WARNUNG: Das Folgende thematisiert Krebs und Tod.
So richtig angefangen hat dieser ganze Krebs-Wahnsinn, als ich in der 11. Klasse war. In der Zeit erkrankte der Vater meiner besten Freundin an Lungenkrebs. Ich weiß noch genau, wie sie mir von der Diagnose erzählte: Wir beide standen vor der ersten Stunde vor dem Unterrichtsraum, als sie mir ganz neutral berichtete, dass sie die Bestätigung bekommen haben, dass ihr Vater krank ist und er wohl nicht mehr länger als drei Monate zu leben hat.
Dann, ein paar Monate später, war es bei mir so weit. Zuerst starb mein Opa im Februar 2017 kurz vor meinem 18. Geburtstag. Ich war also schon sehr vorbelastet von diesem ganzen Sterbe-Thema – und noch im gleichen Monat bekam mein Vater einen starken Husten, der zunächst als Lungenentzündung diagnostiziert wurde. Der Husten meines Vaters schwächte zwar aufgrund der Behandlung zeitweise ab, blühte gegen Sommer aber wieder richtig auf. Ich war damals so genervt von diesem Husten! Es war unmöglich, mit meinem Vater irgendwo hinzugehen, weil er eigentlich überall mit seinem Husten gestört hat. Gleichzeitig nahm mein Vater rapide ab; er bestand nur noch aus Haut und Knochen. Die Hausärztin meines Vaters diagnostizierte zwar lächerlicherweise immer noch eine Lungenentzündung – ganz ehrlich: Jede Person konnte erkennen, dass das keine Lungenentzündung mehr war. Aber meine Mutter überredete meinen Vater zum Glück, sich doch noch mal woanders durchchecken zu lassen, sodass er von Ärzt:innen zu Ärzt:innen lief. Ein Arzt wurde skeptisch, als mein Vater die Gewichtsabnahme erwähnte. Es wurden viele Tests gemacht und dann kam – endlich! – die Diagnose kurz nach meinem Abi im Juni 2017: Nierenkrebs, der in die Leber und die Lunge gestreut hat.
Ich bin ganz ehrlich: Von den ganzen Untersuchungen und der Diagnose wollte ich damals nichts mitbekommen. Wahrscheinlich, weil ich das alles nicht wahrhaben wollte und dachte, dass alles schon wieder werden wird und ja gar nicht so schlimm ist. Aber nach der Diagnose gab es nur Chaos. Meine Mutter drehte komplett am Rad. Sie hatte plötzlich enorme Geldsorgen, weil sie uns beide nicht alleine versorgen konnte, falls mein Vater sterben würde. Und natürlich hatte sie einfach nur Panik um meinen Vater. Sie wirkte – jetzt rückblickend betrachtet – eigentlich gar nicht mehr richtig anwesend, sondern hatte nur noch Sorgen im Sinn. Aus Überforderung rief sie bei meiner Kinder- und Jugendtherapeutin an und machte – ohne mein Wissen – einen neuen Termin für mich, obwohl ich eigentlich schon austherapiert war. Eine Aussage meiner Mutter mir gegenüber, die mir im Kopf geblieben ist, war: „Kümmerst du dich dann um mich, wenn Papa stirbt?“ Ich weiß nicht mehr, was ich darauf geantwortet habe, aber ich glaube, in dem Moment habe ich realisiert, in was für einer scheiß Situation wir steckten. Wie sollte ich mich alleine um alles kümmern?! Mein Vater wurde nach der Diagnose relativ schnell krankgeschrieben, was finanziell zwar schon eine Umstellung war. Trotzdem kamen wir noch gut über die Runden. Zumindest haben meine Eltern versucht, alles von mir fernzuhalten, was ich als große Belastung empfand. Später im Juli wurden meinem Vater dann die befallene Niere und die Nebennieren entfernt. Im August begann die erste Therapie mit dem Medikament Sutent, das er in Form von Tabletten einnahm. Es half zwar gegen die Metastasen in der Leber, aber nicht gegen die in der Lunge.
Nicht nur zwischen meinen Eltern und mir wurde es komplizierter, sondern auch zwischen meinen Freund:innen und mir. Den wenigsten erzählte ich selbst von der Diagnose meines Vaters. Die einzige Person, mit der ich sofort gesprochen habe, war meine beste Freundin. Sie wusste einfach, wie sich die Situation anfühlt und versuchte nicht, mir diese irgendwie schön zu reden. Stattdessen nahm sie diese an, wie sie eben war – nämlich richtig scheiße! Wenn wir uns trafen, schimpften wir oft über diesen beschissenen Krebs oder heulten rum, was so nötig war, um den Stress irgendwo rauszulassen. Mit vielen anderen Freund:innen hab ich später den Kontakt mehr oder weniger freiwillig abgebrochen. Dadurch, dass viele nach dem Abi ein Studium anfingen oder weggezogen sind, hatten sie keine Kapazitäten mehr, sich um eine durchdrehende Freundin zu kümmern, so fühlte es sich zumindest für mich an. Weil ich meine Emotionen nicht sortieren konnte und mich dadurch nicht verständlich ausdrückte, verwandelten sich manche Diskussionen in gigantische Streitereien, die nie geklärt wurden. Seitdem gehen wir getrennte Wege. Ich habe mich oft gefragt und frage mich das häufig immer noch, was ich meinen Freund:innen damals angetan habe; warum ich ihnen anscheinend egal war. Als der Vater meiner besten Freundin erkrankte, haben sich alle um sie gekümmert, wollten sie ablenken. Für mich war kaum jemand des gleichen Personenkreises da. Ich habe zwar etwas Gras über die ganze Sache wachsen lassen, aber richtig verziehen habe ich ihnen nie. Heute weiß ich, dass ich nie wieder mit diesen ‚Freund:innen‘ eng befreundet sein kann. Sie haben mich in der dunkelsten Zeit meines Lebens im Stich gelassen, obwohl ich sie so sehr gebraucht hätte. Das prägt.
Jetzt suche ich mir meine Freund:innen bewusster aus. Lieber wenige und dafür richtig gute Freund:innen, auf die ich zählen kann und die immer auf mich zählen können – zumindest hoffe ich, dass sie so auch über mich denken. Naja, jedenfalls war ich damals einfach nur noch ein emotionales Wrack: Total launisch, ich wollte mich mit Partys ablenken und ging auch viel zu oft trinken. Ich habe anscheinend irgendwie versucht, mich auf diese Art und Weise abzulenken, was alles nur noch schlimmer gemacht hat. Denn eigentlich war ich total ausgelaugt und leer. Ein Wunder, dass ich in dieser Zeit mit meinem Freund zusammengekommen bin. Im August begann ich außerdem mein FSJ im Kindergarten, was mir zwar viel Spaß bereitete, aber an manchen Tagen wäre ich am liebsten Zuhause geblieben. Ich konnte einfach nicht mehr: Ich habe viel geweint, habe mich oft übergeben und habe mich selbst verletzt, weil ich mir für jede kleine Streiterei die Schuld gegeben habe. Es hat sich einfach total beschissen angefühlt, den eigenen Vater nach und nach sterben zu sehen und zu sehen, wie er leidet.

Und immer dieses Husten. Es hat mich wahnsinnig gemacht. Man wachte morgens auf, hörte dieses Husten und die knallharte Krebs-Realität wurde einem wieder eiskalt ins Gesicht geklatscht. Das Leben fühlte sich abwechselnd entweder wie ein Horrorfilm oder wie ein schlechter Scherz an. Überall stand der Tod im Raum. Und die furchtbar große Angst. Dass es mir so ging, hat nur mein Freund gewusst. Meinen Eltern habe ich nichts davon erzählt, weil ich nicht wollte, dass sie sich noch mehr Sorgen machen.
Obwohl mein Vater sehr unter dem Husten und dem Krebs litt, versuchte er, sich die freie Zeit so schön wie möglich zu machen. Er wechselte zum Beispiel zu einer Hausärztin, die auch auf Krebspatient:innen spezialisiert ist. Auf ihren Rat hin besuchte er eine Kur, bei der er andere Krebspatient:innen kennenlernte, Achtsamkeit gelehrt wurde und er an Psychotherapiesitzungen teilnehmen konnte. Trotzdem war bei uns dreien immer noch der Gedanke im Hinterkopf, dass das Medikament Sutent nicht die Lungenmetastasen vernichtete, sondern dass sich diese immer weiter ausbreiteten. Es stand sehr schlecht um ihn. Dann im November 2017, als mein Papa auf Kur war, rief sein Arzt an und berichtete von einer Immuntherapie mit dem Medikament Nivolumab, das in einer Studie ausprobiert werden sollte. Mein Vater brach seine Kur ab, kam nach Hause und begann sofort die anstrengende Immuntherapie, in der er zunächst wöchentlich eine Infusion bekam. Wir waren alle skeptisch, ob das die richtige Entscheidung war, aber mein Vater hatte ein gewisses Bauchgefühl und auf das mussten wir vertrauen.
Und tatsächlich: Die Therapie schlug an. Die Metastasen entwickelten sich langsam zurück. Da ihm die Psychotherapie in der Kur so guttat, führte er diese dann auch zu Hause weiter fort. Er meldete sich außerdem beim Reha-Sport im Fitnessstudio an, um wieder Muskeln aufzubauen. Er machte den Eindruck, als würde er es richtig genießen, sich und seinen Körper neu kennenzulernen, und feierte jeden noch so kleinen Erfolg im Fitnessstudio. Obwohl nun endlich eine positive Entwicklung zu sehen war, war da diese Panik vor der Ungewissheit. Dies verschlimmerte sich zusätzlich, als der Vater meiner besten Freundin im Sommer 2018 an seinem Krebs starb. Ich hatte absolut kein Vertrauen mehr in die Medizin, entwickelte wieder eine stärkere Angststörung und große Verlustängste. Das ging so weit, dass ich, als ich im März 2019 mit meinem Freund zusammenzog, nicht allein zu Hause bleiben konnte. Ich hatte solche Angst, dass etwas passieren würde, und konnte schlichtweg nichts mit mir anfangen. Es wurde etwas leichter, als ich begriff, dass sich die Metastasen meines Vaters stark zurückbildeten und es ihm besser ging. Er sah nicht mehr halb tot aus. Das war ein hartes Stück Arbeit. Nur der Husten war noch da. Durch die Immuntherapie hatte er starke Nebenwirkungen, sodass er zeitweise noch weitere Medikamente nehmen und sogar eine Atemtherapie machen musste, weil er durch das ständige Husten verlernt hatte, wie man ‚richtig‘ atmet.
Und jetzt, im November 2022, ist mein Vater schon seit vielen Monaten nicht mehr in Therapie und gilt als geheilt. Letztens gab es eine Untersuchung, bei der sein Lungengewebe genau untersucht wurde. Es konnten keine Metastasen mehr gefunden werden. Der Krebs ist besiegt. Kann ich mich über diese Nachricht freuen? Nein. Ich bin immer noch zu skeptisch. Was ist, wenn ein kleiner befallener Abschnitt übersehen wurde und sich der Krebs wieder ausbreitet? Ich glaube, diese Sorge wird nie weggehen und ich realisiere wohl nie ganz, dass mein Vater jetzt wieder gesund ist. Obwohl die Zeit der Krebsdiagnose die schlimmste Zeit meines Lebens war, hat der Krebs auch so einige Vorteile mit sich gebracht: Meine Eltern genießen die Zeit miteinander wieder viel mehr. Sie verreisen zum Beispiel seit einiger Zeit sehr oft und besuchen alte Freund:innen. Und auch ich habe nicht nur eine negative Veränderung hinter mir. Ich bin so viel dankbarer für das Leben und friedvoller geworden. Ich weiß jetzt, wie viel ich mir wert bin und dass mir niemand diesen Wert wegnehmen kann!
Ich erinnere mich an eine Party im Jahr 2017: Ein Bekannter wunderte sich, wo meine beste Freundin blieb und ich sagte ihm, dass sie zu Hause bei ihrem kranken Vater sei. Daraufhin meinte er, dass jede Person den Krebs mehr verdient hätte als der Vater meiner besten Freundin. Zu diesem Zeitpunkt war mein eigener Vater bereits krank. Das wusste der Bekannte nicht, dennoch ist die Aussage aus meiner Sicht völliger Bullshit! Niemand hat Krebs verdient. Egal, was die Person in ihrem Leben für schlechte Dinge getan hat. Krebs ist ein riesiges Arschloch und frisst dich von innen auf. Das wünsche ich niemandem. Entweder man hat Glück im Leben oder halt Pech – so wie mein Vater.
Neben Krebs fühlt sich alles so furchtbar klein und unwichtig an. Und trotzdem macht der Krebs die Probleme gigantisch groß. Noch immer kommt die Krebs-Panik in mir hoch, wenn etwas Negatives in meinem Leben passiert, obwohl es meinem Vater wieder besser geht. Der Krebs wird immer ein Teil unseres Lebens bleiben. Im Sommer höre ich meinen Nachbarn oft durch das offene Fenster husten, wie mein Vater es damals zur Zeit der Diagnose tat. Und jedes Mal läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Doch was mir am meisten zu schaffen macht, ist die Ungewissheit. Bleibt mein Vater gesund oder kommt der Krebs wieder? Mein Papa hingegen hat sich, glaube ich, schon besser mit dieser Ungewissheit angefreundet. Er genießt die Zeit, die er jetzt hat. Mehr könne man eh nicht beeinflussen.
Mein Vater hat nie aufgehört zu kämpfen. Er meinte mal zu mir, dass er es diesem beschissenen Krebs zeigen wird! Hat er getan. Es gibt keine Person auf der Welt, zu der ich so aufblicke wie zu meinem Papa. Ich bin so unfassbar stolz auf ihn!
Autorin: Rieke Morgen, Illustrationen: samirah
Die „blauen Ratgeber“ der Deutschen Krebshilfe bieten viele hilfreiche Informationen für Krebspatient:innen und deren Angehörige. Schau doch mal rein.

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