1.109 Frauen und 1.422 Männer erkrankten im Jahr 2019 an Morbus Hodgkin. Dies geht aus dem Zentrum für Krebsregisterdaten des Robert Koch-Instituts hervor. Mit 0,5 Prozent aller Krebsneuerkrankungen zählt die Krankheit zu den eher seltenen Krebserkrankungen. Sie betrifft vor allem junge Menschen. Zum Vergleich: An Brustkrebs erkranken jährlich rund 72.135 Menschen in Deutschland. Wer von seinem Arzt oder seiner Ärztin die Diagnose Morbus Hodgkin oder auch Hodgkin-Lymphom erhält, hat es mit einem bösartigen Tumor des Lymphsystems zu tun. Da sich im gesamten Körper Lymphgewebe befindet, kann Morbus Hodgkin überall im Körper entstehen. Am häufigsten betroffen sind jedoch die Lymphknoten, aber auch Organe wie Lunge, Leber, Knochenmark und Milz können – meistens in fortgeschrittenen Krankheitsstadien – befallen sein. Heute hat die Tumorerkrankung aufgrund der spezifischen Behandlungsmöglichkeiten gute Heilungschancen.
Wie es ist, an Morbus Hodgkin zu erkranken und was das Umfeld für eine Person, die an Krebs erkrankt ist, tun kann, erzählt die 23-jährige Claire. Bei ihr wurde im letzten Jahr das Hodgkin-Lymphom diagnostiziert. Darauf folgte eine fünfmonatige Chemotherapie und ein Monat Bestrahlung.
DIEVERPEILTE: Wie hast du erfahren, dass du Krebs hast?
Claire Joy Becker: Ich war mit einer Freundin im Museum und hatte einen Rollkragenpullover an, als ich einen Knubbel am Hals bemerkte. Das fand ich seltsam. Ist vielleicht eine Zyste, habe ich dann erst mal gedacht. Ich glaube, ich hatte auch Halsschmerzen, aber erinnere mich nicht mehr genau daran. Am nächsten Tag ging ich zum Hausarzt, der mich nach einem kurzen Blick darauf zum HNO schickte.
Das kommt mir bekannt vor. Ich habe einen Knoten in meiner linken Achsel entdeckt und bin wie du zum Hausarzt gegangen, der mir dann eine Überweisung für die Radiologie mitgab. Danach stellte sich heraus: Es ist Brustkrebs. Wie ging es bei dir weiter?
Ich ging zu einer HNO-Ärztin, die einen Ultraschall von der Stelle machte. Sie meinte dann, dass es vermutlich nichts wäre, aber falls der Knoten in zwei Wochen nicht von alleine weggehen würde, solle ich noch mal vorbeikommen.
Und?
Zwei Wochen später war ich wieder da und die Ärztin terminierte ein MRT im nächsten Monat für mich. Das war im November 2021, am 20. Dezember hatte ich dann meine erste Magnetresonanztomografie.
Und das Ergebnis?
Einen Tag später hatte ich zwei verpasste Anrufe auf meinem Display und eine E-Mail mit der Nachricht, dass ich mich schnellstmöglich in der Praxis melden solle. Ich war zu diesem Zeitpunkt in einem Meeting und konnte deshalb keine Anrufe entgegennehmen. Als ich die Ärztin zurückrief, wurde mir gesagt, dass man mehrere auffällige geschwollene Lymphknoten entlang der Luftröhre bei mir gefunden hätte. Deshalb sollte ich am nächsten Tag für ein zweites MRT des Abdomens, also des Bauchraums, vorbeikommen. Zusätzlich wurde noch ein CT gemacht.
Hattest du zu diesem Zeitpunkt schon eine Ahnung, dass das etwas mit Krebs zu tun haben könnte?
Ich hatte mir damals die Befunde durchgelesen. Darin stand, dass es Überschneidungen mit Morbus Hodgkin geben würde. Im Anschluss habe ich alle Fremdwörter aus dem Ärzt:innenbrief gegoogelt. Da war dann schon klar, dass es etwas Ernstes sein könnte. Von diesem Moment an war es eine 50/50-Chance: Entweder habe ich’s oder ich hab’s nicht.
Die Zeit zwischen Biopsie und Diagnose war eine der schlimmsten meines Lebens. Nicht zu wissen, ob ich nun Krebs habe oder nicht, machte mich fertig. Wie ging es dir damit?
Von diesem Tag an habe ich jeden Abend bis spät in die Nacht im Internet recherchiert. Ich wollte einfach etwas finden, was mich beruhigt und mir sagt, dass alles okay ist.
Wie ging es dann weiter? Wann hast du deine Diagnose erhalten?
Nachdem das zweite MRT und ein CT von mir gemacht worden waren, passierte über Weihnachten erst mal gar nichts. Ich wurde mit dem Befund allein gelassen und lenkte mich mit Google ab. Das war schwierig für mich, da ich allein damit klarkommen musste.
Der Gedanke, einen Tumor zu haben, ist nun mal beunruhigend. Hast du mit deiner Familie darüber gesprochen?
Ich wollte ihnen keine Angst machen. Ich hatte meiner Familie zwar gesagt, dass es etwas Schlimmes sein könnte, versuchte aber, weiterhin Ruhe zu bewahren. Was sie nicht wissen, ist, dass ich jede Nacht damit verbrachte, allein in meinem Bett zu weinen, weil ich dachte: „Fuck, was ist, wenn es Krebs ist?“.
Dann hast du es also erst mal mit dir alleine ausgemacht? Was ist mit den Ergebnissen deiner Untersuchungen? Wie ging es da weiter?
Genau. Ein paar Monate davor hatte ich eine schwere Trennung durchgemacht. Ich kam einfach schlecht darüber hinweg und hatte an Gewicht verloren. Mir ging es generell einfach kacke. Und plötzlich stand ich da, eingebucht für eine Biopsie und einen Krankenhausaufenthalt für drei Nächte. Davon habe ich diese Narbe hier (zeigt auf die linke Halsseite), die ich jetzt eigentlich ganz cool finde (lacht).
Du hast vorhin erzählt, dass du den Knoten auf der rechten Seite ertastet hast. Die Narbe hier ist aber auf der linken Seite. Warum?
Ja, genau. Hier (zeigt auf Luftröhre) ist in der Zeit zwischen meinem ersten Ärzt:innenbesuch und der Biopsie noch ein größerer Tumor gewachsen.

Fuck. Wie hast du das gemerkt?
Mein Hals ist echt dick geworden und ich hatte Schmerzen beim Schlucken. Siehst du die Kette, die ich gerade anhabe? Und siehst du, wie locker sie sitzt? Das war damals nicht so.
Ähnliche Veränderungen habe ich an meiner Brust beobachtet. Nach meiner ersten Chemotherapie war sie auf die doppelte Größe angeschwollen. Die Ärzt:innen haben sich also für den anderen Knoten entschieden?
Ja, weil er auffälliger aussah. Der erste Knoten, der mir aufgefallen ist, sah für die Ärzt:innen so aus, als ob er eventuell auch gutartig sein könnte, während die neu Gewachsenen auffälliger waren. Sie wollten bei der Biopsie sichergehen, dass sie eine Probe von dem auffälligsten Knoten nehmen statt von einem kleineren, der beweglich ist.
Wann hast du danach erfahren, dass du Krebs hast?
Irgendwann, das muss gegen Ende Januar gewesen sein, hieß es, ich solle vorbeikommen. Und dann hörte ich: „Ja, leider bestätigte sich die Befürchtung, dass es Krebs ist“. Die Nachricht wurde mir von einem jungen Arzt übermittelt – null Mitgefühl. Er hatte überhaupt keine Expertise darin, jungen Patient:innen eine solche Nachricht zu übermitteln.
Gleichzeitig wütete das Corona-Virus. Das bedeutet, du konntest auch niemanden mitnehmen.
Genau, ich musste die meisten Termine alleine durchstehen.
Und dann begann der Ärzt:innenmarathon, also die Vorbereitung für die Chemotherapie.
Kinderwunschzentrum, Corona-Impfung, Ultraschall, kardiologische Untersuchungen, Lungenfunktionstest inklusive pneumologischem Check-up, Wechsel von Asklepios zu UKE, Port-OP und dann Anfang März die Chemo.


Du hast vorhin angesprochen, dass du in der Phase der Unsicherheit viel geweint hast. Was ist da bei dir im Kopf passiert und wie ging es dir so ganz allein in der Zeit bis zur Diagnose?
Also, ich hatte schon Angst. Man wird plötzlich mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert und muss mit dem Gedanken klarkommen, dass man früh sterben könnte. Man denkt: «Okay, ich könnte früh sterben. Ich könnte als junge Person sterben» – und wie kommst du damit klar? Ich weiß noch, dass ich mir Fragen stellte. Fragen wie «Wieso habe ich das?».
Als ich meine Diagnose erhalten habe, waren Wieso-Fragen in meinem Kopf auch sehr präsent. Ich suchte die Schuld bei mir, bis ich merkte, dass niemand die Schuld daran trägt. Es war einfach Pech. Gab es einen Punkt, an dem du dich besser gefühlt hast?
Kurz vor meinem PET-CT dachte ich: Aber warum eigentlich nicht ich? Immerhin habe ich ein gutes Support-System, im Gegensatz zu einer anderen Person, die vielleicht niemanden hat. Es kam der Gedanke: Ich habe Leute, die mich unterstützen, und das haben andere vielleicht nicht. Also warum nicht ich? Irgendjemanden muss es ja treffen, oder wenn es jemanden treffen muss, dann doch lieber mich als eine Person, die damit ganz alleine ist.
Das ist ein schöner Gedanke.
Und um zurück zu deiner Frage zu kommen: Ich hatte einfach Angst vor dem, was kommt. Ist es Morbus Hodgkin oder Non-Hodgkin? Letzteres hätte ich lieber nicht gehabt, weil das noch mal schwerer zu behandeln ist.
Gab es etwas, das dir das Gefühl des Alleinseins genommen hat?
Als ich die Diagnose bekam, gab es überall in Hamburg DKMS-Plakate von der deutschen Krebsgesellschaft. Und auf diesen Plakaten war eine 23-Jährige, die Sevda heißt und die auch Morbus Hodgkin hat. Und es war unglaublich für mich, dass ich gerade zu dem Zeitpunkt überall diese Plakate von dieser Person sehen konnte, die genau das Gleiche hat wie ich. Und ich konnte sie auf Social Media finden, mich mit ihr connecten und sie Sachen fragen. Das war für mich ein Touchpoint, mit dem ich mich besser fühlte.
Gerade in der Anfangsphase kann der Kontakt zu einer anderen betroffenen Person viel Trost spenden. Hat sie dann auch reagiert?
Sie hat reagiert. Ich habe sie angeschrieben und ein paar Fragen über meine Ängste gestellt, und sie war unglaublich positiv und meinte dann auch „Du schaffst das!“. Es war richtig gut zu wissen, dass sie ein paar Monate älter als ich ist und das alles ein paar Monate vor mir durchgemacht hat. Ich kann ihr auf Instagram folgen und kann sehen, wie viel besser es ihr jetzt schon geht. Das war cool. Also, in der Hinsicht habe ich mich nicht alleine gefühlt.

War Social Media ein wichtiger Faktor für dich?
Ja, auf jeden Fall – auch, weil es so distanziert ist. Wenn du jetzt #morbushodgkin eingibst, siehst du überall an Krebs Erkrankte. Und am Anfang der Behandlung dachte ich noch: Scheiße, ich gehöre bald zu den richtig kranken Leuten und ich werde auch keine Haare haben. Davor hatte ich Angst und gleichzeitig denke ich auch: Wow, so viele gibt es von uns! Und schau mal, wie viele es schaffen, – die meisten kommen da richtig gut durch.
Das klingt, als ob du dich in deinem sozialen Umfeld gut aufgehoben gefühlt hast.
Es hat mir schon eine Person gefehlt, mit der ich mich dauerhaft austauschen konnte. Jemanden, dem ich sagen konnte, dass ich keinen Bock mehr auf die Chemo habe oder wie unangenehm dieser Geruch ist. Sevda war zwar für mich da, aber wir waren auch keine Freundinnen. Ich dachte, sie will sich sicher nicht die ganze Zeit über meine Behandlung austauschen, nachdem sie mit ihrer eigenen schon durch ist. Sie hat ihre eigenen Kontakte, mit denen sie sich über Krebs austauschen kann. Aber sie war dennoch für mich da, als es brenzlige Fragen gab.
Was war mit deinen Freund:innen? Konntest du nicht mit ihnen darüber sprechen?
Doch schon. Aber ich hätte mir manchmal gewünscht, dass es eine Person gibt, die das Thema effektiver mit mir durchgeht und so richtig konkrete Fragen stellt.
Eine andere betroffene Person.
Ja, genau. Eine Person, mit der ich mich über den Geruch, der durch die Chemo resultiert oder die Kochsalzlösung, mit der das Portimplantat geblockt wird, austauschen konnte. Bei Leuten, die nicht betroffen sind, würde ich jetzt nicht die ganze Zeit davon sprechen, dass ich Angst habe, oder dass es mir so fucking schlecht geht. Sie sehen es dir sowieso an. Du brauchst nicht unbedingt Worte benutzen, um das zu erklären. Aber ich glaube, ich werde im Nachhinein noch vieles aufarbeiten müssen, was ich während meiner Behandlung nicht verarbeiten konnte. Das wurde mir auch von Anfang an so gesagt, dass die emotionale Reaktion meistens nach der Behandlung kommt, – wenn du erst mal realisierst, was du gerade alles durchgemacht hast.
Du hast erwähnt, dass du alleine zu deinem Diagnose-Gespräch gegangen bist.
Mir war es wichtig, dass ich mich darauf konzentrieren kann, was mir gerade gesagt wird und wie ich damit umgehen kann. Ich hatte gerade angefangen, jemanden zu daten – das war im Oktober. Einen Monat später hatte ich Krebs. Er war für mich da. Also habe ich ihn zu dem Termin mitgenommen. Er hat mir zugehört, für mich recherchiert und er war einfach da. Das war sehr hilfreich für mich, da er sich Dinge vom Ärzt:innengespräch merkte, die ich vergaß.
Wie hast du deinen Angehörigen davon erzählt, dass du Krebs hast?
Nach dem Termin habe ich meine Eltern angerufen. Als ich ihnen von meiner Diagnose erzählte, erwiderte mein Vater: „Das ist kein Todesurteil!“. Das habe ich selbst auch so gesehen.
Klingt, als hätten deine Eltern die Nachricht entspannt aufgenommen.
Sie waren sehr gelassen, also nicht aufgebracht oder so. Wir haben im Vorfeld darüber gesprochen. Sie wussten also von meiner Angst, dass es Krebs sein könnte. Meine Eltern waren sicherlich schockiert, aber sie haben mir das nicht gezeigt.
Du klingst, als wärst du dankbar für diese Erfahrung.
Ihr Umgang mit meiner Diagnose war gut, weil ich dadurch nicht mit den Emotionen meiner Eltern umgehen musste. Stattdessen meinten sie „Okay, wir schaffen das! Das ist kein Todesurteil!“. Meine Mutter war selbst auch betroffen. Sie hatte Hautkrebs am Kinn, das wurde bereits operiert. Seither bekommt sie mehrmals im Jahr ein weiteres verdächtiges Hautareal gelasert oder ausgeschnitten. Und meine Schwester hatte im Jahr 2020 Hautkrebs am Arm. Also es liegt auch so ein bisschen in der Familie. Doch meine Eltern waren ein sicherer Hafen für mich, so etwas wie mein rock.
Kam es im Laufe deiner Erkrankung zu Konflikten zuhause?
Würde ich jetzt nicht so sagen. Ich war die meiste Zeit nicht bei meinen Eltern, sondern in meiner Wohnung in Hamburg.
Wieso?
Ich wollte meine Ausbildung weitermachen und solange es möglich war, auch irgendwie selbstständig sein. Wenn es mir gut ging, dann hatte ich auch gar kein Problem, mich um mich selbst zu kümmern. Und wenn es mir nicht gut ging, war Nick da. Für mich war die Krebsbehandlung etwas, das nur ich machen konnte. Nur ich konnte zu dieser Behandlung gehen und meine Chemotherapie bekommen. Es hatte keinen Zweck, dass jemand mit mir in den Wartebereich kam. Und das war auch okay für mich.
Es durfte ja auch niemand mitkommen.
Sie hätten also unten im Eingangsbereich warten müssen, ohne mich. Deshalb bin ich zu den meisten Terminen alleine hingegangen. Und selbst wenn es möglich gewesen wäre, hätte es für mich wenig Sinn ergeben. Ich habe mich lieber selbst beschäftigt, abgelenkt, irgendwas gelesen oder angeschaut, als jemanden mitzunehmen.
Hättest du es als belastend empfunden, Leute dabei zu haben?
Ich glaube schon. Ich hätte mich dann vielleicht unterhalten müssen, wenn ich aber eigentlich nur nachdenken wollte. Für mich war die Chemozeit auch meine Zeit zum Reflektieren. Ich konnte mir darüber Gedanken machen, was gerade los ist und vielleicht auf Social Media etwas darüber schreiben.
Wie hast du deinem restlichen Umfeld von deiner Erkrankung erzählt?
Ich habe das auf Social Media gepostet. Meinen engsten Freund:innen habe ich persönlich geschrieben. Und Leuten, die ich von der Schule kannte, habe ich es über die Klassengruppe erzählt. Aber eigentlich lief das meiste über Social Media. Da habe ich viel Unterstützung erhalten, auch viele Nachrichten, das war schön.
Ich habe meine Erkrankung auch öffentlich gemacht. Wie ging es dir mit den Nachrichten auf Social Media?
Ich fand es mega anstrengend. Vor allem, was antwortest du auf „Wie geht’s dir?“. Ich habe so viele Nachrichten nicht beantwortet in den letzten Monaten. Sobald es hieß, „Wie geht’s dir?“ war ich raus. Was soll ich sagen? (lacht)
Da geht es mir ganz anders. Die „Wie geht’s dir“-Frage mag ich am liebsten. Schlimmer empfinde ich es, wenn mir die Leute meinen Gefühlszustand mit einem „Ich kann mir vorstellen, was du gerade durchmachst“ vorwegnehmen und schon davon ausgehen, dass es mir schlecht geht.
Ich hatte einen sehr guten Freund, wir waren eigentlich beste Freunde. Und ich habe das Gefühl, er hat sich bei mir über die Zeit meiner Erkrankung gar nicht gemeldet. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass er Angst hatte, mir im Weg zu stehen, oder weil er selber Angst hat oder Angst dadurch bekommen hat. Man wird ja auch mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, wenn andere Krebs bekommen. Jedenfalls bin ich sehr enttäuscht, dass er sich teilweise weniger nach mir erkundigt hat als Leute, mit denen ich fast gar nichts zu tun habe. Es gibt Leute, die mir mehr geschrieben haben, obwohl ich nicht so viel mit ihnen zu tun hatte, weil sie Leute kennen, die Krebs hatten. Oder weil ihre Eltern oder Bekannte es hatten. Die Personen wissen, wie das ist und wie sie damit umgehen sollen.
Die Erfahrung habe ich auch gemacht. Das, was dir mit deinem besten Freund passiert ist, nennt man Cancer Ghosting. Gemeint ist der Zustand, wenn Freund:innen oder Bekannte aus dem Leben einer krebskranken Person verschwinden. Das kann unterschiedliche Ursachen haben. Wie zum Beispiel das, was du beschrieben hast. Die Personen wissen in diesem Fall nicht, wie sie mit der kranken Person umgehen sollen.
Das finde ich schon krass. Ich meine, wenn ich darüber nachdenke, dass eine:r meiner engsten Freund:innen etwas hätte und ich nicht wüsste, wie ich damit umgehen soll, dann ist doch das Mindeste, was man machen kann, zu googeln.
Wie meinst du das?
Google gibt manchmal ganz gute Vorschläge bei sowas. Also auch, wenn du nicht weißt, wie du damit umgehen sollst oder was du sagen kannst, wenn jemand sagt, er/sie hat Depressionen oder Selbstmordgedanken. Entweder fragst du die Person selbst, oder du fragst Google und findest so einen Wegweiser. Dass von ihm gar nichts kam, hat mich verletzt. Es ist so ein Hin und Her zwischen: Soll ich diese Gefühle auf ihn übertragen oder soll ich sie loslassen? Oder ich mache einfach gar nichts und warte, bis er sich wieder meldet.
Was ist letztendlich passiert?
Ich hatte vor ein paar Wochen einen Moment, wo ich ihn echt gerne wiedergesehen hätte. Wir haben viel zusammen fotografiert. Es hat einfach Spaß gemacht, ein Hobby mit jemandem zu teilen. Und dann meinte er, er habe dieses Jahr keine Zeit mehr, weil er bald seine Bachelorarbeit schreibt.
Autsch.
Und das war so: “Okay, du findest keine Zeit für ein Treffen – bis nächstes Jahr?”. Das fand ich sehr schade.
Was sagt dein Gefühl dazu?
Nachdem, was ich im letzten Jahr durchgemacht habe, wäre es schön gewesen, wenn er gesagt hätte: „Ich habe nicht so viel Zeit, aber ich nehme mir die Zeit, mich mal auf einen Kaffee mit dir zu treffen.“

Inwiefern können Außenstehende, die selbst nicht krank sind, helfen? Oder anders gefragt: Was hättest du dir von deinem Umfeld gewünscht?
Ich höre einen Podcast. Der heißt „You, Me and the Big C“. Dabei handelt es sich um einen BBC-Podcast aus England, in dem drei Frauen über ihren Krebs sprechen. In diesem wurde eine Sache gesagt, die ich richtig gut finde und die ich mir mehr von Leuten gewünscht hätte, anstatt mir anzubieten: „Sag mir Bescheid, wenn ich irgendwas für dich tun kann.“ Ich habe keine Antwort darauf, was jemand für mich tun kann. Und etwas, das man tun kann, wenn man jemanden kennt, der Krebs hat, ist etwas anzubieten. Etwas Konkretes zu sagen.
Zum Beispiel?
Koche etwas und bringe es vorbei. Das hilft mehr als „Sag Bescheid, wenn ich dir etwas kochen soll.“ Weil, wann ist jemals der Moment, in dem ich dir schreiben würde: Hey, kannst du mir bitte eine Suppe kochen? Ich brauche die genau jetzt! (lacht).
Fühle ich. (lacht).
Das passiert halt nicht. Was mir auch gutgetan hat, sind Karten. Das ist sehr persönlich und schön. Das hätte ich mir mehr von meinen Freund:innen gewünscht, dass sie mir eine Karte mit „Du schaffst das“ oder „Gute Besserung“ schicken.
Hast du das deinen Freund:innen auch gesagt?
Nein, das habe ich nicht.
Woher sollen sie dann wissen, dass du dir das wünschst?
Das ist das Schwierige, ja. Also, meine Klasse hat das gemacht. Die haben mir ein kleines Geschenk gemacht, das war sehr süß. Als ich auf der Intensivstation war, hat mir meine beste Freundin eine kleine Karte und Süßigkeiten vorbeigebracht, ich mochte das einfach gerne. Die Karten habe ich dann an die Wand gehängt. Das hat mir ein Gefühl von „Die-Leute-denken-an-mich“ gegeben. Die Mutter meiner Freundin hat mir einen Brief aus Portugal geschickt und der klebt an meiner Wand. Sie hat mir »Gute Besserung» geschrieben – und ich finde, das geht klar, auch wenn es Krebs ist. Du musst nicht denken, dass du nicht »Gute Besserung» sagen kannst, weil das einfach etwas Schönes ist, was man sich immer wünschen kann. Solche Kleinigkeiten, selbst wenn man einfach vorbeikommt oder einen kleinen Brief schreibt oder Süßigkeiten vorbeibringt. Auch dann, wenn ich sie gerade nicht essen würde. Es gibt mir ein gutes Gefühl, da die Person gerade etwas extra für mich gemacht hat. Sie zeigt mir damit, dass sie an mich denkt und etwas für mich tun möchte.
Mir haben „Ich denke an dich“-Nachrichten, die ich vor und nach meiner Chemotherapie erhalten habe, sehr geholfen. Wie hat sich dein Blick auf Freundschaften durch die Erkrankung verändert?
Ich glaube, es ist schwierig für mich, das zu beantworten, weil ich nicht so viele Vergleiche habe. Aber ich habe eine Freundin, die immer da war. Mit ihr konnte ich über alles reden. Sie hat mich abgeholt, als mir meine Eizellen rausgenommen worden sind und ich eingeschlafen bin. Sie saß neben meinem Bett und hat ferngesehen, damit ich nicht alleine bin. Und dann habe ich halt das andere Beispiel von dem besten Freund, der sich einfach gar nicht mehr gemeldet hat. Das sind so die zwei Sachen, die ich erzählen kann. Und dann ist da noch Nick, mit dem ich zusammen bin, – der durchgehend für mich da war.
Letzte Frage: Wie hat sich dein Leben durch die Krebserkrankung verändert?
Ich habe das Gefühl, andere Lebenskrisen nun viel leichter überwinden zu können. Weil ich mir einfach denke: „Okay, ganz ehrlich, am Ende komme ich da lebend raus und mir fehlt es an nichts.“ Und diese Garantie hat man bei einer Erkrankung wie Krebs eben nicht. Oft, wenn ich so viele „normal aussehende“ Menschen durch die Straßen gehen sehe, frage ich mich, was in deren Leben los ist. Wir wissen so wenig voneinander. Während meiner Therapie habe ich mir oft gewünscht, dass die Leute wissen, was mit mir los ist. Weil so eine Krebstherapie einfach anstrengend ist. Manchmal ist man einfach nicht in Bestform, man ist nicht so aufmerksam oder kann nicht immer bei allem mitmachen, weil man unglaublich müde ist. Und die Leute aus meinem Umfeld wussten das und sie sind für mich eingesprungen. Man lernt wertzuschätzen, welche Leute für dich da sind. Und dass man „one of the lucky ones“ ist. Man darf weiterhin am Leben teilhaben und das ist schön, auch wenn es einem manchmal nicht so vorkommt.
DIEVERPEILTE: Danke Claire für das Gespräch.
Transparenzhinweis: Die Autorin wurde im August 2022 mit Brustkrebs diagnostiziert und machte zum Zeitpunkt des Interviews, Anfang Dezember, eine Chemotherapie.

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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.