5 Uhr morgens. Meine Augen schauen auf die beschmierte Unterseite des oberen Bettes. A.C.A.B., nur Gott kann mich retten oder alles oder nix zieren die Fläche. Ich fühle mich fit, obwohl ich nachts immer wieder aufgewacht bin. Die Gedanken schreien. Ich beschließe aufzustehen. Zähne putzen, Kaffee und Zigaretten, die ganz normale Morgenroutine. Noch vier Stunden bis Verhandlungsbeginn. Ich bin unruhig und aufgeregt. Jetzt nur nicht den Kopf verlieren! Heute geht es um viel, genauer gesagt um meine Freiheit, ebenso wie um meine Zukunft.

Ich sitze am Tisch und trinke meinen mittlerweile dritten Kaffee, als die Frühschicht die Zelle aufschließt. Eine junge Beamtin ruft in die Zelle „Guten Morgen Männer“, dabei schaut sie mich an und sagt: „Heute ist ihr großer Tag, wollen Sie nachher noch duschen?“, leicht grinsend antworte ich mit einem ja gerne.

„Kommen Sie, holen Sie sich ihr Frühstück, die Energie werden Sie heute noch brauchen“, lautet ihr Rat, während Sie auf dem Weg zum nächsten Zimmer ist. Der Morgen unterscheidet sich sonst kaum vom gewohnten Trott. 3 Scheiben Brot, je eine Portion Butter und Marmelade, dann wieder Einschluss bis 6.30, der Zeit des Abrückens zur Arbeit.

Als sich mein Zellenkamerad zur Arbeit verabschiedet, nimmt er mich noch kurz in den Arm und wünscht mir ganz viel Kraft, Glück und Gottes Hilfe. In der Ruhe vor dem Sturm drehe ich die Musik auf, bereite meine Kleidung vor und rasiere meinen Bart. Ein guter Eindruck vor Gericht ist das Wichtigste, wie ich bereits bei früheren Gerichtsterminen gelernt habe.

Um 8 Uhr wird die Türe erneut geöffnet, „Sie haben 15 Minuten zum Duschen“. Danach geht alles ganz schnell, duschen, anziehen, Haare machen und los. Im unteren Zellenflur werde ich noch schnell nach gefährlichen Gegenständen durchsucht, dann die Handschellen angelegt und an den Vollzugsbeamten gekettet. Gemeinsam laufen der Beamte und ich durch den Hintereingang in das angrenzende Gerichtsgebäude, wo ich den Wärtern des Landgerichts übergeben werde.

8.50 Uhr – mein Rechtsanwalt wird zu mir in die Zelle des Gerichts gelassen. Nach einer kurzen Besprechung ertönt ein Klingeln, das Signal, das es losgeht.

Die beiden Gerichtsbeamten kommen in den Verwahrraum, legen mir Fußfesseln an und führen mich in den Landgerichtssaal. Ein beeindruckender Saal. Groß, alt und schön verziert, ein bisschen im Barockstil. Die Möbel sind schlicht gehalten aus einfachem Holz. Auf den Tischen stehen Mikrofone und im Zuschauerbereich stehen vier Stuhlreihen. Das Richterpult mit Platz für fünf Personen ist leicht erhöht und die Gesamtatmosphäre drückt eine gewisse Ehrfurcht aus. Beim Betreten des Saals sind alle Augen auf mich gerichtet. Ich sehe Enttäuschung, Wut, Verachtung und Trauer, vor allem innerhalb des Zuschauerranges. Ich fühle mich erdrückt von den Blicken und meinen Gefühlen. Beschämt, dass ich mit Fußfesseln und Beamten den Saal betrete. Beschämt, dass ich die Kontrolle über mein Leben verloren habe.

Die 15 Zuschauer setzten sich aus meiner Familie, einem Freund, Geschädigten bzw. deren Familien zusammen. Links im Saal sitzt mein Anwalt und eine Gerichtsschreiberin. Rechts finden sich Nebenklägervertretung und Staatsanwaltschaft. Auf dem Weg zur Anklagebank schaue ich zu meiner Familie und forme ein wortloses sorry, während meine Augen schon zu brennen beginnen – ja, ich bereue meine Taten. Gerade als ich Platz genommen habe, ertönt ein Gong und alle im Gerichtssaal erheben sich. Der vorsitzende Richter, gefolgt vom zweiten Richter und drei Schöffen, betritt den Saal. Damit ist der Erste von sechs geplanten Prozesstagen eröffnet.

Der erste Richter geht alle Prozessbeteiligten durch und erklärt das Zuschauer, die als Zeugen geladen wurden, den Raum verlassen sollen. Dann übernimmt der Staatsanwalt.

Er eröffnet allen Anwesenden die Anklageschrift; 50 Anklagepunkte, überwiegend Betrugsdelikte. Dabei erklärt er in groben Zügen, wie er zu dem Entschluss kommt, dass ich die Fälle begangen habe und wie die Indizien der Ermittlungen zu mir führten. Dabei überkommt mich ein ungutes Gefühl. In den zwei Jahren Ermittlungszeit hat die Polizei ganz gute Arbeit geleistet.

Im Publikum herrschen derweil viele ungläubige Blicke. Mir, dem augenscheinlich anständigen Kerl, dem Ehemann und Vater, der meist sehr umgänglich und nie arbeitslos war, hätten sie das nicht zugetraut.

An mich gerichtet, fragt der Richter „Wollen Sie sich zu ihrer Person äußern? Und wollen Sie sich zu den Tatvorwürfen äußern?“.  Ich tue mir schwer damit, dem durchdringenden Blick des Richters standzuhalten. Mein Blick schweift zu meinem Anwalt und er unterbricht die Verhandlung – kurze Raucherpause und Lagebesprechung. 

Zurück auf der Anklagebank, erläuterte ich dem Richter, dass ich mich zur Person äußern werde, aber nicht zu den Tatvorwürfen. Beginnend mit meiner Familie starte ich die Aussage. Ich erzähle von meiner beruflichen Laufbahn und berichte über meine Kindheit und den Erlebnissen, die mein Leben geprägt haben. Dem Überfall, als ich ein kleiner Junge war, dem Mobbing, das ich erlebte und auch von den schwierigen familiären Umständen.

Beendet wird die Aussage mit meinem Suchtverlauf, Alkoholismus seit Beginn der Pubertät und die Spielsucht, die letztendlich einen großen Teil zu meinen Taten beigetragen hat. Das fühlt sich an wie eine komplette Entblößung bei der einem zusätzlich die Haut vom Leib gezogen wird. Es musste sein, auch wenn es ein innerer Kampf war, alles vor Zuschauern preisgeben zu müssen.

Am Ende meiner Erläuterung, die einzig durch die Mittagspause unterbrochen wurde, war allen klar: Ich kannte nichts anderes als Doppelleben und war ein Künstler im Verstecken meiner Person. So war der erste Verhandlungstag vorbei und ich mit Kopfschmerzen total erschöpft. Doch es war auch eine riesen Erleichterung zu spüren, diesen Schritt endlich hinter sich gebracht zu haben.

Die Woche bis zum nächsten Prozesstag verging wie im Flug. Nur der Gedanke, wie ich mit den Tatvorwürfen umgehen soll, machte mich jetzt unsicher.

Der zweite Verhandlungstag begann ähnlich wie der Erste. Angekommen auf der Anklagebank waren es diesmal deutlich weniger Zuschauer als zuvor. Aber meine Familie stand bei mir. Heute sollten Zeugen angehört werden, mitunter die Polizei und ein paar der Geschädigten. Während der Richter den Verhandlungstag für eröffnet erklärte, wurde ich gefragt, ob ich mich heute zu den Taten äußern möchte. Nach einer kurzen Absprache mit dem Rechtsanwalt sagte ich zum Richter: „Ich wäre bereit, dem Prozess ein schnelles Ende zu bereiten, wenn wir uns auf eine Vereinbarung einigen würden“. Fragende Blicke waren die Antwort, denn das kam unangekündigt (Normalerweise wird so ein Schritt vorab besprochen). 30 Minuten nach Beginn der Verhandlung erfolgte somit die erste Unterbrechung. Die Strafkammer zog sich zur Beratung zurück.

In Gedanken das weitere Vorgehen durchgedacht, wurde der Prozess nach einer Stunde fortgesetzt. Zugegeben, an diesem Punkt war meine Resignation schon so weit fortgeschritten, dass ich das Verfahren nur noch hinter mich bringen wollte, um endlich Klarheit zu haben. Für mich, meine Familie und die Geschädigten.

Das Gericht erklärte sich bereit, meinem Vorschlag auf einen Deal eine Chance zu geben. „Hohes Gericht“, schallte meine Stimme durch die Boxen des Saales, „Ich wäre bereit, ein vollumfängliches Geständnis abzulegen, unter der Bedingung, das ein paar Anklagepunkte eingestellt werden und wir uns auf ein gerechtes Strafmaß zum Wohl aller Beteiligten einigen“. Mit wachem Blick hob der Staatsanwalt seinen Kopf und bat um eine erneute Unterbrechung – stattgegeben.

Mein Anwalt nickte mir zu, als 30 Minuten später der Staatsanwalt verkündete, sieben Fälle werden ohne Beweisaufnahme eingestellt, 5000 Euro Wiedergutmachung und ein Strafmaß von 3J. 9M. bis 4J. 6M. wären sein Angebot. Ein eisiger Schauer durchgrub mich. Doch stimmten wir dem Deal zu.

Gedankenverloren und appetitlos ging es in die Mittagspause. Und ich wollte nur noch, dass die Tortur ein Ende hat!

Am Nachmittag begann der Prozess dann mit einem Geständnis. „Ich gestehe Anklagepunkt eins bis fünf, sieben bis zwanzig … „ bis ich die 43 übrigen Anklagepunkte abgearbeitet hatte. Das Geständnis kam wie ferngesteuert aus mir. Ich hatte keine Kraft mehr um weiter zu prozessieren, obwohl es nur ein Haufen Indizien und keine direkten Beweise waren. Um das Geständnis zu untermauern, wurden dann noch zwei der Ermittler und ein Sachverständiger in den Zeugenstand gerufen. Eine Tafel mit einer Zeitleiste veranschaulichte wie das Beweismaterial zu mir führte.

Dann rief der Richter zum Schlussplädoyer auf. Der Staatsanwalt erläuterte seine Sicht und forderte die abgemachte Höchststrafe und mein Rechtsanwalt forderte im gleichen Zug die Mindeststrafe. Sogleich das Wort auch an mich. Übermannt von meinen Gefühlen entschuldigte ich mich bei den Opfern für meine Taten, bei meinen Kindern, dafür, dass ich nicht da war und es die nächste Zeit auch nicht wirklich kann und bei meiner Frau, dass ich Sie im Stich gelassen habe. Es zerriss mir das Herz. Doch insgeheim wusste ich, ich habe es verdient. Ich war unfassbar wütend auf mich selbst.

Das Urteil gab meiner Familie und mir dann den Rest. Dieses Gefühl wenn der Richter verkündet: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil“, ist unbeschrieblich. Wie wenn der Boden verschwindet und man einfach fällt, und fällt, und fällt.

Fast vier Jahre sind eine verdammt lange Zeit, in der viel geschehen kann. Alles verändert sich mit einem solchen Urteil. Ich hätte nie geglaubt, dass sich in dieser Zeit so viel bewegen kann.

Justizvollzugsanstalt
08. Februar 2021
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Anmerkung der Redaktion: Bei “Notizen aus der JVA” handelt es sich um eine Reihe, die von einem anonymen Gastautor verfasst wird. Wie der Titel bereits verrät, befindet sich dieser in der Justizvollzugsanstalt, wo er seit 2019 seine Strafe wegen Betrugs absitzt. Weil er seine Zeit im Gefängnis sinnvoll verbringen möchte und im Besitz eines Smartphones ist, bewarb er sich bei uns, um sein Können als Autor unter Beweis zu stellen. Weitere Teile folgen. 

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE. 

ILLUSTRATION: MORITZ GRUNEWALD

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Notizen aus der JVA: Tage der Ungewissheit – Teil 2

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