Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich die Umrisse einer starken, selbstbewussten Frau. Eine Frau, die alles erreichen kann, was sie will. Doch mein Körper ist nur eine Hülle. Er strahlt das aus, was ich ihm vorgebe. Mal gelingt es, mal reichen meine Schauspielkünste nicht aus. Es ist mein Schattenkind, das mir im Wege steht. Es lässt nicht zu, dass ich zu meinem wahren Selbst finde und somit das nötige Selbst- und Urvertrauen entwickeln kann, dass mich als Erwachsene durchs Leben bringt. Lange Zeit versuchte ich, das Bewusstsein darüber zu verdrängen. Lebte in einer falschen Realität. Verstand nicht, dass alles, was ich von mir gebe, aus meinem Schatten heraus kommt. Viel mehr noch war es mir egal. Das Leben hatte keinen Wert für mich. Doch heute denke ich anders. Heute will ich meine Schatten bekämpfen. Ich bin das, was ich ausstrahle. Und ich will Glück ausstrahlen. Mein Leben in vollen Zügen genießen können. Ich will leben.
Jemand, der im Einklang mit seinem inneren Kind ist, kann seinen Emotionen vertrauen und ihnen freien Lauf lassen. So jemand hat keine Angst vor Kränkungen, denn dieser Mensch ist stark genug, um darüber zu stehen. Eine Person, die sich geliebt fühlt, hatte wahrscheinlich ein warmes Zuhause. Genug Halt und Schutz, sodass sie dies auch an andere weitergeben kann. Verbindet viele schöne Erinnerungen mit ihrer Kindheit. Andere Menschen erlebten in ihrer Kindheit Dinge, mit denen sie nicht abschließen konnten. Sind im Alltag geprägt von Unsicherheit und einem unersättlichen Bedürfnis nach Anerkennung. Übersteigern das eigene Selbst ins Grandiose. So wie ich. Ich bin nicht stolz auf diese Kennzeichen meiner Persönlichkeit, doch sind sie ein Teil von mir. Gefühle zeigen und darüber sprechen war lange Zeit nicht möglich für mich. Zärtlichkeiten mit Mitmenschen auszutauschen ging mir unter die Haut. Meine Familie ist nicht besonders feinfühlig. Nähe und Berührung war mir nur möglich in Verbundenheit mit Intimität. Was mir damals noch unklar war, ist mir heute bewusster denn je. Die Spirale, in der ich mich befinde, ist nicht ausweglos. Nur bedarf es an harter Arbeit, ihr zu entkommen. Der Weg zu meinem wahren Selbst verläuft über viele Ecken und Kanten. Benötigt Geduld und Achtsamkeit. Lehrt mich den Umgang mit mir und meinem Körper auf einer anderen Ebene.
Alles fing mit dem Gedanken an, dass ich eine Narzisstin sein könnte. Ich kaufte mir ein Buch und setzte mich mit meiner Persönlichkeit und Erfahrungen aus meiner Kindheit auseinander. Fing an zu verstehen, wieso ich in manchen Situationen aufbrausend werde, in anderen meinen Mund nicht auf bekomme. Geduld zählte nie zu meinen Stärken. Wieso das so ist, darüber machte ich mir nie Gedanken. Selbstreflexion war etwas, wovor ich mich fürchtete. Mein Leben lang wollte ich normal sein. Zu verstehen, dass die Schuld nicht bei mir liegt, gab mir Kraft und meinen Willen zurück. Ich bin ein Opfer meiner Erziehung. Ein Opfer von Geschehnissen, die keiner erahnen konnte. Doch die Schuld nun bei anderen zu suchen bringt mit nicht weiter. Es ist die Auseinandersetzung mit mir und meinem selbst, die mir Antworten liefern wird.
Die Frau, die ich heute im Spiegel sehe ist stärker. Sie weiß, dass das Leben mehr zu bieten hat. Sie will herausfinden, wohin ihr Weg geht und ist mutig genug, diesen zu bestreiten. Was mir auf diesem Weg passiert und welche Erfahrungen ich in der Vergangenheit machte, möchte ich teilen. Meine Schatten sind noch da, aber sie rutschen immer mehr in den Hintergrund. Plagen mich nicht mehr Tag für Tag. Ich stehe ihnen gegenüber. Schaue sie an und verzeihe ihnen. Sie machten mich zu der, die ich heute bin. Und das ist okay.
Mein Tipp:
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Foto: Lorena Stiegler
Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.