Vor fünf Jahren wohnte ich für einige Zeit in einem Wohnwagen auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs in Köln Ehrenfeld. Da das Gelände für jeden frei zugänglich war, kamen immer wieder Menschen vorbei, auch nachts. In der ersten Nacht, nachdem ich eine Woche lang nicht da war, hörte ich Schritte und leises Gemurmel vor der Tür meines Wagens. Kurz zuvor hatte mir meine Freundin eine Knüppelfahne zum Geburtstag geschenkt. Damals war dies eher als Gag gedacht und weniger zur Verteidigung. Doch ich folgte einem Impuls, als ich danach griff, um dann in Unterhosen die Tür zu öffnen.

So lernte ich André Salentin kennen, der sich bereits seit einer Woche in einem ausrangierten T3 direkt neben mir einquartiert hatte. Die folgenden vier Monate bildeten wir in gewisser Weise eine Wohngemeinschaft ab. Die Gründe für unseren Zusammenschluss waren dabei sehr unterschiedlich. Ich hatte gerade mit meinem Studium begonnen und musste Geld sparen. André war seit einigen Jahren gegen seinen Willen obdachlos.

Wo ich mich aus strategischen Gründen gegen eine Wohnung entschieden hatte, war André verzweifelt auf der Suche nach einer festen Bleibe. So zog er Nacht für Nacht mit seinem in Rollrasen verkleideten Fahrrad los, um nach Wohnungen zu suchen, was mir absolut rätselhaft war.

Blicke ich heute auf diese Situation zurück, kommt mir mein Vorschlag an ihn, doch mal bei ImmoScout nach einer Wohnung zu schauen, recht naiv vor. Ich hatte mich nie mit Hausbesetzungen oder Obdachlosigkeit auseinandergesetzt, weswegen ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstand, was André mit seiner Art der Wohnungssuche meinte.

Unsere Wege trennten sich, als das Geländes des alten Güterbahnhofs geräumt wurde, um dort das „Pandion – 5 Freunde“ – Quartier zu errichten. Das war das erste Mal, dass ich den für mich bis dahin abstrakten Prozess der Gentrifizierung am eigenen Leib zu spüren bekam. Auch wenn ich zu dieser Zeit freiwillig den Bezug einer regulären Wohnung verweigerte und daher nicht wirklich von Obdachlosigkeit betroffen war, spürte ich doch das beklemmende Gefühl, vertrieben zu sein, ohne zu wissen, wohin man soll.

So landete ich mit meinem Wohnwagen auf einem Gewerbehof in Köln Niehl und André verschwand im Gewimmel der Stadt und für lange Zeit aus meinem Gedächtnis. Daher dauerte es eine Weile, bis ich den Namen „André Rollrasen“ zuordnen konnte, der vor einem Jahr und sehr plötzlich auf meinem Display erschien.

Seit wir uns damals in Ehrenfeld getrennt hatten, war ich noch zwei weitere Male mit dem Wohnwagen umgezogen und endete in einem WG-Zimmer, welches ich allerdings ebenfalls zeitnah verlassen musste, da auch hier gebaut und saniert wurde. Ich wunderte mich also, als André sich zu diesem Zeitpunkt bei mir meldete, um mir ein Zimmer in seiner Hausbesetzung anzubieten.

Zu der Zeit erreichte die Pandemie Köln und die Anweisung der Oberbürgermeisterin war, zuhause zu bleiben. Da André wie ca. 46 000 weitere Menschen in NRW kein Zuhause hatte, beschloss er, das fünfstöckige Haus auf dem Großmarktgelände in der Südstadt in stillem Alleingang zu besetzen und die freien Zimmer an Obdachlose zu verteilen. So bildete sich das OMZ (Obdachlose mit Zukunft) und hat sich bis heute als innovatives Wohnprojekt von Obdachlosen für Obdachlose halten können. Ich bin Andrés Einladung damals gefolgt und für zehn Monate in das Projekt gezogen, um den Prozess fotografisch zu begleiten.

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Text und Fotografien © Philip Mallmann „Obdachlose mit Zukunft“ 2020

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