„Du, sag mal, mich würde total interessieren … also, kannst du denn mit deiner Hand alles machen?“
Erst muss ich seufzen. Am liebsten würde ich sofort losplatzen und mitteilen, dass ich diese Frage schon Hunderttausendmal in meinem Leben gehört habe und die mir tierisch auf den Keks geht. Aber als ich ihr dann in die verlegenen Augen schaue, fange ich an zu schmunzeln, denke daran, wie stolz ich auf mich bin, und sage nur: „Ja!“
Hi! Ich bin Sophie, 22 Jahre alt, komme aus dem Ruhrpott, und ich habe eine Symbrachydaktylie. Nein, das ist nicht der Name eines seltenen Pokémons, sondern der meiner Handfehlbildung.
Es ist der 03.04.2000, – der Tag meiner Geburt. Ich komme nicht nur drei Wochen zu früh auf die Welt, sondern auch mit ganz kleinen Fingern. Die Diagnose: „Symbrachydaktylie vom Kurzfingertyp an der rechten Hand.“ Seit ich mich zurückerinnern kann, weiß ich, dass in meinem rechten Ringfinger kein Knochen ist. Die restlichen Finger sind viel kürzer als die Finger an meiner linken Hand. Sie haben ein wenig Ähnlichkeit mit leckeren Erdnussflips, aber bitte nicht reinbeißen!

So eine Symbrachydaktylie wie die, die ich habe, oder andere Formen von Dysmelien haben allein in Deutschland ungefähr 90.000 Menschen. Und jedes Jahr kommen Hunderte Kinder dazu. Dysmelie ist ein Oberbegriff, der Fehlbildungen an Armen oder Händen beschreibt. Dysmelien sind angeboren. Die genaue Ursache ist nicht unbedingt bestimmbar. Genetische Einflüsse, äußere Einflüsse, bestimmte Entzündungen, Infektionen oder Abschnürungen im Mutterleib – das alles können Gründe sein.
Ich habe schon früh gelernt, mit meiner Fehlbildung umzugehen. Wir Betroffenen sind das ja gewohnt. Wir sind quasi Anpassungskünstler:innen und haben zahlreiche Techniken entwickelt, wie wir im Alltag klarkommen. Außerdem gibt es Behandlungsansätze, die zur Unterstützung dienen. Von Physiotherapie, Prothesen, Operationen bis zu Alltagshilfen – es gibt ganz viele verschiedene Möglichkeiten. Meine Eltern haben sich damals für eine Operation entschieden, auf die eine Physiotherapie folgte. Zu dem Zeitpunkt war ich gerade ein Jahr alt. Meine Eltern fanden es wichtig, dass ich später so gut wie alles machen kann, was Menschen mit einer „normalen“ Hand auch können. Deshalb war dies das Prozedere: „Stabilisierung der Finger II, III und V durch Interposition von Mittelgliedern der Zehen III und IV links und der II. Zehe rechts, K-Drahtfixierung.“
Übersetzt heißt das: In meinem rechten Zeigefinger, Mittelfinger und dem kleinen Finger wurden Mittelglieder, also Knochenteile aus drei Zehen, eingesetzt. Das sorgt dafür, dass die Finger ein bisschen größer und stabiler wurden. Theoretisch hätte man auch mehr Knochenteile aus meinen Zehen nehmen können, um meinen Ringfinger zu stabilisieren. Meine Eltern haben sich damals dagegen entschieden. Sie wollten lieber, dass ich das selbst entscheide, wenn ich alt genug bin. Das Entnehmen von weiteren Teilen aus den Zehen hätte zwar keine funktionellen Einschränkungen gegeben, doch die Verkürzung der Zehen wäre im Wachstum „ästhetisch“ sehr aufgefallen.
Meine Erdnussflips-Finger und ich kommen eigentlich ganz gut miteinander zurecht. Bis jetzt haben wir alles geschafft, was meine Hand und ich uns vorgenommen haben. Ich kann meine Schuhe binden, schnell auf die Tastatur hauen, Auto fahren, handschriftlich schreiben, häkeln, nähen. Ich habe Gitarre spielen gelernt und kann sogar ein wenig Keyboard spielen. Ich habe einfach immer alles ausprobiert und mich jedes Mal gefreut, wenn etwas geklappt hat. Ich sagte mir nie „Das kannst du jetzt nicht ausprobieren, denn das wird eh nicht funktionieren“, sondern „Komm, wir probieren das jetzt einfach so lange, bis es klappt“.

Dass ich den Alltag so gut meistere, hätten früher viele nicht geglaubt. Die Ärzt:innen meinten immer: „Du wirst dies nicht können“ und „Das wirst du auch nicht können.“ Ich habe solche Aussagen aber schon immer ignoriert, Dinge trotzdem probiert und sie dann auch geschafft!
„Sophie wird nie Klavier spielen können.” Falsch. „Puh, das mit dem Auto fahren wird bestimmt auch schwierig.” Falsch. „Per Hand schreiben? „Ah, da müssen wir noch mal gucken.” Auch falsch. Mir war es egal, was andere Leute mir zugetraut haben oder nicht. Wenn ich mir was in den Kopf gesetzt habe, habe ich es immer durchgezogen und in den meisten Fällen war ich erfolgreich.
Natürlich war nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Schwierigkeiten hatte. Diese Schwierigkeiten waren aber oft nicht von motorischer Natur, sondern psychisch und zwischenmenschlich. Ich hatte als Teenager zum Beispiel ganz lange Angst, dass ich niemals einen Partner finden würde. Ich hatte Angst, dass mich niemand lieben könnte – mit so einer Hand. Ich hatte Angst, dass sich heimlich alle vor mir ekeln, aber nichts sagen, um mich nicht zu verletzen.
Ich dachte immer, dass ich als Kind ein neutrales oder gutes Verhältnis zu meiner Hand hatte. Meine Mama hat mir aber berichtet, dass das eben nicht so war. Sie hat mir Dinge erzählt, die ich total vergessen habe. Vielleicht waren diese blöden Erlebnisse ja der Grund, warum ich später so viele Ängste hatte. Ängste, die sich darum drehten, was andere Menschen von mir dachten.
Damals war ich so um die drei bis fünf Jahre alt. Ich habe das Tanzen geliebt und bin regelmäßig in die Tanzschule gegangen. Einmal sollten wir einen großen Kreis bilden und uns alle an die Hand nehmen. Das Mädchen rechts neben mir musterte mich. Es starrte auf meine Hand. Jeden einzelnen Finger schaute sie sich an. Ich habe meine Hand zu ihr ausgestreckt, aber ich fasste ins Leere. Sie zog ihre Hand wieder zurück. Sie hat sich nicht getraut, meine Hand anzufassen. Sie wollte meine Hand nicht anfassen.
„Die ist so komisch“, sagte sie. „Die ist eklig, die fasse ich nicht an.“
Ich war total aufgelöst. Das hat sich richtig beschissen angefühlt. Und dann habe ich mir tausend Gedanken gemacht: Warum hat dieses Mädchen nicht einfach meine Hand genommen? Ist meine Hand etwa wirklich so eklig? Aber ich bin doch so viel mehr als nur meine Hand. Oder etwa nicht? Wenn meine Hand eklig ist und sie ein Teil meines Körpers ist, dann bin ich doch als Ganzes eklig, oder?
„Die ist voll eklig, weil … Guck mal, wie klein die Finger daran sind.“
Das war’s dann für mich. Ich wollte unbedingt etwas ändern. Mit einem Spielzeug-Doktor-Set habe ich dann versucht, meine Finger irgendwie größer zu machen. Damals haben die Ärzt:innen das doch auch so gemacht, oder? Ich wollte solche Finger haben wie die ganzen anderen Kinder. Natürlich habe ich mit meiner Plastik-Pinzette keinen Erfolg gehabt.
„Eklig“, „Komisch“, „Du Krüppel“ – diese negativen Reaktionen haben dazu geführt, dass ich meine Hand auf Fotos versteckt habe. Ich hatte das Gefühl, immer angestarrt zu werden. Ständig wurde ich gefragt, was denn mit meiner Hand sei und diese Frage machte mich wütend. Ich wollte mich nicht für das Aussehen meiner Hand rechtfertigen. Ich wurde halt so geboren. Aber auch wenn niemand etwas sagte: In den Augen, an der Körperhaltung, in der Mimik habe ich direkt Mitleid, Ekel oder einen kurzen Schockmoment gesehen. All die Gefühle von anderen Menschen, die ich nicht haben wollte. Klar habe ich mir bestimmt auch vieles eingebildet. Aber in diesen Momenten waren diese Gefühle für mich real.
Die Leute, die mir Fragen über meine Hand stellten, hatten bestimmt keine bösen Absichten. Ich weiß, dass sie sicher nur interessiert waren, weil sie vielleicht noch nie jemanden mit so kurzen Fingern gesehen haben. Für mich war und ist diese Art von Aufmerksamkeit aber trotzdem immer ein bisschen unangenehm. Ich vergaß oft, dass meine Hand irgendwie anders ist und war dann genervt, wieder daran erinnert zu werden, dass sie eben nicht der Norm entspricht. Besonders blöd fand ich es aber, wenn manche Menschen einfach, ohne zu fragen, meine Hand genommen haben und jeden Finger einzeln inspizierten. Ich habe mich dabei gefühlt wie ein Alien. Wie in einer Freakshow. Besonders mein kleiner knochenloser Ringfinger ist bis heute noch für viele eine Attraktion.
Viele gemeine Dinge, die zu mir gesagt wurden, habe ich vergessen und verdrängt. Warum genau, weiß ich gar nicht richtig. Ich schätze, weil das Thema für mich zu emotional aufgeladen war und ich an die unschönen Dinge nicht denken wollte. Vielleicht bedrückt mich das Thema aber auch manchmal mehr, als ich mir eingestehen will. Erst vor Kurzem sind ein paar Erinnerungen wieder hochgekommen. Ich habe mich bereit gefühlt, mich noch mal intensiv mit meiner Hand auseinanderzusetzen und meine Gefühle zu sammeln. Genau wie in diesem Text hier.
Doch trotz der Tatsache, dass jeder Lacher und jedes Starren nicht unbemerkt blieb, war ich grundsätzlich ein sehr glückliches und mutiges Kind. Das habe ich auch meinen Freund:innen zu verdanken. Die standen und stehen immer noch hinter mir und haben mir gezeigt, dass man mich „trotz“ meiner Hand mögen kann. Für sie ist meine Hand kein großes Thema.
„Die ist halt so und dann ist das eben so”, sagen sie.
An eine Situation in meiner Kindheit muss ich bis heute noch denken und schmunzeln: Auf dem Spielplatz kam ein Kind und wollte mich gerade fragen „Warum ist denn deine Hand so komi…“. Dieser Satz blieb unvollständig, weil Romy dann kam. Und Romy – oh, die fand das mal so gar nicht cool, wie das andere Kind mit mir gesprochen hat. Sie hat dann wütend erklärt, dass meine Hand ganz und gar nicht komisch ist. Dann hat sie meine Hand genommen und wir sind woanders spielen gegangen. Da war Romy echt meine Heldin des Tages. Vielleicht hat sie gemerkt, dass ich in dem Moment keine Kraft hatte, mich zu erklären und ist mutig für mich eingesprungen. Danke dafür, Romy!
Meine Eltern haben dafür gesorgt, dass ich Erwachsene und Kinder treffe, die ebenfalls solche Finger und Hände haben wie ich. Dadurch konnte ich realisieren, dass ich nicht die Einzige auf der ganzen weiten Welt bin, die so etwas hat und dass andere auch Situationen wie ich erlebt haben. Das hat mir sehr viel Mut und Kraft gegeben. Besonders toll fand ich es, einen Masseur kennenzulernen, der auch eine Fehlbildung an der Hand hat. Ich habe den Masseur einfach auf der Arbeit besucht und ihn gefragt, ob ich mir mal seine Hand ansehen darf. Einen Erwachsenen zu sehen, der mit seiner Fehlbildung zusammenarbeitet und dann auch noch in einem handwerklichen Beruf – wie cool ist das denn bitte?! So etwas zu erleben hat mein Selbstbewusstsein enorm gestärkt. Ich hatte nicht mehr so viel Angst vor der Zukunft und was mal aus mir werden würde. Mich überkam das Gefühl, dass mich nichts stoppen kann. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Text hier schreibe. In der Hoffnung, dass ihn eine Person* liest, die ihn gerade braucht.
Wenn mich heute also jemand fragen würde, was ich alles mit meiner Hand machen kann, würde ich antworten: „Wie lange hast du Zeit? Dann liste ich mal alles auf.“

Meine Hand ist für mich etwas ganz Besonderes. Sie macht mich erst zu „Sophie“. Wenn meine Finger anders wären, dann würde ich einfach nicht dieselbe sein. Auch wenn mich manchmal noch Selbstzweifel und doofe Gedanken plagen, trage ich meine Hand und jeden einzelnen Finger daran mit Stolz. Wem das nicht passt, dem zeige ich einfach meinen kleinen, Erdnussflips-ähnlichen Mittelfinger. Der ist nämlich so süß, dass man gar nicht lange böse sein kann.
Meine Symbrachydaktylie ist ein Teil von mir. Ein Teil, der mir zwar manchmal ein paar Unannehmlichkeiten beschert, ohne den ich jedoch nicht „Ich“ wäre. Ein Teil, der mich manchmal stört, aber ohne den auch etwas fehlen würde. Einen Teil, den ich zu akzeptieren und sogar zu mögen gelernt habe.
Autorin: Sophie Gebauer
*Diese Person darf mich gerne kontaktieren. Du bist nicht alleine. Ich freue mich immer, andere Geschichten zu hören und Erfahrungen auszutauschen. (Instagram: @sophiegby)
Die „Arm- und Handoperations-Interessengemeinschaft e.V.“ (kurz: AHOI e.V.) ist ein weiterer Ort, um sich auszutauschen. Für Eltern und Kindern mit einer Fehlbildung an Hand oder Arm ist dieser Verein ein Lichtblick. Meinen Eltern hat es sehr geholfen, sich mit anderen Eltern auszutauschen und für uns Kinder war es auch immer super mit anderen Kindern zu spielen, die „genau so etwas haben wie ich“.

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Autor:innen
DIEVERPEILTE ist eine Redaktion von Journalist:innen und Nichtjournalist:innen, die bei uns oder als Gastautor:innen arbeiten. Alle eint, dass sie guten jungen Journalismus machen wollen. Wenn du uns einen Text anbieten willst: info@dieverpeilte.de
Liebe Sophie,
ich finde deinen Artikel großartig!!! Deine Beschreibungen sind sehr anschaulich geschrieben und ich habe das ein oder andere Mal schlucken müssen weil ich so ergriffen war. Kinder können tatsächlich grausam sein…
Du machst das prima und es liest sich, dass du ein ganz toller und starker Mensch bist!
Sei stolz auf dich und deine Eltern!
Ganz liebe Grüße