Samstag Nacht 00.30 Uhr in Berlin: Die Straßen sind voll. Manche sind auf dem Weg in die nächste Bar oder auf dem Sprung zum Club, andere sehen so aus, als wäre es Zeit, für sie nach Hause zu gehen. So oder so ähnlich kennen das wohl die meisten von uns. Nicht im November, der sieht ein wenig anders aus. Am 02.11 wurde das öffentliche Leben in Deutschland weitestgehend runtergefahren. Restaurants verkaufen nur noch To-Go, die Bars sind komplett dicht. Wir, Viktoria und Anne, haben mal geguckt, wie sich die Berliner*innen während des zweiten Lockdowns verhalten. 

Es ist das erste Wochenende des zweiten Shutdowns und die Abendprogramme werden einsam. So ziehen auch wir heute nicht zu zehnt in den Club, sondern zu zweit zum gemütlichen Abendspaziergang. Vielleicht schaffen wir ja auch so wieder einmal die 50.000 Schritte. Eingepackt in unsere dicken Wintermäntel, bewaffnet mit Masken und reichlich Neugier starten wir unser Abenteuer auf der Karl-Marx-Straße. Hier, wo sich sonst Mensch an Mensch drängt, ist kaum etwas los. Was uns sofort auffällt, sind die in rot durchgestrichenen Bodenmarkierungen Masken zu tragen. Lachen oder weinen, diese zwei Optionen bietet das grafische Meisterwerk.

Ähnlich betrübt sind wir über die leer gefegten Straßen. Dabei waren wir uns so sicher, dass wir nach den ersten Metern auf Leute treffen würden, die dem Drang des Exzesses nicht widerstehen können. Wenige Minuten später wird uns bewusst, dass das gar nicht so wahrscheinlich ist, wie wir dachten. Die Straßen sind wie ausgestorben. Ab und zu fährt ein Fahrrad oder Auto vorbei. Die einzigen Lichter, die brennen, sind die Laternen oder Leuchtreklamen von geschlossenen Läden. Umso aufgeregter sind wir, als wir den ersten Passanten hinter uns bemerken. Ein junger Mann, der sich dazu bereit erklärt, bei einer Zigarette mit uns zu plaudern. Was mit euphorischen Gefühlen beginnt, schlägt schnell in Nüchternheit und Mitgefühl um. Er erzählt, dass er gerade auf dem Nachhauseweg von ein paar Kumpels ist, ursprünglich kommt er aber aus Polen. Seinen Job als Video Editor hat er aufgrund der Corona-Maßnahmen verloren und sein Erspartes reicht noch für einen weiteren Monat. Die Beschränkungen kann er nachvollziehen, fährt er fort, aber danach wird nichts mehr so sein wie zuvor. Zurück nach Polen kann er gerade nicht, seine ganze Familie hat sich mit Corona infiziert und seine Mutter liegt wegen Corona im Koma. Wenn wir jetzt an die durchgestrichenen Masken denken, fällt uns noch eine dritte Option ein, nämlich kotzen.

Die Luft fühlt sich plötzlich noch ein bisschen kälter an und mit einer gedrückten Stimmung setzen wir unsere Route über den Hermannplatz Richtung Kottbusser Tor fort. Auf unserem Weg sprechen uns zwei junge Männer an, ob wir wissen, wo eine Bar oder ähnliches ist. „So ein Mist“, antworten sie nur, nachdem wir ihnen erklären, dass nichts auf hat und wir nicht wirklich weiterhelfen können. Um die Stimmung zu heben, machen wir einen Boxenstopp bei einem Fotoautomaten. Fun Fact: Sogar die sind vorbildlich mit Handdesinfektion ausgestattet und ein Zettel ermahnt, zwei Meter Abstand zu halten.

Fun at work

Es ist gegen halb zwei, als wir den Späti an der Ecke Mariannenstraße/Skalitzer Straße betreten. Normalerweise wäre das eine Zeit, zu welcher man Ewigkeiten warten müsste, um das Weg-Bier zum Club zu bezahlen. Allerdings sieht das gerade ganz anders aus, denn nach 23 Uhr herrscht ein striktes Ausschank- und Verkaufsverbot von alkoholischen Getränken. Viktoria probiert Carlo, den Besitzer des Spätkaufs, mit ein wenig Augenzwinkern und klimperndem Kleingeld zu überreden uns noch ein Bier zum Aufwärmen zu verkaufen. Doch keine Chance. Er sagt, dass seit dem Verbot kaum noch was los ist. „Das Problem ist, die brauchen immer Alkohol”, sagt er und grinst verschmitzt. Wie sinnvoll jedoch die Maßnahme ist, ein Alkoholverbot zu etablieren, sei einfach mal so dahingestellt.

Von der Schillingbrücke kommend wenden wir Richtung Ostbahnhof. Natürlich können wir nicht anders, als das Berghain während des Lockdowns zu besuchen. Zu “normalen” Zeiten wären wir hier auf eine endlos lange Schlange getroffen und selbst ohne den schwarzen Trauerzug ist die Situation ein reines Trauerspiel. Heute gibt es keine Line draußen und auch nicht drinnen. Es ist ein komisches Gefühl, vor dem stummen Betonklotz zu stehen. Ist es egoistisch, dass wir Feiern, die Musik und das Tanzen vermissen? Vermutlich. Haben diese Gefühle eine Berechtigung? Auf alle Fälle. Clubs sind ein Ort der Begegnung, des sich Verlierens und Wiederfinden. Ein Ort der für viele auch der Weg zur Arbeit ist. Mit der Frage: „Welchen Wert hat Kultur in unserer Gesellschaft?”, verlassen wir den Technotempel und finden uns auf der Warschauer Straße wieder.

Die Warschauer Straße befindet sich direkt neben dem RAW Gelände, welches fast nur aus Bars und Clubs besteht und von verschiedensten Snack-Möglichkeiten umkreist ist. Doch auch die haben zurzeit nicht offen. Es ist ein fast schon beklemmendes Gefühl, die Hauptstadt so ausgestorben zu sehen. Normalerweise drängt sich das Leben durch diesen Ort. Jetzt können wir froh sein, wenn wir in einem Radius von 250 Metern nicht die einzigen Personen im Umkreis sind.

Nachdem wir die Oberbaumbrücke überqueren, erreichen wir den Wrangelkiez, der ohne seine bunten Lichter und sein wildes Treiben gar nicht wiederzuerkennen ist. Sonst sucht man hier vergeblich nach einer Bar, in welcher noch genügend Platz ist, doch gerade herrscht unheimliche Stille. Ähnlich sieht es in den Bahnen aus. Während man sonst eine Heimfahrt mit Varieté bekommt, hat man jetzt die freie Platzwahl.

Schockiert und auch ein bisschen ratlos kommen wir bei unserem letzten Stopp an: dem Görlitzer Park. Gerade an den Wochenenden gilt der Park als hochbesuchter Umschlagplatz, an dem sich Erwachsene ihr Spielzeug fürs Wochenende besorgen. Normalerweise versucht man hier seinen Blick entweder auf einen Punkt am anderen Ende des Parks zu fokussieren oder man beobachtet angestrengt den Dreck auf seinen Schuhen. Die Devise lautet: Keine Reaktion und unter gar keinen Umständen Augenkontakt herstellen! Heute jedoch ist es ein Park wie jeder andere, und wenn es nicht stockdunkel wäre, könnten wir vermutlich auch zum ersten Mal den Park richtig betrachten. “2020 ist bis jetzt wie Koks, dass man im Görli kauft. Erst freut man sich darauf und dann ist im Baggy nicht mehr als Salz drinnen,” dieser Vergleich scheint ganz passend. Mit mittlerweile kalt geworden Füßen entscheiden wir uns dazu, zurück nach Hause zu gehen.

Zugegeben, der Verlauf der Nacht kam überraschend. Sind wir mal ehrlich: Wir haben schon damit gerechnet, ein paar Leute zu treffen, denen die derzeitigen Maßnahmen egal sind. Wir wurden also eines Besseren belehrt. Wir können nicht ausschließen, ob es am Wetter liegt, dass vergleichsweise kalt ist, oder daran, dass dazugelernt wurde. Tja, Netflix und Chill, die Welt steht ganz offensichtlich still. Zumindest im Osten Berlins. Manchmal fragen wir uns, ob Corona der Anfang vom Ende ist oder ob das Ende zwei Anfänge hat. Wir reiten schließlich gerade die zweite Welle, doch vielleicht schaffen wir es diesmal bis ans Ufer. Bleibt gesund, eure Verpeilten.

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