lat.: amare – lieben). Das Interview fiel kurzfristig aus.
Zurück zur Inklusivität bzw. Exklusivität: Die Spitze des äußerlichen Nicht-Dazugehörens erlebte ich auf einem Acker in Schleswig-Holstein. Die Bands hatten alte Straßenbahnwaggons zugeteilt bekommen. Diese bildeten auf dem zugigen Stoppelfeld eine Art Wagenburg. Zu später Stunde suchte ich meine Leute. Ich hatte ein wenig Schlagseite und stand vor einem der rot lackierten Waggons. Von außen hörte man Gebrüll aus dem Wagen. Das Lachen und Klirren von Gläsern. Dies hielt ich für einladend, drückte die Klinke und schloss die Tür hinter mir. Es war totenstill. Vor mir saßen vier englische Musiker. Sie waren der Headliner des Abends. Ihre englische Streetriot-Vergangenheit bekannt.
Narben und Tattoos schmückten ihre Gesichter, die so aussahen, als hätten sie im Regen viel aufs Maul bekommen. Alle vier trugen Glatze, Polo-Hemd, Jeans und Springerstiefel. Der eine hatte die Nase in einem Berg Koks. Als er mich bemerkte, hob er langsam den Kopf in meine Richtung. Aus seiner Nase schneite es. Der, der mir am nächsten saß, musterte mich von oben bis unten: Blaues Hemd, Sporthose, Sneaker und ein unsicheres Lächeln klebten an mir. Damit war ich die optische Antithese zum Dresscode und damit zum erwarteten Lebensgefühl der anderen geworden. Ihre Spinnennetz-Glatzen, die Tränen unter den Augen, Messer auf dem Hals und FUCK OFF auf den Augenlidern sollten suggerieren, dass ich mich mit ihnen besser nicht anlege. Ich glaubte ihren Tattoos.
Einer der Skins presste hörbar Luft durch die Lippen: Pfff! Sie hatten gemerkt, dass ich keine Bedrohung für sie war und machten mit ihrem Zeug – saufen, koksen, lachen – weiter. Ich stellte mich unauffällig in die hintere Ecke des Waggons und tat so, als würde ich etwas auf meinem Handy nachlesen. Eigentlich wollte ich nur Zeit schinden. Auf keinen Fall sollten sie denken, ich fühle mich unwohl und würde deswegen direkt wieder gehen. Nach ein paar Minuten wurden die Männer wieder still. Mir viel auf, dass es zwar schlau war, nicht direkt wieder abzuhauen, andererseits erwarteten sie von mir nun eine Erklärung, was ich in ihrem Backstage zu suchen hatte. Einer knurrte mich an, freundlich, aber fordernd. Ich tat überrascht: Mist, da bin ich wohl in den falschen Waggon gestiegen. Haha, sorry, have fun und so. Keiner lachte – und ich ging. Wahrscheinlich waren die vier Männer total lieb und offen, schließlich machen sie linke Arbeiter:innenmusik und fahren durch die ganze Welt. Allerdings sehen sie dabei aus, als würden sie ab und zu – und wirklich nur aus Versehen – einen Pressefotografen verspeisen. Oder zumindest kidnappen und zutätowieren.
In dieser Szene falle ich durch das Fehlen von Tattoos äußerlich auf. Das ist mir nun bewusster als vorher. Allerdings entwickelte sich auch eine Haltung, die wahrscheinlich vielen Tätowierten zu eigen ist: mach doch, was du möchtest! Dein Äußerliches passt nur für die anderen nicht zu dir. Natürlich käme ich mir komisch vor, ließe ich mir Knasttattoos stechen. Andererseits: Warum nicht? Und genauso sehe ich meine vorläufige Entscheidung mit Tattoos noch abzuwarten. Wer aus welchem Grund wie aussieht, wird immer egaler. In meiner Kindheit nannten die Menschen um mich herum Leute mit Tattoos asozial. Heute fließen sie mit dem Trend wie alles andere Oberflächliche auch. Das beruhigt.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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