„Wie bist du denn eigentlich zur Philosophie gekommen? Hast du davor nicht etwas anderes gemacht?“ Ein Lächeln huscht mir über mein Gesicht. Früher oder später stellen mir die meisten Leute diese Frage. Philosophie zu studieren ist nichts Selbstverständliches. Wieso sollte man etwas lernen, mit dem man ja offensichtlich kein Geld verdienen kann? Da muss es eine Geschichte geben. „Ja, ich habe an der Wirtschaftsuniversität studiert“, beginne ich und blicke ab der Hälfte des Satzes in überraschte Augen.
Mir ist das nichts Neues. Mittlerweile habe ich auch meinen Spaß daran gefunden, zu sehen, wie sich hinter den Pupillen meines Gegenübers die Vorurteile überschlagen. Nun ja, seit ich nicht mehr dort studiere. Davor gab es für mich kaum etwas Unangenehmeres. Die WU Wien und wahrscheinlich alle Wirtschaftsuniversitäten haben einen katastrophalen Ruf. Anzug, Rolex, High Heels. Ein Bild, in das ich beim besten Willen nicht reinpasse.
„Und wie war es dort?“, fragen diejenigen, die nicht bereits abgeschreckt sind. Nun ja, das ist eine längere Geschichte. Als Erstes erwähne ich meistens etwas in Richtung „Die sind nicht alle so”. Die meisten tragen weder Anzug noch Rolex noch High Heels. Das Klischee von Oskar-Maximilian mit Moet und Porsche ist überzeichnet, ABER…
Meine Geschichte an der WU beginnt im September 2016. Ich bin aus meinem gut behüteten Nest gehüpft und auf dem ultramodernen, fast schon monumentalen, Campus im Wiener Prater gelandet. Auch wenn ich das überhaupt nicht gerne hören würde, bin ich etwas jung und naiv. Wieso ich internationale Betriebswirtschaft studieren möchte, kann ich heute nur ungefähr nachzeichnen: Erstens habe ich es immer schon geliebt, Sprachen zu lernen und der Studienzweig enthält vier Semester Unterricht in je zwei Fremdsprachen. Zweitens macht mir Organisieren Spaß. Und das ist doch quasi Management, oder? Außerdem weiß ich, dass die Management-Elite viele Fäden in der Hand hält – die Produktionsmittel. In meinem Kopf habe ich ein beinah romantisches Bild: Wenn ich zu ihnen hochklettere, kann ich von oben die Welt verbessern. Etwas erreichen. Eine Idee, die ich heute absolut absurd finde – so viel nehme ich vorweg.
Ich bin nicht sicher, worauf ich mich da eingelassen habe. Ein paar ominöse Tipps habe ich von meiner Schwester erhalten: Anscheinend ist es sehr wichtig, sich anständig zu kleiden und jeden Tag in der überteuerten Mensa zu essen. Den einzigen Effekt, den das hat, ist der, dass mir die Leute dort im Vorhinein ziemlich unsympathisch sind.
Die ersten Male am Campus fühlen sich surreal an. Ob man die Architektur schön findet, ist Geschmackssache, aber zum Studieren finde ich es toll. Der Campus ist nur drei Jahre zuvor eröffnet worden. Die Räume sind hoch und hell, die Einrichtung bunt, der Ausblick grün und die Infrastruktur hat alles, was man braucht. Mit meinen Mitstudierenden ist es nicht so einfach für mich. Schon in der Schule war alles mit Popkultur und Mainstream nicht mein Fall. Und gerade davon gibt es an meiner neuen Uni mehr als Salz im Atlantik, – gewürzt mit einer saftigen Ladung Spießbürgertum. Doch mit der Zeit finde ich Leute, mit denen ich mich gut verstehe.
Um es kurz zu machen: ich finde mich ein. Ich habe meine Freund:innen, meine Lernplätze, meine Lieblingslokale zum Mittagessen, kenne die Secret Spots am Campus und meine Vorstellungen, was ich nach dem Studium machen möchte. Von dem Konkurrenzdenken, das an meiner Uni so stark sein soll, bekomme ich nicht viel mit – alle helfen sich gegenseitig. Doch es ist klar, dass man sich an den anderen misst. Meine Freund:innen und ich schreiben alle relativ gute Noten. Ich hatte mir schon in der Schule leichtgetan und empfand die unzähligen Multiple-Choice-Tests nicht als große Herausforderung. So kommt es, dass wir mit der Wahl unserer Spezialisierungen in eine Art Elite-Gruppe geraten.
Damit meine ich nicht, dass ich persönlich gewisse Spezialisierungen höher werte als andere. Die Hierarchisierung der Studierenden an der WU ist systematisch. In gewisse Fächer kommt nur, wer gute Noten hat. Natürlich können das theoretisch alle erreichen, die fleißig lernen, praktisch ist diese Leistungsideologie Heuchelei. Die meisten mit guten Noten kommen aus höheren sozialen Klassen. Diese Leute werden dann wiederum als High Achiever von den Unternehmen angeworben und soziale Ungleichheit reproduziert sich. Schade, dass wir das nicht an unserer Uni lernen. Im Gegenteil, dieser Prozess – gute Noten, gute Chancen – wird aktiv gefördert. Besonders leistungsstarke Leistungsträger:innen haben die Chance, einem ganz besonderen Club beizutreten: der Top-League. Das ist kein Witz. Sie erhalten spezielles Mentoring (und nicht Leute, die unter erschwerten Bedingungen studieren). Dort und in den Clubs der verschiedenen Spezialisierungen finden exklusive Veranstaltungen mit großen Vertreter:innen der Branche statt, die alle im Pool der Elitestudis fischen wollen.
Vernetzung ist der wichtigste Faktor von Wirtschaftsuniversitäten, – diesem Klischee stimme ich zu. Vernetzung untereinander, mit Gleichgesinnten und Vernetzung mit der Wirtschaftswelt. In unserer Wohnung liegen heute noch Schreibblöcke und Kugelschreiber von McKinsey, Accenture, pwc und Co. Firmen, die man außerhalb dieser Welt oft nicht kennt, die aber maßgeblich in wirtschaftliche und politische Entscheidungen involviert sind. Wie stark ich in eine Bubble hineingerutscht bin, merke ich erst Jahre später.
Die Bubble ist ein zweiter zentraler Faktor. Die WU Wien liegt außerhalb des Stadtzentrums und weit weg von den meisten anderen Universitäten. Wer nicht durch WG, Arbeit oder Schule viel mit anderen Leuten unternimmt, hat manchmal kaum Kontakt nach außen. Wieso auch? Am Campus gibt es alles, was man braucht. Oft verbringe ich den ganzen Tag dort und lebe so einige Jahre an der Realität, die wir später managen sollen, vorbei.
Eine Sache bleibt: Die meisten Leute sind mir immer noch unsympathisch. Ich wage zu behaupten, dass viele meiner Freund:innen anders sind. Auch wenn wir das Spiel mitspielen, nehmen wir nicht alles so ernst und machen uns über die lustig, die es tun. Doch nach außen schäme ich mich, mit der WU-Bubble identifiziert zu werden. Fast jedes Mal, wenn ich nach meinem Studium gefragt werde, habe ich Angst, in die polierte Schnöselschublade gesteckt zu werden. Was auch hier und da passiert.
Es gab noch eine andere Sache, mit der viele nicht zufrieden sind: die Qualität der Inhalte. Viele Dinge, die uns beigebracht werden, finden wir doof. Frameworks und Strategien, Buzzwords, Vier-Felder-Matrizen mit kreativen Namen, Wissen, das man genauso gut auf Wikipedia lernen könnte. Wir hatten uns ein akademisches Studium erwartet, bekommen aber tatsächlich eine praktische Ausbildung für abstraktes Management.
Mittlerweile ist es 2019. Mit meinem Studium bin ich nicht mehr wirklich glücklich. Wo ich es zu Beginn spannend fand, das glänzende Spiel des Geldes kennenzulernen, geht es mir jetzt immer mehr auf die Nerven. Die meisten interessieren sich nur für Dinge, die ihnen nutzen und arbeiten wie hypnotisiert – für Kultur und Klamauk bleibt keine Zeit. Meine Familie ist stolz auf mich, aber ich langweile mich in der Bubble und unternehme immer mehr mit Freund:innen außerhalb.
Außerdem habe ich angefangen, mich mit Dingen auseinanderzusetzen, die in unserem System nicht zu funktionieren scheinen. Zwei Themen interessieren mich besonders: die Klimakrise und Feminismus. In meiner Bubble stoße ich damit kaum auf Resonanz. Klar, die Themen werden ernst genommen. Aber wirklich etwas zu ändern ist nicht oberste Priorität. Als Einzelne:r kann ich sowieso nichts bewirken. Da schaut man besser auf sich und die eigene Karriere.
Denn wenn man die pflegt und brav nach oben klettert, bekommt man die Hebel in die Hand. Und je höher man sitzt, desto mehr kann man mit diesen Hebeln bewegen. Physik! Doch mit der Zeit kommt mir das immer seltsamer vor. Mir fällt auf, dass zwar sehr viele Leute in meinem Umfeld moralische Werte für sich bestimmt haben, aber nur wenige ihre Handlungen danach richten. Ich frage mich, wie man – wenn man dann erfolgreich ist – moralisch begründete Entscheidungen treffen soll, wenn man es davor nie geübt hat. Besteht nicht die Gefahr, sich daran zu gewöhnen, falsche Dinge zu tun, sich dem Umfeld über die Jahre anzupassen?
Es tut mir weh, zuzusehen, wie Leute, die ich schätze, zu Unternehmen gehen, die in einem destruktiven System operieren. Ölkonzerne, die die Umwelt verpesten, Großbanken, die Diktaturen unterstützen, Beratungsunternehmen, die politisch skandalöse Projekte durchführen. Die Logik widerspricht sich: Schlechtes zu tun, um dann irgendwann Gutes zu erreichen, erscheint mir ein zwielichtes und spekulatives Argument zu sein. Um Gutes zu tun, muss man Gutes tun. Wie viel könnten wir erreichen, wenn alle meine Kolleg:innen ihre Energie in neue Strukturen stecken würden?
Jedes System lebt von den Rädchen, die es am Drehen halten. Ist kein Rädchen mehr bereit zu kurbeln, stirbt jedes System. Auch passiver Widerstand bewegt. Doch das habe ich auf der Wirtschaftsuniversität nicht vermittelt bekommen. Über Ideen haben wir nicht viel diskutiert. Wir lernen, wie das System funktioniert und wie man sich darin etablieren kann. Nicht, wie man es hinterfragt. „Es ist erschreckend, wie leicht man sich vom System in die vorgesehenen Wege leiten lässt“, schreibe ich im Februar 2020 in mein Journal. „Man wird in eine Seifenblase gepustet, indem das System seine Kinder züchtet. Ab dann passiert alles von selbst. Innerhalb dieser Blase sondert sich über einen Prozess der Selbstselektion die Crème de la Crème nach oben hin ab. Ob mit Absicht oder nicht, das ist einer der gefinkeltsten* Mechanismen des Systems.“
Ich gestehe mir ein, dass ich aus Frustration die letzten Monate an der Wirtschaftsuni fast schon herablassend zu Mitstudierenden war, die das Studium noch ernst genommen haben. „Was ich ihnen als Kollektiv so übel genommen habe, war das Gefühl von ihnen vereinnahmt worden zu sein. Ich wurde in Teilen zu jemandem, die ich nie sein wollte“, schreibe ich.
Zu diesem Zeitpunkt habe ich meinen Bachelor schon abgeschlossen und einen Masterplatz an derselben Uni abgesagt. Was jetzt? Ich merke, dass ich nicht mehr die gleiche Person bin wie 2016. Ich glaube nicht mehr an die Leistungsgesellschaft. Ich glaube nicht mehr an den Kapitalismus. Aber nicht, weil mir Karl Marx im Schlaf erschienen ist; niemand hat mich missioniert. Ich habe nicht über antikapitalistische Ideologien gelernt, – ich habe über den Kapitalismus selbst gelernt und seine Folgen. Ich merke, dass ich nicht damit leben kann, zu diesem System beizutragen. Das bedeutet nicht, dass ich alle verurteile, die es von innen verbessern wollen. Auch das ist wichtig. Aber für mich funktioniert es nicht mehr.
Die Frage, wie man nachhaltig, moralisch und progressiv arbeiten kann, lässt mich nicht los. Ich stelle sie auch nicht nur für mich. Ich hätte gerne eine Antwort darauf, wie wir alle Handeln sollen, um gemeinsam eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Mein Weg zur Philosophie ist nicht mehr weit.
*Österreichisch für schlau, durchtrieben
Illustration: Lisa
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften in Wien studiert und befindet sich aktuell im
Philosophiestudium. Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Wirtschaft und
Poltik.