WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von häuslicher Gewalt.
Früher war ich ein Idealist, – so wie wahrscheinlich fast jeder Mensch, der gemeinsam mit mir in diesem Vorlesungssaal saß, um der vielleicht letzten Vorlesung zu lauschen, die man jemals besuchen würde. Ich erinnere mich, dass niemand mehr zuhörte. Die Abschlussarbeiten waren geschrieben, Praktika absolviert und alle gesammelten Scheine stapelten sich auf den Schreibtischen des Prüfungsamtes. Das Einzige, was zwischen der letzten Vorlesung und dem Einstieg in ein neues Kapitel des Lebens stand, waren die vielen Biere und Schnäpse, die mich auf der Abschlussfeier erwarten würden. Ein letztes Mal würden wir uns über all die Strapazen des Lebens beschweren, denen wir uns unter Qualen drei volle Jahre stellen mussten. Ein letztes Mal würden wir gemeinsam zusammenkommen, bevor wir uns entweder eine ziemliche lange Zeit nicht oder niemals wiedersehen würden. Ein letztes Mal würden wir über die großen Pläne des Lebens sprechen und über das, von dem wir glaubten, was uns erwarten würde. Wir waren eine Gruppe von Menschen, die viel unterschied, doch auch viel verband – vor allem der Gedanke an das Gute im Menschen und daran, dass jeder Mensch ein gewaltfreies, gerechtes und wertvolles Leben verdient hat.
Zwei Jahre später sah ich mich im Scheinwerferlicht zwischen Polizeiautos und Rettungswagen stehen, während ich in die Augen einer Frau sah, die wahrscheinlich gerade ihr Himmelreich gefunden hatte. Meine Bachelorurkunde in Sozialpädagogik hatte bereits die ersten Knicke und Kaffeeflecken und staubte in meiner Schreibtischschublade ein. Von dem Idealisten der Abschlussfeier war nichts mehr zu erkennen. Die Frau schaute mich mit einem Lächeln an, während sie hinter der Scheibe des Streifenwagens saß. Sie lächelte das erste Mal. Ich kannte sie nicht besonders gut. Das merkte ich an jedem Wort, dass sie mir in unseren Gesprächen verschwieg. Doch ich wusste, dass sie sich das Leben anders vorgestellt hatte. Dies verrieten mir die Wunden auf ihrer Haut. Sie sprachen ihre ganz eigene Sprache. Genauso wie ihr leerer Blick, der nur durch mich hindurch starrte. Während sie in diesem Auto saß, lächelte sie jedenfalls das erste Mal und schaute mir auch zum ersten Mal in die Augen.
Ich hatte immer den Anspruch, Menschen zu helfen, – die Gründe dafür erkannte ich erst später. Doch als ich mich dafür entschied, war mir nicht klar, was mich alles noch erwarten würde. Ich dachte, ich würde Jugendliche von der Straße holen, Obdachlosen ein zu Hause geben, Menschen dabei helfen, eine Arbeit zu finden oder Kinder unterstützen, in der Schule besser zurechtzukommen. Dann fand ich mich in einer Realität der Überforderung und Gewalt wieder und in einem System, welches die Augen davor verschließt. Hätte mir ein Professor gesagt, dass ich später mal dabei zusehen müsste, wie Menschen misshandelt werden, wäre ich aus dem Vorlesungssaal gelaufen und hätte mich für ein BWL-Studium oder so was eingeschrieben –soviel zum Thema Idealismus. Heute verstehe ich, warum meine Anleiterin im Praktikum mal sagte: „Denkt über einen Plan B nach!“
Nach dem ersten entspannten Job landete ich in der Familienhilfe. Ich brauchte eine neue Herausforderung und das war das größte Feld im Bereich der sozialen Arbeit. Allerdings würde ich lügen, wenn ich behaupten würde, es hätte nicht auch am Geld gelegen. Von nun an half ich Familien in allen möglichen Notlagen rund um die Themen Finanzen, Erziehung und Lebenspraxis. Gewalt stand bis dahin nicht auf meiner Tätigkeitsliste. Dann traf ich Janine Greif (Name geändert) und ihren Mann. Das Kind des Paares wurde kurz zuvor aufgrund emotionaler Verwahrlosung und starker Unterernährung für einige Zeit in Obhut genommen. Anzeichen von körperlicher Gewalt gab es bei dem kleinen Jungen keine. Die Eltern verstanden die Inobhutnahme nicht, und genau mit dem Gesichtsausdruck, den dieses Missverständnis auslöste, wurde ich oft von Herrn Greif empfangen. Wenn er bei Terminen überhaupt mal anwesend war. Meine Aufgabe: Erziehungskompetenzen und Ressourcen der Eltern stärken sowie das Erkennen der natürlichen Bedürfnisse des Kindes.
Im Verlauf meiner Arbeit traf ich eine zunehmend in sich gekehrte Frau an, die offenkundig unter starken Misshandlungen litt. Ihre Verletzungen würden vom Sport kommen oder von der Hausarbeit. Sie wies eine Anschuldigung ihres Mannes stets zurück. Gemeinsame Gespräche mit ihr, dem Jugendamt und weiteren Beratungsstellen schlugen fehl. Ich hatte das Gefühl, Angst in ihren Augen sehen zu können, aber egal was ich ihr anbot, ich konnte sie nicht dazu bewegen, sich zu öffnen. Und trotzdem sprach sie immer wieder hypothetisch darüber, was Opfern von Gewalt passiere, sollten sie dies nach außen tragen. Sie fühlte sich als absolute Rabenmutter, was ihre Familie ihr ebenfalls ständig bestätigte. Sie könne nach dem Verlust des Kindes nicht auch noch ihren Mann verlieren, – die einzige Konstante in ihrem Leben. Sie fühlte sich für alles, was passiert war und was passieren würde, verantwortlich. Mit jedem weiteren Gespräch spürte ich auf beiden Seiten eine Ohnmacht. Die körperlichen Indizien reichten nicht aus, um sie da raus zu holen, denn sie bestritt, dass ihr Mann sie misshandelte. Sie relativierte seine Taten, – er habe viel Stress. Sie gab sich für alles die Schuld, was ihren Mann betraf.
Wir sprachen immer wieder über das Thema Gewalt, manchmal verdeckt, manchmal offen. Mit der Zeit sprach sie immer mehr mit mir, auch wenn es meistens keine tiefsinnigen Gespräche waren. Das Wichtigste war, dass sie überhaupt irgendetwas sagte. Sie war kreativ, vor allem bei der Beschreibung, wie ihre Wunden entstanden waren. An einem Dienstagabend schickte sie mir eine Nachricht und fragte mich, ob ich spontan vorbeikommen könnte. Ich setzte mich ins Auto und fuhr los. Als ich ankam, saß sie draußen auf der Treppe ihres Hauseingangs, mit einer Zigarette in der linken Hand und einem Baseballschläger, mit dem ihr Mann angeblich Sport trieb, auf dem Schoß. Als ich sie fragte, was los sei, sagte sie nur: „Jetzt macht das blöde Ding endlich einen Sinn!“

In diesem Jahr war Janine eine von ca. 105 000 gedemütigten, geschlagenen und misshandelten Frauen, die unter häuslicher Gewalt litten. Seit 2015 sind über 15.000 Opfer betroffen. Diese Zahl steigt rasant an – und doch handelt es sich dabei nur um Dunkelziffern. Janine hatte an diesem Abend ihre letzte Ohrfeige und die letzten Tritte in den Bauch eingesteckt, bevor sie sich, wie sie später einmal meinte, ihr Leben zurückgeholt habe. Sie erzählte mir auch, dass sie selbst an diesen Punkt kommen musste. Sie war immun gegen äußere Hilfsangebote, hätte sich aber gewünscht, es anders regeln zu können. Anders als mit dem Baseballschläger auf ihren Ex-Mann einzuschlagen. Drei Rippenbrüche, ein Nasenbeinbruch, eine Gehirnerschütterung, etliche Blutergüsse und ein zertrümmertes Gesicht später musste sich Janine vor Gericht verantworten: Notwehr! Das sah der § 32 des StGB so vor. Trotz ausstehender Aussagen von unzähligen Menschen war es ein kurzes Verfahren – mit glücklichem Ausgang, wenn man das überhaupt so sagen kann. Am Ende hätte Janine auch eine Strafe in Kauf genommen, wie sie mir später erzählte. Sie habe in diesem Moment nur noch rot gesehen und er habe keine Chance mehr gehabt, obwohl er ihr körperlich überlegen war. „Wäre mir nicht irgendwann die Kraft ausgegangen“, berichtete sie mir, „hätte ich weitergemacht und nur Gott weiß, was dann passiert wäre.“
Sie besucht heute regelmäßige Treffen und weiß, dass es jedem Menschen passieren kann. Leider sind Frauen mit circa 80 Prozent die Mehrheit der Betroffenen, wie die Organisation Weisser Ring e.V. angibt. Wichtig ist, betroffenen Menschen ein Sprachrohr zu sein und ihnen Mut zu machen, sich zu öffnen. Es gibt im Hinblick auf alle Gewaltformen Unterstützungsdienste, die zu jeder Zeit zur Stelle sind. Auch Nachbarn, Freunde oder Flurbegegnungen sollten die Augen nicht davor verschließen und offen auf Menschen zugehen, die sich in einer schwierigen Situation befinden könnten. Janine sagte, wenn mehr Menschen darüber reden würden, könnten sich Betroffene mehr öffnen und die Täter hätten weniger Handlungsspielraum. Man sollte die Augen und den Mund nicht davor verschließen, was hinter all den Wänden unserer Häuser und Wohnungen täglich passiert.
Für mich war es die erste Erfahrung mit häuslicher Gewalt. Kein Studium der Welt hatte mich auf die Ohnmacht und Hilflosigkeit vorbereitet, der ich mich gegenüber sehen würde. Es war nicht der letzte Fall – ganz im Gegenteil. Es folgten noch sehr viele und mit der Zeit habe ich gelernt, persönlich und fachlich besser damit umzugehen. Man darf niemals vergessen, dass die Menschen, die anderen helfen, auch nur Menschen sind. Wie in allen sozialen Bereichen ist der Job durch Strapazen, mangelnde Wertschätzung in jeglicher Hinsicht und durch viele traurige Schicksale geprägt. Doch ein kleines Lächeln, sei es auch nur hinter der Scheibe eines Streifenwagens, kann viel bewirken.
Ich habe lange warten müssen, bis ich Janine irgendwann fragen konnte, warum sie gelächelt hat. Ihre Antwort war: „Weil in dieser Nacht für mich die Sonne wieder angefangen hat zu scheinen.“ Vielleicht sind es genau diese Antworten, die mich dazu bewogen, diesen Job noch viele Jahre zu machen. Bei dieser Arbeit sind es die kleinen Momente, die so wertvoll sind wie ein Schatz in einer Truhe, der verborgen auf dem Grund des Meeres liegt. Wenn man sie hochholt, haben sie oftmals mehr Bedeutung und strahlen heller als all das Dunkle drum herum.
AUTOR: SEBASTIAN BÜNGER, ALLE BILDER: JOHANNA RICHTER
Opfer häuslicher Gewalt durchleiden oft langanhaltendes Leiden. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, sich jemandem anzuvertrauen, da Scham und das gesellschaftliche Tabu überwältigend sein können. Dabei benötigen sie dringend Unterstützung – jemanden, der zuhört und eine Hand, die ihnen in ihrer Not hilft. Hast du selbst Gewalt erlebt? Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ bietet Unterstützung unter der kostenfreien Nummer 08000-116 016. Du kannst auch beim „WEISSEN RING“ Hilfe finden.

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