In Würzburg, in der Nähe eines Waldes, lag eine Hundeschule. Grüne Gegend, hohe Bäume. Ich war vielleicht vier Jahre alt, als ich meiner Mutter und unserem schwarzen Briard-Schnauzer-Mix vom Zaun aus beim Training zuschaute. Die Hundeschule ruft, wenn wir schon drüber reden, negative Erinnerungen in mir hervor. Ich spreche da aus Erfahrung, wenn ich sage, dass der Platz nicht nur von Hundebesitzer:innen als Fäkalienablage verwendet wurde. Einmal, als ich ungeduldig darauf wartete, dass sich der Kurs dem Ende zuneigte, hielt ein Mann mittleren Alters in einem dunklen Auto vor mir an. Mit heruntergekurbeltem Fenster bot er mir Süßigkeiten. Ich bekam Angst und lief weg. Der Mann folgte mir noch eine Weile, bis er sich wohl eingestehen musste, dass seine Lockversuche bei mir auf trockenen Boden trafen. Das ist meine erste Erinnerung mit Manipulation. Warum ich das erzähle: Pädophile sind dafür bekannt, Kinder mit Spielzeug oder Süßigkeiten zu ködern, um im Nachgang Sex von ihnen zu fordern. Und obwohl ich nicht glaube, dass Mission etwas mit Pädophilie zu tun hat, glaube ich, dass die Strategie von Missionar:innen eine Ähnliche ist. Das ist natürlich ein harter Vergleich. Doch wenn ich an die Kirche denke, denke ich an Kindesmissbrauch. Das ist einfach so.
Warum erzähle ich das?
Die Berlinerinnen Miriam B. und Miriam R. von Wir für Berlin und die Hilfsaktion „Weihnachten im Schuhkarton“ möchten, dass ich über meine Erfahrung dort berichte. Klar, ich mag es, mich ehrenamtlich zu engagieren. Anderen Menschen zu helfen gibt mir ein gutes Gefühl und holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Eines freitagvormittags im November verabredete ich mich also mit den beiden, um Weihnachtsgeschenke für hilfsbedürftige Kinder zu verpacken. Meine Absicht: Ich wollte mir die Aktion anschauen und übers Helfen schreiben. Mir war bekannt, dass Samaritan’s Purse eine evangelikale Organisation ist, das ist kein Geheimnis. Dass die Organisation die Verteilung der Geschenke, die ausschließlich an christliche Gemeinden in verschiedenen Empfängerländern verschickt werden, mit dem Missionsgedanken verknüpft, war mir neu. Mit meinem Helfer-Irrtum befinde ich mich nun, nicht ganz zu Unrecht, in einem moralischen Konflikt: Ich bin Atheistin und habe mich vom Glauben abgewandt. Ich glaube, es ist total okay zu glauben, aber ich glaube nicht, dass Menschen anderen Menschen auf die Pelle rücken sollten, um sie vom Glauben zu überzeugen. Freiheit finde ich nämlich verdammt wichtig.
Wieso ich nicht damit einverstanden bin, habe ich erläutert. Nun kann ich mit meinem Beruf natürlich nicht mehr nur übers Helfen schreiben, das ist klar.
Weihnachten im Schuhkarton ist die weltweit größte Geschenkaktion für Kinder in Not. In Deutschland gibt es die Aktion seit 1996, damals unter der Flagge von „Geschenke der Hoffnung“. Vor drei Jahren hat sich die Organisation dem internationalem Branding Samaritan’s Purse angeschlossen. Ein aus den USA stammendes christliches Hilfswerk, das damit wirbt, armutsbetroffenen Kindern eine Freude zu Weihnachten zu machen. Und das geschieht weltweit. Die Idee: Wer bedürftigen Kindern eine Freude zu Weihnachten machen will, kann einen Schuhkarton voller Geschenke packen und diesen bei der Hilfsorganisation abgeben. Die deutsche Zentrale in Berlin schickt das Päckchen dann überwiegend nach Osteuropa und verteilt es vor Ort. Weitere Niederlassungen gibt es in Österreich, England, Australien, Korea, Kanada oder der Schweiz. Laut Alexander Becker, dem Leiter der Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“ in Deutschland, werden damit jährlich über neun Millionen Kinder weltweit erreicht. Allein in Deutschland sind es knapp eine halbe Million Schuhpakete, die gepackt und auf die Reise geschickt werden. Dafür engagieren sich jährlich vier bis fünftausend Ehrenamtliche – Festanstellungen im Operationsbereich gibt es hingegen nur dreißig, außerhalb der Saison deutlich weniger, so Becker.
Sucht man im Internet, stößt man auf heftige Kritik. Die barmherzigen Samariter sollen aufgrund ihrer „aggressiven“ Missionierungsversuche mit der Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“ negativ aufgefallen sein. Auch die Presse stürzte sich darauf: Der STANDARD sagt: „Kinder bekommen oft nicht nur ein Packerl, sondern auch eine Broschüre und einen Kurs angeboten“, Deutschlandfunkkultur bemängelte, dass die Weihnachtsspenden mit „Hindernissen“ versehen sein, die taz sprach von „gut verpackte Propaganda“ und die Badische Zeitung drückt es so aus: „Barmherzigkeit mit Beigeschmack.“
Aber was ist das überhaupt – Mission?
Im Evangelium soll der Glaube nicht für sich behalten werden. So wurde es von Jesus, am Ende des Matthaeus Evangeliums, im 15. Jahrhundert beschlossen: „Gehet in alle Welt, taufet die Menschen im Namen des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes.“ Auf Mission sind demnach Christ:innen, die andere Menschen von ihrem Glauben überzeugen, damit diese erkennen, dass die Botschaft von Jesu Christus für ihr Leben eine Bedeutung haben kann. Wer heutzutage noch missioniert? Zum Beispiel Samaritan’s Purse. „Die Wurzeln sind schon aus dem christlichen Bereich, um dezidiert auch christliche Werte zu vermitteln. Ohne zwangsläufig eine Holzhammermission verbinden zu müssen. Es ist ein freiwilliges Angebot, zu dem eingeladen wird und wo wir eben sagen, dass sind unsere Wurzeln, die verstecken wir nicht, aber alles andere geht auch“, wie Becker über die Missionierungsversuche der Hilfsorganisation sagte. Allein bei der Evangelischen Mission Weltweit sind neun Missionswerke, fünf Verbände, fünf Freikirchen und die EKD zusammengeschlossen, die in Deutschland den Dachverband der evangelischen Missionswerke bilden.
Doch wie ist’s denn nun bei „Weihnachten im Schuhkarton“?
Die Registrierung erfolgt online. Zur Auswahl stehen drei Schichten. Wenn du in der „Weihnachtswerkstatt“ ankommst, wirst du von den freundlichen Mitarbeiter:innen gebeten, nachdem du ein Namensschild, sowie deine Tischnummer, einen Corona-Test gemacht und deine Sachen in einem Schließfach weggesperrt hast, in der Cafeteria Platz zu nehmen. Zusammen mit den anderen „Helfer:innen“ wird dir ein achtminütiges Schulungsvideo mit missionarischen Botschaften vorgespielt. Darauf zu sehen ist ein etwa achtjähriger Junge, der dir die Arbeit erklärt und nebenbei immer wieder betont, wie wichtig Gottes Liebe für ihn ist. Er ist witzig, alle haben gelacht. Danach geht es weiter in die „Verpackungswerkstatt“ . Die nächsten dreieinhalb Stunden, darunter auch eine kleine Kaffeepause, ist man entweder „Verpacker:in“ oder „Päckchen-Kleber:in“. Als „Verpacker:in“ nimmt man sich die von Spender:innen bereits verpackten Schuhkartons und kontrolliert diese nach Qualität und „nicht erlaubten Gegenständen“. Literatur jeglicher Art, kriegsbezogene und angstauslösende, scharfe und spitze Gegenstände, aber auch Hexerei- und Zaubereiartikel werden aus den Schuhkartons entfernt – weil diese dem Kindeswohl schaden könnten. „Es geht darum, dafür zu sorgen, dass jedes Kind ein schönes lohnendes Geschenk bekommt“, sagt Becker. Im Anschluss werden die Kartons mit weiteren Geschenken versehen. Während dem Verpacken denkt man als fleißige Helfer:in ungefähr so: „Ach ist das süß“. Die privilegierten Helfer:innen denken etwa so: „Das ist ja traurig, das Päckchen muss noch fröhlicher werden.“ Ich habe mich in beidem wiedererkannt. Die „Päckchen-Kleber:innen“ stehen am Ende des Fließbandes. Mit Klebeband bewaffnet, sind sie dafür zuständig, dass die Päckchen zusammen mit den anderen Paketen sicher verstaut und verpackt werden, damit sie sich im Anschluss auf die Reise begeben können. Ich habe Verständnis dafür, dass jährlich um die vier bis fünftausend „Helfer:innen“ zum Schuhkarton verpacken zusammenkommen. Es ist eine schöne Beschäftigung. Ich hatte Spaß beim Verpacken, deswegen sage ich es.

Mit dem befriedigenden Gefühl, etwas Gutes zu tun, bin ich nicht allein. Ich spreche mit meiner Tischnachbarin Julia (26), die wie ich zum ersten Mal hier ist. Sie erzählt, dass sie über ihre damalige Grundschullehrerin von der Aktion erfuhr. „Ich finde es gut, weil die ehrenamtliche Arbeit einen selbst auf den Boden zurückholt. Im Alltag merkt man oft gar nicht, in welchem Überfluss man lebt und so weiß man das eigene Leben auch wieder mehr zu schätzen“. Rechts daneben packt die 39-jährige Severine. Sie erzählt, dass sie seit Saisonstart, dem 19. November als ehrenamtliche Helferin dabei ist und ihren Urlaub nutzt, um „Weihnachten im Schuhkarton“ zu unterstützen: „Die ‚Weihnachtswerkstatt‘ hörte sich für mich interessant und verheißungsvoll an und da ich eh viel Zeit habe, habe ich mich angemeldet. Besonders schön fand ich, dass der Zugang hier zu helfen, sehr einfach gestaltet ist.“
Sich bewusst in die Perspektive eines Gläubigen zu versetzen, das habe ich zum ersten Mal kurz nach meinem Besuch in der „Weihnachtswerkstatt“. Gottesdienst, Beten, Kirchenlieder – für mich klingt das schrecklich. Welchen Einfluss der Glaube an das persönliche Glück haben könnte, darüber habe ich nie nachgedacht. Ich unterhalte mich mit einer Gruppe von jungen Christ:innen darüber. Sie sagen, der Glaube sei das Fundament ihres Lebens. Er helfe ihnen dabei, ein erfülltes Leben zu führen. Und tatsächlich: Auch ich habe das Gefühl, dass der Glaube für sie das ist, was für mich Selbstreflexion ist. Was ist richtig und was falsch? Nur dass ich an mich, meine Werte und Handlungsrichtlinien glaube und keinen Gott brauche, der mir dabei hilft, mich den schwierigen Fragen des Lebens zu stellen.
Es ist 13 Uhr. Eine Helferin verkündet: „Ihr Lieben, ihr habt heute 1.304 Pakete verpackt.“ Stolz klatschen wir in die Hände. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen jedes Jahr zusammenkommen und Schuhkartons für hilfsbedürftige Kinder mit Samaritan’s Purse packen. Im Jahr 2020 wurden weltweit 9.123.202 Schuhkartons auf diese Weise verpackt. Einige davon auch mit christlichen Botschaften. Trotz der Missionierungsversuche finde ich die Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“ auch irgendwie gut. Menschen kommen zusammen, um anderen Menschen eine Freude zu bereiten. Dabei versetzen sie sich in die Lage der Kinder, um ihnen das bestmögliche Geschenk bereiten zu können. Gleichzeitig ist die Arbeit in der „Weihnachtswerkstatt“ eine Art Spiegel. Ein Spiegel, der uns das Bild unseres eigenen privilegierten Lebens vor Augen hält. Ob man die Hilfsorganisation nun dabei unterstützen möchte, andere Menschen, in diesem Fall die empfangenden Kinder zum Glauben zu bewegen, muss jede:r für sich selbst wissen. Ich kann nur für mich sprechen, wenn ich sage, dass ich es noch einmal tun würde. Als Helferin fühlte ich mich nicht missioniert. Ich hatte das Gefühl, kommen und gehen zu können, wann ich möchte und auch beim Befüllen der Pakete konnte ich bis auf ein paar wenige Ausnahmen selbst entscheiden, was hinein kommt. Ich war frei. Aber warum habe ich das Gefühl, dass es Menschen gibt, die Schuhkartons erhalten, denen es nicht so geht?
* Teilnehmen könnt ihr noch bis zum 21. Dezember 2021. Hier geht’s zur Anmeldung.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.