WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von Drogenmissbrauch.
Wenn der Melder geht, fahren wir los. Das gilt für jeden Rettungswagen in Deutschland. Deshalb machen mein Kollege und ich uns auch an diesem Mittwoch um 15 Uhr auf den Weg.
Irgendwo in der Bundesrepublik erhalten wir die Einsatzmeldung „weiblich, 19 Jahre, Bauchschmerzen, Herzklopfen“. Am Einsatzort angekommen treffen wir auf eine junge Frau, die nur in T-Shirt und Jogginghose bei fünf Grad Außentemperatur vor Ihrer Haustür wartet. Kaum bin ich ausgestiegen, kommt sie uns entgegen und bleibt vor dem Rettungswagen stehen. Sie lehnt es ab, einzusteigen und beschreibt mit klappernden Zähnen die klassischen Anzeichen einer Panikattacke: Angst, Herzklopfen, Schweißausbrüche. Sie sagt, sie sei vor Kurzem von Ihren Eltern hierher gezogen. Mit ihrer Mutter spricht sie nicht mehr und außer ihr kenne sie in dieser fremden Stadt nur ihren Freund. Sonst wäre es für sie wohl ein Tag wie jeder andere gewesen. Ich habe ein komisches Bauchgefühl, die ganze Situation erscheint mir suspekt. Aber ehrlich gesagt hätte ich in Ihrer Situation bestimmt auch psychische Schwierigkeiten.
Endlich ist sie bereit, in den aufgewärmten Rettungswagen einzusteigen und setzt sich stocksteif seitwärts auf die Trage. Der Heizlüfter lässt ihre Haare ein bisschen wehen, als sie mit glasigen Augen, die Arme vor der Brust verschränkt, vor sich auf den Boden stiert. Nur ein Beruhigungsmittel wolle sie und sich dann ins Bett legen. Vielmehr spricht sie nicht. Aber sie lässt sich auf eine oberflächliche Untersuchung ein.
200-mal die Minute. So schnell schlägt ihr Herz. Das ist etwa dreimal so schnell, wie es das normalerweise tun sollte. Dass diese Frau nicht nur eine Panikattacke hat, ist augenblicklich klar. Der zusätzlich gerufene Notarzt erreicht die Einsatzstelle und übernimmt. Schnell ist ein Venenzugang gelegt, ein EKG zur Überwachung geschrieben und die Medikation vorbereitet.

Adenosin ist sein Medikament der Wahl für ihren zu schnellen Herzschlag. Das Mittel wirkt auf Rezeptoren am Herzen und verlangsamt seine Schlagfrequenz. Und es kann, wie der Arzt ihr jetzt erklärt, in Kombination mit Drogen lebensbedrohliche Nebenwirkungen haben.
Das ist der Warnschuss, der unserer Patientin zur Ehrlichkeit gefehlt hat. Speed hat sie genommen. Wohl zum ersten Mal in ihrem Leben. „Du machst mich fertig“, entfährt es dem Notarzt. Haarscharf sind wir gerade an einer wirklich kritischen Situation vorbeigeschrammt.
An diesem Nachmittag ist alles gut gegangen. Die Patientin begleitet uns ins Krankenhaus, wir verabschieden uns und übergeben den Rettungswagen der nächsten Schicht. Am nächsten Abend komme ich selbst zur Wache, um in der Nacht zu arbeiten. Der erste Einsatz führt uns zu einer bekannten Adresse. Wieder nur im T-Shirt steht sie jetzt bei fast null Grad Außentemperatur vor derselben Haustür und klappert mit den Zähnen. Dieses Mal überspringen wir die Panikattacke und kommen gleich auf den Punkt: Es war wieder Speed, es geht ihr wieder beschissen, sie möchte verständlicherweise wieder ins Krankenhaus.
Mittlerweile kenne ich ihren Vor- und Nachnamen, ihr Geburtsdatum, ihre Krankenkasse und die Adresse auswendig. Wir begrüßen uns bei ihren regelmäßigen Fahrten per Rettungswagen ins Krankenhaus bereits mit Vornamen. Mit den meisten meiner Kolleg:innen ist sie per Du.

Das gibt es häufig. Menschen, die dem Alkohol, dem Koks oder dem Speed verfallen sind und regelmäßig unsere Hilfe brauchen. Sie sind unsere Stammkund:innen und haben außer uns niemanden, der kommt, wenn sie sich hilflos fühlen. Keine Freund:innen, keine Familie, keine Partner:innen. Am Bodensatz der Gesellschaft treffen sich die, denen die Drogen die Selbstbestimmung nehmen. Und da treffen sie auch uns. So entsteht auf dieser unwirtlichen Seite des Lebens auch menschliche Verbindung zwischen Hilflosen und Helfer:innen. Draußen warten stattdessen nur kalte Bänke, andere Süchtige und der nächste Schuss.
Drogen sind ein Teil unserer Kultur, schon ewig. Sie haben ihre feste Rolle in dieser Gesellschaft und sind nicht wegzudenken. Bewusstseinserweiternde Erfahrungen sind ein wichtiges Element der Genuss- und Konsumwelt. Doch für manche sind sie einfach zu viel, zu stark, zu verführerisch. Und dann lernt man den Kontrollverlust kennen, die Verwahrlosung und in den schlimmsten Fällen uns: den Rettungsdienst.
Nimmst du auch zu viel?
Hier gibt es Infos und Hilfe:
www.sucht-und-drogen-hotline.de
Dieser Text erschien erstmals am 09. April 2021und wurde am 31. März 2022 nochmals aktualisiert. Unser Autor ist Rettungssanitäter und möchte anonym bleiben.

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