Das Läuten der Türklingel riss mich aus meinen Gedanken. Ich nahm einen tiefen Atemzug und drückte mit leicht verschwitzten Händen die Klinke nach unten. “Suuusi”, rief ich schrill. Da stand sie also. Meine Chefin. Sie war die Gründerin des Unternehmens, für welches ich seit einigen Monaten beschäftigt war. Das erste Mal mit Haut und Haar stand sie vor mir. Kleiner und zierlicher, als ich sie mir über den Zoom-Bildschirm vorgestellt hatte. Mit einem Grinsen im Gesicht fielen wir uns beide in die Arme. Befremdlich war es nicht. Im Gegenteil, es fühlte sich eher so an, als würde man eine Freundin nach sehr langer Zeit wieder in die Arme nehmen. Der Höflichkeits-Tanz wurde vollzogen. Sekt wurde überreicht. Distanz abgebaut. In meiner kleinen Küche saßen wir nun. Ich musterte sie, während sie sich eine Zigarette drehte. Ich wollte mich gerade nach dem Tabak bücken, der währenddessen auf den Boden gefallen war, als sie sich beiläufig nach Drogen erkundete. “Ich hätte richtig Bock auf LSD. Gott, ich war die letzten Monate eingesperrt im Haus meiner Großmutter. Ich muss mich mal wieder spüren. Kennst du hier irgendjemanden, der uns was verticken könnte?” Distanz gab es nun also keine mehr. “Um Acid zu kaufen, kenne ich leider niemanden. Aber was hältst du von Ketamin?”
Gier und Lust nach Abenteuer trieben uns wenige Minuten später auf die mittlerweile dunkel gewordenen Straßen von Berlin. In der Luft lag ein Versprechen: Rausch, benebelte Sinne und jede Menge Endorphine. Berlin ist eine mysteriöse Stadt, aber auch eine praktische. Nachts gibt es auf den Straßen alles zu finden, was man zum Leben braucht. Und das, was man für Geld nicht bekommt, denkt man sich eben dazu. Es war Freitagabend, doch die U-Bahn war fast leer. “Wie heißt der Typ?” erkundigte sich Susi. “Kann ich dir nicht sagen. Ich habe es nicht so mit Namen.” Unverständnis breitete sich in ihrem Gesicht aus. “Eingespeichert habe ich ihn unter: Peter Tinder.” Sie lachte und die Falten zwischen ihrer Stirn verschwanden. “Die Polizei hat vermutlich Besseres zu tun, als Kleinkriminellen wie mir hinterherzujagen. Aber du kennst das ja, wenn man wegen so etwas paranoid ist. Deswegen habe ich für den Fall, dass ich aufgehalten und mein Handy konfisziert wird, PeterTinder als Decknamen gewählt.” In meinem Kopf klang das völlig plausibel. Ausgesprochen fing ich nun doch an, an meinem Geisteszustand zu zweifeln. Endstation. “Hier müssen wir raus.”
Die Kälte war schneidend. Unangenehm. Der Wind fegte über den harten Asphalt. Ich zog meinen langen schwarzen Mantel enger und stapfte mit meiner Chefin Richtung Peter. Während wir die Stufen zu dem Appartementkomplex hinaufstiegen, erinnerte ich mich an eines unserer letzten Treffen. Ich war alleine gekommen und konnte die richtige Tür nicht finden. Viermal war ich das ganze Gebäude rauf und runter gelaufen. Auftritt ich: Die verdächtigste Drogenkäuferin in ganz Berlin. Im vierten Stock am Ende des Korridors sah ich wie sich eine Türe öffnete. “Gott, endlich. Was für eine Scheiße”, dachte ich, als aus der Tür ein Handy mit geschätzten 100 km/h geschossen kam. In hohem Bogen suchte es sich seinen Weg vom vierten Stock auf den Beton. Nicht ganz sicher, ob mich mein Verstand nun endgültig im Stich ließ, lehnte ich mich übers Geländer. Da lag es. Ich blickte zum Eingang aus dem die Gerätschaft geflogen kam und da stand er: Peter. Mit Händen am Kopf und weit aufgerissenen Augen rief er: “Was ist passiert? Gerade hab ich mit meiner Mama telefoniert. Auf einmal ist es mir einfach aus den Händen gefallen.” Ah ja … Mein Handy fliegt mir auch immer so aus der Hand.
Jetzt stand ich wieder vor seiner Tür. Diesmal mit meiner Vorgesetzten – um Ketamin zu kaufen. Absurder ging es wohl kaum. Dachte ich zumindest. Peter öffnete und begrüßte uns mit seinem spanischen Akzent herzlich. Dabei muss ich immer an eine spanische Telenovela denken – wie in Jane the Virgin. Er schob uns durch den kleinen Gang in seine Einzimmerwohnung. Der Raum war aufgeteilt in Schlafecke, Wohn- und Essbereich. Ich mag Peter. Er war immer richtig nett zu mir. Hat mir zum Geburtstag sogar ein Extacy geschenkt. Auf der langen Seite der Couch machte ich es mir gemütlich, während Susi sich in den großen Ohrensessel links von mir pflanzte. Peter saß rechts. Alle, die schon mal Drogen gekauft haben, wissen, was nun kam: Small Talk. Was gerade passiert im Leben des jeweils anderen. Ein wenig so wie das Händeschütteln vor einem Meeting. Nur um den Moment abzuwarten, in dem die Stille zwischen beiden Parteien zu groß wird und man sich dem eigentlichen Geschäft zuwendet. Was und wie viel. Man trifft sich, nimmt eine zusammen, und dann verschwindet jeder wieder mit seinem Leben in seinen Teil der Stadt.
Der Raum lag in einem gedämpften Licht. Als ich mich so umsah, stand ich definitiv auf der Gewinnerseite des Lebens. Wie einfach es doch ist, Drogen zu kaufen. Sich zu berauschen. Ich beobachtete Peter, während er zum schwarzen Regal am Ende des Raumes ging. Der Heilige Gral. Aus einem der vielen Fächer zauberte er eine Tupperware Box. Ich sah das Funkeln in seinen Augen: “Na, wollt ihr eine Nase?” Der Lebensstil der Gesetzlosen. Ich verzog meine Lippen zu einem wölfischen Grinsen: “Ich würde eine nehmen!” Herausfordernd blickte ich zu Susi. Die war mittlerweile auch zum Gral gewandert und guckte Peter über die Schulter. Sie wies ihn an, ihre Line noch größer zu machen. “Ich halte das schon aus. Noch ein bisschen mehr vielleicht.” Ob sie sich da so sicher war? Mich um jemandem zu kümmern, der sich selbst ins „K-Hole“ befördert, stand definitiv nicht auf meiner To-do-Liste. „Pferde Betäubungsmittel.“ So wurde es mir beim ersten Mal beschrieben. Was mir damals jedoch keiner sagte: Bei einer zu hohen Dosis kann das Gefühl von Entspannung schnell in Bewusstlosigkeit enden. Den eigenen Körper zu verlassen und mich selbst auf einen anderen Planeten zu befördern, war absolut nicht mein Ding. Aber wie heißt es so schön: Die Dosis macht das Gift. Erst war sie am Zug und dann ich. Durch abgeschnittene Strohhalme zogen wir uns das weiße Gold durch die ohnehin schon ruinierten Nasen.
Dann plötzlich passierten drei Dinge auf einmal. Susi lag am Boden und machte einen Schneeengel oder wohl eher einen Lurch-Engel, und just in dem Augenblick, in dem das Ketamin anfing, mir meine Sinne zu rauben, hörte ich einen Knall. Stille. Nervöse Blicke. Dann noch mal Wusch, Wusch und noch einmal. What the fuck. Es gibt Besseres als Freitagabend mit einem Kopf voller Ketamin und der Chefin am Boden von Paranoia ergriffen zu werden.
Zigarettenrauch, der Geschmack von Drogen, Schweiß – ich atmete tief durch. “Verdammt, was war das denn, Peter?” “Aii, der Mann von unten macht immer das, wenn ich bin zu laut.” “Aber wir sind doch gar nicht so laut?” Rief Susi, die noch immer am Boden lag, empört. Ich war perplex. Man hörte dumpfes Gebrüll. Peter öffnete das Fenster und beugte sich darüber. Das Gebrüll wurde lauter, doch verstehen konnte ich es nicht. “Was hat er gesagt?” Fragte ich Peter, während er das Fenster wieder schloss und sich an den gedeckten Tisch setze, “Ai, er rufe die Polizei, wenn wir nicht leise sind. Ist eine alte Mann. Alkoholiker. Immer dasselbe mit ihm.”
Polizei. Ich sah mich schon auf der Wache sitze und alle meine Sünden beichten. Wie erkläre ich das nur meinen Eltern? Was kostet es wohl, auf Kaution rauszukommen? Verdammt, wegen dem Scheiß verlier ich bestimmt meinen Job. All diese Gedanken rasten durch meinen Kopf. Raus hier. Ja, wir müssen so schnell wie möglich hier weg. Ich sah zu Susi und Peter. Panik war in keinem der beiden zu sehen. Im Gegenteil. Peter war so gechillt wie eine spanische Variante von Bob Marley und Susi versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er sich eine neue Wohnung suchen sollte. “Was für ein Assi. Du musst hier weg! Sind das hier Sozialwohnungen?” “Si. Ist nicht so einfach etwas anderes zu finden.” Peter erzählte, dass das Angebot an Wohnungen für finanziell Schwächere nicht gerade groß ist. Oft seien die Bauten eher am Stadtrand und man wird somit auch vom Leben etwas ausgeschlossen. Hinzu komme, dass sich um die Gebäude kaum jemand kümmert. Renovierungen sind oft überfällig und durch den Sozialbau wird die soziale Schieflage verstärkt.
Ich steckte mir eine Zigarette an. Nikotin half beim Denken. Oder warum raucht man sonst? Schlechte Gewohnheit. Bestand das ganze Leben nur aus schlechten Gewohnheiten? Angst, Freiheit, Lust, für Geld ficken, für Geld arbeiten – von Gehalt zu Gehalt? Ich starrte meine Vorgesetzte an. Blick zur Tupperware Box und dem Paket weißem Gold. Kopfschütteln. “Zieh dich an, Susi. Wir müssen jetzt gehen.”
“Es tut mir richtig leid”, hörte ich mich zu Peter sagen. Was mit leid tat, weiß ich selbst nicht. “Ai, nächstes Mal bleibt ihr länger!” Ich drängte Susi, die noch immer über die miese Wohnsituation meckerte, Richtung Tür. Mann, als wäre das unser einziges Problem. Ich riss die Tür auf und krachte fast in die zwei nächsten Kunden. Das kann doch wohl nicht wahr sein? Wenn die Trottel wüssten. Viel Spaß noch mit den Cops. Ich setze ein falsches Lächeln auf und rief Peter ein schrilles „Ciao“ zu. Das war vor drei Monaten. Seitdem habe ich nichts mehr von Peter gehört.
Illustration: Julian Kerner
*Du brauchst Hilfe? Der Drogennotdienst ist eine überregionale Suchtberatungsstelle für drogenkonsumierende Jugendliche und Erwachsene sowie Angehörige und Multiplikatoren, hat an 365 Tagen im Jahr geöffnet und ist 24h unter der Drogenhotline 030/19237 zu erreichen. Die Beratung erfolgt mit und ohne Termin, auch in Krisensituationen.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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*Quellen: stadtentwicklung.berlin.de, tagesspiegel.de, drugcom.de