Sommerrollen und Vietnamkrieg. Bis vor Kurzem war das noch das Einzige, was mir zum Thema Vietnam eingefallen ist. Bis ich auf Hien Mai traf. Vier Jahre drehte sie zusammen mit ihrem Freund Tim Ellrich einen Film über ihre Eltern und die vietnamesische Diaspora. Weil Trung Tam Mai und Thi Bay Nguyen in ihrer Heimat Vietnam kein Paar sein konnten, wanderten sie vor 30 Jahren nach Deutschland aus. Nun stehen sie zwischen den Stühlen: Zurück in die Heimat oder nicht? So wie Hiens Eltern habe auch ich oft das Gefühl, als hätte ich einen Fuß an zwei Orten. Auch, dass ich nie wirklich glücklich sein kann. Denn ab dem Moment des Gehens teile ich mich in zwei und wo immer ich bin – eine Hälfte von mir sehnt sich immer nach der anderen. Hien, die neben ihrer Arbeit im Filmmuseum auch noch die Welt als Flugbegleiterin entdeckt, berührte mich mit ihrem herzergreifenden Dokumentarfilm. Gleichzeitig erinnerte mich die gebürtige Münchnerin an etwas, das ich oft vergesse. Meine Füße werden vielleicht nie zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein und zuhause muss kein bestimmter Ort sein. Viel mehr befindet es sich in den Menschen, die wir lieben.
DIEVERPEILTE: Du hast eine Dokumentation mit deinen Eltern in der Hauptrolle gedreht. Was war der Grund dafür?
Hien Mai: Das Thema, dass ich Eltern habe, die geflüchtet sind bzw. eine andere Herkunft haben, hat mich mein Leben lang schon beschäftigt. Auch in meiner künstlerischen Arbeit oder während dem Studium gab es nie einen richtigen Austausch oder eine Möglichkeit, auszudrücken, dass du zwischen zwei Welten aufwächst. Du machst es einfach. Es gab zwar auch vietnamesische Freundinnen, mit denen ich ähnliche Erfahrungen teilen konnte, aber eine richtige Möglichkeit, sich damit identifizieren zu können, gab es nicht. Nicht im Film und nicht in der Kunst. Es gab kein Bild dazu und deswegen wollte ich die Erfahrung teilen und sagen: „Hey, vielleicht geht’s euch auch so.“
Total cool, da bekomm ich Gänsehaut. Warum sind deine Eltern vor 30 Jahren aus Vietnam geflüchtet?
In vielen Familien gibt es auch heute noch sehr altmodische Familienstrukturen. In Vietnam ist es z. B. so, dass die Tochter, die verheiratet wird, in die Familie des Mannes übergeht. Deswegen bevorzugen die Familien es, Söhne zu bekommen, weil diese in der Nähe der Familie bleiben. Arme Bäuerinnen wie meine Mama sind dort nicht willkommen, denn der Fischer-Familie meines Vaters war ihr Status zu niedrig. Sie konnten also nicht zusammen sein. Mein Papa musste damals auch noch Militärdienst leisten, obwohl er das Einparteiensystem nicht unterstützte. Es gab also genug Gründe, weshalb die beiden nicht bleiben wollten. Der Hauptgrund war jedoch, dass sie in ihrer Heimat kein Paar sein konnten. 1989 sind sie dann geflüchtet und in München gelandet. Da leben sie auch heute noch.
“Keiner kann sagen, dass er niemanden vermisst oder liebt”, singt dein Papa am Ende der Dokumentation und ich muss gestehen, dass ich mir da eine Träne nicht mehr zurückhalten konnte. Ist dein Vater so einfühlsam, wie man ihn sich nach deinem Film vorstellt?
Ja, absolut! Also mein Papa ist ein Grübler, ein sensibler Mann, aber auch jemand, der ziemlich ausflippen kann – er ist sehr einfühlsam, hat aber Schwierigkeiten damit, seine Gefühle auszudrücken. Karaoke singen ist eine Art Sprachform für ihn. Und bei genau dieser Zeile, die du so schön findest, hat er gefreestylt. Das heißt, er hat den Originaltext ein bisschen umgewandelt. Das macht er gerne.
Karaoke. Ist das eigentlich ein typisch asiatisches Klischee?
Oh ja! In Vietnam gibt es richtige Boxen dafür in der Größe eines Kleinwagens. Meistens findet das jedoch vor Ort statt, wo man sich trifft und zusammen singt. Das Online-Karaoke ist eine Alternative. Mein Papa ist da keine Ausnahme, viele Männer singen bei uns und werfen teilweise richtige Balladen hin, während sie ein Bier trinken. Karaoke singen hilft ihnen dabei, ihre Gefühle auszudrücken.

Gibt es deutsche Verhaltensmuster, mit denen deine Eltern nicht zurechtkommen?
Meine Eltern singen sehr laut, weshalb sich ihre Nachbarn regelmäßig beschweren. Das nervt sie schon ein bisschen.
Darf ich fragen, wie das damals war, als sie geflüchtet sind? Du meintest, dass sie mit einem Boot über Malaysien gefahren sind. Wie kann ich mir das vorstellen?
Mein Vater musste ja seinen Wehrdienst bei der Küstenwache leisten. Dadurch kannte er sich sehr gut mit Küste und Meer aus. Anfang der 80er-Jahre, als er meine Mutter noch nicht kannte, versuchte er schon über den Ozean zu flüchten. Später riskierte er es bei Nacht und Nebel erneut mit Mama. 30 Leute auf einem kleinen, hölzernen Fischerschiff. Auf gut Glück fuhren sie damit mitten aufs Meer. Sie wussten, dass es draußen große Schiffe gab, die Flüchtlingsboote auffangen mussten. Vier Tage verbrachten sie auf offener See, bis sie von einem deutschen Kapitän entdeckt wurden.
Sehr gerührt war ich auch von der Art und Weise, wie sich deine Eltern als Team durch all diese Herausforderungen kämpfen. Der Film erinnerte mich ein bisschen an eine Liebesgeschichte. Dein Papa sagt darin: “Keiner kann Thi Bay Nguyen (Mama) ersetzen”. Sind deine Eltern auch beziehungstechnisch ein Vorbild für dich?
Schön, dass dir das aufgefallen ist. Es war nicht beabsichtigt, aber eigentlich ist es eine Lovestory. Für mich ist es bewundernswert, wenn man für die Liebe so viele Hindernisse und auch Risiken eingeht. Liebe als etwas zu verstehen, dass man trotz Problemen auch zusammenbleibt und versucht, diese gemeinsam zu bewältigen. Das ist mutig und erstrebenswert. Heutzutage ist es ja oft so, dass man Beziehungen beendet, weil man lieber den bequemeren Weg gehen möchte.
Bei deinen Eltern ist das aber nicht so.
Nein. Besonders inspirierend finde ich es, wie sie auf Augenhöhe miteinander umgehen. Sie kochen und putzen gemeinsam, zusätzlich haben sie drei Kinder großgezogen. In einem Land, das auch von patriarchalischen Strukturen durchzogen ist, finde ich es cool, dass sie beide gleichberechtigt sind.
Gab es Szenen, die für euch besonders herausforderten?
Absolut (lacht). Ich spreche mit meinen Eltern nicht über meine Gefühle. Für mich fühlt sich das so an, als würde ich ihnen eine Bürde aufdrücken. Es war also sehr schwierig für mich, als wir während einer Beerdigung filmten. Ich war unschlüssig, ob ich die Kamera ausmachen sollte oder nicht. Kann man Trauer so aufnehmen? Dadurch lernt man seine Eltern von einer sehr verletzlichen und verwundbaren Seite kennen. Gerade meine Mama, die sonst so lebensfroh und unbefangen ist. Aber auch diese Momente haben ihren Platz verdient.
Alle Szenen wirken sehr authentisch. Hast du das Konzept mit deiner Familie abgesprochen?
Man stellt sich das immer leichter vor, als es ist. „Jetzt redet doch mal!“ Und dann kommen Antworten wie: „Was?“ oder „Worüber?“ Es war eher so, dass wir sie im Alltag begleiteten. Durch die Konzeption wussten wir zwar, bei welchen Situationen wir dabei sein werden. Was dann aber geschah, konnte man nicht planen.
Du meintest, dass es kaum Filme über die asiatische Diaspora gibt. Was kann man sich darunter vorstellen und wieso ist das Thema deiner Meinung nach kaum vertreten?
Damals in der DDR kamen viele Vietnamesen als Vertragsarbeiter:innen nach Deutschland und somit auch das Image des fleißigen Arbeiters oder der Arbeiterin, das ist sicher. Man fällt damit nicht auf, aber wird dadurch auch unsichtbar. Somit wirst du nicht gesehen und es entsteht auch gar kein Interesse oder Neugier an der Community. Vielleicht möchten sie auch einfach nicht gesehen werden. Es ist ein bisschen so wie ein Ping Pong Spiel. Dann gibt es wiederum auch die Darstellung der Vietnamesen in den Medien. Natürlich gibt es asiatische Schauspieler:innen, aber die sind meistens komisch besetzt, wie etwa in Filmen über Exotismen. Das sind keine echten Storys, keine echten Lebensrealitäten, die dort erzählt werden.
Am 17. Januar seid ihr beim Filmfestival Max Ophüls vertreten. Wie kam es dazu und was löst das in dir aus?
Du musst fleißig einreichen und dir ein Netzwerk aufbauen. So hatte der Film dann auch Weltpremiere in Kanada, beim Hot Docs Film Festival. Leider konnten wir wegen Corona nicht dabei sein. Es ist unfassbar schön, dass wir nun auch beim Wettbewerb vom Filmfestival Max Ophüls in der Kategorie „Dokumentarfilm“ vertreten sind. Es ist eine coole Plattform für neue Talente oder Entdeckungen und kann natürlich neue Wege eröffnen.
Letzte Frage: Was möchtest du mit diesem Film erreichen?
Erst mal wollte ich einfach zwei tolle Menschen porträtieren, meine Eltern. Als Mensch ist man ja immer das Kind von jemandem und es wäre schön, wenn sich einige danach denken:“Hey, meine Eltern sind auch cool!“ In zweiter Linie will ich damit sagen, dass es egal ist, woher man kommt, was man arbeitet oder welche Gründe es überhaupt gab, die Heimat zu verlassen. Jeder Mensch hat eine Daseinsberechtigung in einem neuen zuhause und an einem neuen Ort. Ich will Menschen sichtbar machen, die sonst unsichtbar sind. Das ist meine Message.
Die Tickets zur Premiere findet ihr hier.
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Autor:innen
War bis April 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Information, Medien und Kommunikation mit der Vertiefung Journalistik in Österreich studiert. Ihre Themenschwerpunkte sind Gesellschaftpolitik und feministische Themen.