Glückwunsch zur Impfung!, heißt es von allen Seiten, nachdem ich nach langem Warten die erste Dosis bekommen habe. Und irgendwie spür ich sie tatsächlich. Also nicht die Impfe. Eher sowas wie die Schönheit der Chance, wie Tomte es so schön nannte.

So langsam verstehe ich den Optimismus der Menschen, die ich in Biergärten, Cafés und Restaurants sitzen sehe. Ist es die Freiheit, die anklopft nach diesem unendlich langen Jahr der Isolation und Monotonie?

Moment. Irgendwas stimmt nicht. Zumindest laut diesem kleinen, zaghaften Etwas in meinem Kopf, das sich irgendwie gegen den Gedanken sträubt.

Ist es wirklich bald vorbei?

Vorab: Versteht mich nicht falsch. Der Gedanke, noch viele Monate diese Maske zu tragen, penibel Abstand halten zu müssen und ständig die Anzahl der Anwesenden zu zählen, ist schwer erträglich. Auch habe ich bereits jetzt mein gefühltes Jahrespensum an Zoom-Meetings erreicht. Ich werde meinen Uni-Abschluss online machen. Die Frustration im mittlerweile dritten Zoom-Semester ist definitiv an ihrem Peak angekommen. Und dennoch komme ich mir vor, wie dieses eine Kind, das nicht draußen spielen will.

»Für dich muss das doch besonders schlimm sein«, sagte eine Freundin während des Lockdowns im Frühjahr 2020 zu mir. Und tatsächlich könnte man das meinen. Ich war selbst überrascht, dass es nicht so war. Schließlich war ich permanent on the go gewesen.

Uni, Arbeit, Bier dort, WG-Party da, dort legt heut jemand Gutes auf und auf welche Festivals wollen wir dieses Jahr eigentlich?

Ich war der Inbegriff von immer auf Achse. Frisch verliebt und ungläubig taumelte ich durch den ersten Lockdown und genoss die anfänglich wundersamen Tage des Nichtstuns. Wir haben gekifft, gemalt und wie man so schön sagt in den Tag gelebt. Nachdem diese anfängliche Euphorie über die plötzlich dagewesene Freizeit abgeklungen und die Lockdown amour fou vorübergegangen war, hatte ich meinen Nebenjob verloren. Natürlich hatte ich nichts auf der hohen Kante und jeglichen normalen Tagesrhythmus verloren.

Die Realität grüßt.

Heute fühlt sich diese Zeit an wie eine Inventur. Ich hatte kein Geld und musste, zugegebenermaßen geschockt, mein Konsumverhalten reflektieren. Auf einmal war ich knallhart damit konfrontiert, weshalb ich soviel Geld, Aufwand und Zeit in mein Äußeres steckte, anstatt Zeit in meine Hobbies oder Freunde und Familie zu investieren.

Für wen tat ich das eigentlich?

Schließlich habe ich aufgehört, Kleidung zu kaufen und mich morgens zu schminken. Ich habe Projekte begonnen, die mir am Herzen lagen. Habe Zeit mit meinen Mitbewohner:innen verbracht, die sich bald wie Familie anfühlten.

Es war schon viel geredet worden über die Pandemie und das, was uns genommen wurde: Raves, die nicht geraved wurden, Bekanntschaften, die man nicht machen konnte, Dates, die nie stattfanden. Wir hatten keinen Gesprächsstoff mehr, der nicht schon ausgesprochen wurde. Bekanntschaften, mit denen man sich nur in größeren Gruppen getroffen hatte, verschwanden plötzlich vom Radar.

Kurz gesagt: Vorher schon Überflüssiges wurde noch irrelevanter. Zeitgleich mit dem Verschwinden der Events und der vielen Menschen kamen andere Dinge an die Oberfläche, wie in einem See, in dem das Wasser plötzlich klar wird.

Und plötzlich geschah es: Trotz vieler Entbehrungen fand ich plötzlich Gefallen an dem neuen Komfort des Reduzierten, bestehend aus einem routinierten Mix aus Yoga, Club Mate und einem Schuss Resilienz. Endlich hatte ich Zeit für mich.

Noch kürzer gesagt: Ich habe mir die größtmögliche comfort zone eingerichtet, die mich diese Pandemie unbeschadet überstehen lässt. Gerade hab ich mich daran gewöhnt, wie bereichernd das Leben abseits von Parties, Drogen, flüchtigen Bekanntschaften und überteuerten Drinks sein kann.

Und jetzt soll ich wieder zurück? Höre ich da die Spießerin in mir?

Ich wehre mich gegen diese Gedanken. Und doch kann ich den Panzer noch nicht wieder aufzubrechen. Ich bin noch nicht bereit, wieder in die bunte Welt der Möglichkeiten entlassen zu werden. Zurückzugehen an den Punkt, wo man war.

Will man das überhaupt? Ja, kann man das überhaupt?

Ich fühle mich plötzlich fünf Jahre älter. Mir wird klar, dass ich jung sein erst wieder lernen muss. Genauso wie Freiheit. Ich brauche noch kurz. Noch einen Moment des Innehaltens, bevor es wieder weitergeht. Fast als müsste ich noch einmal festhalten, wer ich geworden bin, bevor die nahende Normalität mich wieder verschlingt. Mich in Baby-Steps wieder daran gewöhne, in gefüllten Räumen zu stehen, ohne anzufangen zu zählen. Freunde und Verwandte nach einem Jahr wiedersehe. Ein Wochenendtrip nach Italien mache. Die Semesterferien plane. Und bei all der Hektik kurz überlege, wie genau ich mir die neue Normalität wünsche. Mit der Erkenntnis, dass der Hamsterrad-Alltag aus Arbeit, Konsum und Urlaub nicht das ist, was ich nach diesem Jahr brauche.

Ich freue mich auf den Zeitpunkt, wenn dieses kleine Etwas in meinem Kopf still wird. Bis dahin sollten wir jedem und jeder erlauben, das eigene Tempo zu finden – zurück in die bunte Welt der Möglichkeiten.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Autorin: Laura I.

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