Es gibt Fragen, die mir als Journalistin seit Beginn meiner Krebstherapie auf der Seele brennen: Schleicht bei Onkolog:innen auch die Angst mit, selbst an Krebs zu erkranken? Wie fühlt sich das Übermitteln einer Krebsdiagnose an? Und wie stellen sich Ärzt:innen die Nebenwirkungen einer Chemotherapie vor? Frau Dr. Ruth von Rottkay ist Oberärztin in einer Berliner Klinik für Senologie. Was übersetzt bedeutet: Sie behandelt Brustkrebspatient:innen. Ungefähr 650 solcher Patient:innen, darunter auch mich, begleitet die Onkologin jährlich von der Diagnostik über die Chemotherapie bis hin zur operativen Therapie.
Ich wollte mit ihr sprechen, weil ich von ihr erfahren möchte, wie es ihr als onkologische Ärztin damit geht, täglich an Krebs erkrankte Menschen zu behandeln und oft im Grenzland zwischen Leben und Tod zu arbeiten.
Einen Termin mit Dr. Rottkay zu vereinbaren war nicht einfach, denn die Ärztin ist auch Senior Mammaoperateurin in einem zertifizierten Brustzentrum und dementsprechend viel beschäftigt. Vormittags sei jedoch ein guter Zeitpunkt für ein Interview, hatte sie mir auf meine Mail geantwortet, und so fand das Gespräch Anfang Januar gegen 12 Uhr über Zoom statt. Es gibt keine Frage, auf die Dr. Ruth von Rottkay nicht antwortet, nie wirkt sie irritiert oder abwesend. Zwischendurch klopft die Sekretärin an, weil die nächste Operation bereits auf sie wartet. Doch meine Ärztin bleibt gelassen und wir führen ein 50-minütiges Interview.
DIEVERPEILTE: Frau Dr. von Rottkay, seit wann behandeln Sie Brustkrebspatient:innen und wieso haben Sie sich für dieses Brustzentrum entschieden?
Dr. Ruth von Rottkay: Ich mache das Ganze jetzt schon seit 2015 – bin also schon relativ lange dabei und bin auch Senior Mammaoperateurin, was für die operative Expertise eine aussagekräftige Qualifizierung hier bei uns im Haus ist. Ich mache das sehr gerne, weil ich es sehr schön finde, die Patient:innen von Anfang bis Ende zu betreuen. Deswegen bin ich auch hier in dieser Klinik angeschlossen, weil es nicht so viele Krankenhäuser gibt, wo man die Patient:innen auch unter Chemotherapie betreut. Und bei uns gehört eben alles zusammen, das mag ich.
Die Onkologie ist ein medizinisches Fach, in dem Ärzt:innen und Patient:innen dem Tod oft besonders nahe kommen. Warum haben Sie es gewählt?
Bei Brustkrebs ist es so, dass das Nah-am-Tod-Sein nicht ganz so schlimm ist wie bei anderen Krebserkrankungen. Es gibt onkologische Stationen, die sicherlich viel schlimmer sind, die jetzt auch nicht unbedingt meine erste Wahl für den Beruf gewesen wären. Bei Brustkrebs kann man sehr viel mehr machen. Natürlich bleibt es eine Krebserkrankung, aber therapeutisch gesehen haben wir hier viele Möglichkeiten. Das bedeutet, dass wir Patient:innen solange mitbetreuen können, dass wir den Tod eigentlich nur sehr selten sehen. Natürlich spielt das bei uns im Alltag auch eine Rolle und gehört dazu, aber es ist jetzt nicht so, dass es mein tagtägliches Brot ist.
Sondern?
Mein tagtägliches Brot ist es, den Leuten aus der für sie ausweglosen Situation zu helfen und ihnen zu zeigen, dass wir ganz viele Therapiechancen haben. Und dass eine große Möglichkeit besteht, den Krebs auch noch mal zu besiegen. Das ist es, was ich im Bereich der Senologie so schön finde: Brustkrebs bedeutet eben nicht immer gleich, dass es sich um eine infauste Prognose handelt und man nichts mehr machen kann. Anfangs habe ich auch im Kreißsaal mitgearbeitet, der eigentlich an die Gynäkologie angeschlossen ist. Da habe ich schon manchmal gesagt: Freud und Leid liegen in unserem Beruf sehr nah beieinander.
Wie meinen Sie das?
Wenn man beispielsweise ein Kind auf die Welt gebracht hat, was ja für die meisten Leute eine große Freude ist und ich im nächsten Moment zu einer anderen Patientin gehen muss, um ihr zu sagen, dass sie Brustkrebs hat – das ist dann schon hart. Doch es war auch bereichernd an dem Fach, dass man Freud und Leid so nah beieinander hatte.
Aber geblieben sind Sie nicht?
Irgendwann habe ich mich dazu entschlossen, mich auf die Senologie zu spezialisieren. Da ist das Leid dann natürlich ein bisschen mehr, aber nicht so, dass es meinen Alltag derart bestimmt, dass ich jeden Tag infauste Prognosen übermitteln muss.
Durch Ihren Beruf sind sie quasi so etwas wie eine Heldin für uns Krebspatient:innen. Sie haben mir damals ja meine Diagnose gegeben und damit wurden Sie für einen kurzen Augenblick zu einem der wichtigsten Menschen für mich, – weil mein Leben gefühlt auf der Kippe stand. Sie haben mir einen Weg aufgezeigt, auch wenn ich ihn damals noch nicht als einen solchen sehen konnte, wie ich mein Leben retten kann. Das hat mir Hoffnung gegeben. Wie ist das für Sie selbst, wenn Sie solche Krebsdiagnosen übermitteln?
Das geht mir schon manchmal nahe und ich nehme dann natürlich auch mental viele Patient:innen mit nach Hause. Ich sag mal, wenn Patient:innen in einem jungen Alter sind oder auch wenn ich mich mit den Patient:innen identifizieren kann, weil sie halt im selben Altersdurchschnitt sind wie ich selbst, dann fange ich schon manchmal an, die eigene Brust abzutasten. Auch ich habe Angstgefühle und denke manchmal: Vielleicht trifft es dich ebenfalls irgendwann. Das ist schon schwierig. Aber es lohnt sich dafür, den Patient:innen aus dieser ausweglosen Situation herauszuhelfen und ihnen einen Weg aufzeigen zu können. Ich bringe ihnen näher, welche Therapiemöglichkeiten es gibt – und dabei mitzuverfolgen, wie die meisten Patient:innen sich dadurch entwickeln, ist ja dann das Schöne daran.
Inwiefern?
Dass sie aus dieser aussichtslosen Situation heraus selbst wieder Licht sehen und sagen: Jetzt habe ich die Chemo bald geschafft – dann kommt die Operation. Das ist ein Schritt, vor dem viele Angst haben. Wenn die OP dann rum ist, merkt man erst, dass bei vielen ein Stein abfällt. Dann habe ich das Gefühl: Jetzt konnte ich wirklich helfen und man spürt, dass die Patient:innen zu sich selbst zurückfinden beziehungsweise wieder bei sich angekommen sind. Sie haben wieder Pläne für ihr weiteres Leben – das Leben nach der Krankheit. Die Überbringung der Diagnose ist nicht ganz so einfach in unserem Beruf. Das ist jetzt nicht das, was man als Ärztin am liebsten macht, aber es gehört dazu und wenn man vorausschauend an das Ziel denkt, dann ist es akzeptabel, weil man weiß, welcher Weg kommt. Wir haben den Vorteil, dass wir den Weg kennen.
Gibt es denn etwas, was Sie von Ihren Patient:innen lernen?
Bei vielen zieht eine Dankbarkeit fürs Leben ein. Bei vielen sehe ich, dass sie sich durch die Erkrankung auf die wesentlichen Dinge im Leben konzentrieren. Das geht in unserer Gesellschaft manchmal ein bisschen verloren. Und das ist es, was man selbst wieder lernt. Manchmal komme ich morgens zur Arbeit und denke: Was ist das heute alles für ein Scheiß? Heute Morgen hat irgendwie gar nichts geklappt und meine kleine Tochter wollte nicht in die Kita – und dies war blöd, und das war blöd. Doch durch meine Arbeit mit den Brustkrebspatient:innen lerne ich, mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wenn man tagtäglich gespiegelt bekommt, was im Leben tatsächlich wichtig ist, fällt es viel leichter, Dinge umzusetzen.
Wenn eine Krebsdiagnose etwas Gutes hat, dann das.
Ich meine, ich bin froh, dass ich keine solche Diagnose habe, um mich auf das Wesentliche in dem Sinne konzentrieren zu können. Da helfen mir die Patient:innen doch sehr deutlich, indem sie mir täglich den Spiegel vorhalten und sagen: Es ist wichtig, sich aufs Wesentliche im Leben zu konzentrieren. Und es ist auch interessant zu sehen, dass viele Patient:innen erst mal mit einer Gleichgültigkeit reinkommen. Dass sie noch gar nicht so begriffen haben, was die Krankheit eigentlich für sie bedeutet. Da muss man viel weiter vorne anfangen, als jetzt bei einer Patientin wie Ihnen, die eigentlich schon für sich selbst das Schlimmste erwartet. Hier fange ich den Austausch an einem ganz anderen Punkt an als bei Patient:innen, die noch nicht ganz begriffen haben, was die Diagnose im Einzelnen für sie bedeutet.
Wie meinen Sie das genau?
Sie denken halt, der Tumor ist wie ein Pickel – und den Pickel machen wir jetzt weg und dann ist alles gut. Dabei ist es eine Diagnose, die einen bis zum Rest des Lebens begleiten wird, – weil sie ja immer im Kopf bleibt und in der ersten Zeit regelmäßig Nachsorgetermine wahrgenommen werden müssen. Da bleibt eben auch die Angst bestehen, dass der Krebs wiederkommen kann und so etwas. Das ist manchen Leuten gar nicht bewusst. Sie denken jedoch häufig: Machen Sie den Tumor jetzt mal weg, dann lebe ich mein ganz normales Leben weiter und das wird mich auch in keiner Weise einschränken. Und da muss man dann doch sagen: So ein paar Einschränkungen bringt eine Krebsdiagnose schon mit sich.
Ich habe von anderen Betroffenen mitbekommen, dass sie, wie Sie eben sagen, die Angst vor einer erneuten Erkrankung mit in ihr Leben genommen haben und deshalb auf gewisse Risiken wie einen Jobwechsel, Umzug oder gar ein neues Umfeld aufzubauen, verzichtet haben, weil sie wissen, Sie sind nun abhängig von stabilen Faktoren.
Das glaube ich. Es kommt vor, dass man sich auf solche Sachen konzentriert, die einfach wichtiger sind. Wenn man sagt: Ich stelle jetzt meine Gesundheit auf das oberste Level meiner Prioritätenliste, ist meine Familie oder der Job dann vielleicht gar nicht mehr so wichtig wie zuvor. Wir haben auch viele Patient:innen, die sagen: Ja, also hier kann ich nicht, da habe ich einen ganz wichtigen Termin im Job. Oder bezüglich der Operation: Da ist bei mir beruflich gerade eine Hochphase und die Chemotherapie kann ich zu dem Zeitpunkt gar nicht machen, weil dann könnte ich ja meinen Job nicht mehr ausüben. Diese Patient:innen muss man dann halt abholen, wo sie stehen.
Und was sagen Sie dann darauf?
Ja, das ist nicht immer leicht. Wir haben auch Patient:innen, die sich gegen eine Therapie entscheiden. Sie sagen, sie können das nicht mit ihrem Privat- oder Berufsleben vereinbaren – sie machen keine Chemotherapie. Und das ist für Ärzt:innen eine schwierige Situation, den Patient:innen-Willen zu akzeptieren und sich selbst zu sagen: Okay, sie/er möchte die Therapie einfach nicht. Das ist eine Entscheidung, die man akzeptieren muss. Wir bieten in einer solchen Situation mehrere Gespräche mit verschiedenen Ärzt:innen und Therapeut:innen an, um dadurch wenigstens den Versuch zu gewährleisten, die Patient:innen auf einem anderen Standpunkt abzuholen.
Wie kommunizieren Sie das?
Wir klären die Patient:innen umfassend auf, indem wir aufzeigen, was die Chemotherapie bewirkt und was passieren kann, wenn man sie nicht antritt.

Was passiert denn, wenn man die Chemo jetzt nicht antreten würde?
Das ist von Patient:in zu Patient:in ganz individuell und auch abhängig vom Tumor, den man behandelt. Aber irgendwann, wenn man eine Chemotherapie nicht macht, kommt es ziemlich sicher dazu, dass der Tumor immer weiter wächst und irgendwann durch die Haut bricht. Dies nennt man exulzerierendes Mammakarzinom. Dann kann man den Tumor auch von außen sehen und es kann zu Blutungen kommen – das ist das lokale Problem, das auftreten kann. Des Weiteren kann es zu einem Lymphabfluss-Problem kommen, weil die Lymphknoten in den Achselhöhlen mitwachsen. Irgendwann kriegt man dann Metastasen an den Organen, was zu Ausfallerscheinungen führt, was bedeutet, dass die Leber nicht mehr richtig funktioniert oder die Knochen nicht mehr stabil sind, wenn man ossäre Metastasen hat. Das verursacht starke Schmerzen, und wenn die Metastasen im Kopf angekommen sind, leiden die Patient:innen unter Schwindelanfällen oder Gedächtnisverlust. Das kommt natürlich alles erst spät und es kommt immer auf den Tumor an.
Kommt das oft vor?
Viele Leute kommen erst sehr spät zu uns, wenn der Tumor schon so stark blutet, dass sie es gar nicht mehr aushalten können. Das ist vor allem in der älteren Bevölkerungsgruppe so. Die Leute sind äußerlich relativ gepflegt und dann machen sie die Bluse auf und man hat das Gefühl, das ist schon zehn Jahre da oder so. Sie haben sich einfach nicht getraut, viel früher ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das passiert, wenn man überhaupt keine Therapien macht – dann schreitet das Wachstum des Tumors einfach immer weiter fort und er treibt dann irgendwann im ganzen Körper sein Unwesen. Das ist es, was wir auf jeden Fall vermeiden wollen, indem wir die Therapien machen.
Am Tag meiner Diagnose habe ich mit einer Freundin telefoniert. Als ich ihr davon erzählte, dass ich eine Chemo machen muss, fing sie an zu weinen und bat mich darum, mich doch mal nach alternativen Heilmethoden umzuschauen, quasi, um die Chemo zu ersetzen – auch wegen der möglichen Langzeitfolgen. Was halten Sie von solchen Empfehlungen?
Ich sage immer, man kann alternative Heilmethoden zusätzlich zur Chemotherapie machen. Wir bieten hier auch naturheilkundliche Verfahren an und es gibt sicherlich alternative Heilmethoden, – sei es aus dem Bereich der chinesischen Medizin oder der naturheilkundlichen Medizin, die unterstützend zu einer Chemotherapie sehr gut sind. Aber es gibt einfach manche Tumorarten, die eine Chemotherapie erforderlich machen, und wenn man dann ausschließlich die alternative Heilmethode zurate zieht, ist das für mich als Schulmedizinerin schwierig zu vertreten. Es ist jedoch ein Patient:innenwunsch, den ich genauso akzeptieren muss, wie wenn ein:e Patient:in sich gar nicht behandeln lassen möchte.
Das stelle ich mir schwierig vor.
Ich habe auch eine Freundin, die gerade einen solchen Weg beschreitet. Nicht im Bereich von Brustkrebs, sondern in Form eines Magenkarzinoms. Das ist schwer. Vor allem als Medizinerin und nicht allein als Freundin beurteile und sehe ich es noch mal anders. Aber ja, wenn es der unbedingte Wunsch ist und dem Willen der erkrankten Person entspricht, muss man zumindest versuchen, das zu akzeptieren und sagen: Okay, dann unterstütze ich dich als Freundin auf diesem Weg. Aber als Ärztin ist es sehr schwer, da mitzugehen.
Sie sagten eben, es gibt Krebsarten, mit denen das auch ohne Chemotherapie funktionieren könnte. Welche sind das?
Es gibt zum Beispiel ganz langsam wachsende Brustkrebsarten. Mit denen kann man sicherlich 10 bis 20 Jahre leben, bevor sich überhaupt irgendwo eine Metastase bildet. Es heißt ja nicht, Brustkrebs ist gleich Chemotherapie. Sondern es gibt viele Brustkrebsarten, wo wir „nur“ eine Operation und Bestrahlung machen. Die Patient:innen nehmen im Anschluss noch eine antihormonelle Therapie in Tablettenform ein. Wenn ich natürlich über Jahre gar keine Therapie mache, ist es irgendwann eine Frage der Zeit, bis der Tumor sich ausbreitet.
Dennoch hat man den Tumor ja im Körper und früher oder später kommt die Krankheit. Ist das richtig?
Die Krankheit ist immer da, früher oder später ist sie dann halt auch woanders – nicht nur auf den Bereich der Brust lokalisiert, sondern die Zellen können sich auch auf die Knochen, die Leber – und so weiter – ausbreiten.
Was bedeuten würde, dass die Heilungschancen sinken.
Dann kann man den Krebs nicht mehr heilen, sondern nur noch palliativ therapieren. Sobald Fernmetastasen vorhanden sind, ist der Brustkrebs nicht mehr heilbar. Heilen heißt, dass ich den Krebs vollständig aus dem Körper entfernt bekomme. Therapieren beziehungsweise Beschwerden lindern kann ich ihn jedoch in jeder Phase.
Wie erfolgreich sind Chemotherapien?
Es ist schwierig, pauschal zu sagen. Das ist auch vom Tumor abhängig. Man sagt, je höher die Wachstumsfraktion ist, das heißt, je aggressiver der Tumor wächst, desto besser wirkt die Chemo. Deswegen ist eine Chemotherapie bei ganz langsam wachsenden Tumoren nicht die indizierte Therapie, weil sie da einfach nicht so gut greift und dementsprechend nicht so gut hilft.
Ich habe einen schnell wachsenden Tumor. Ist die Chemotherapie also perfekt für mich?
Ja, das ist sie. Weil Chemotherapeutika auf sich schnell teilende Zellen zugeschnitten sind. Vereinfacht kann man sagen: Je schneller die Zellen sich teilen, desto besser wirkt diese Therapieform.
Was passiert im Körper, wenn man eine Chemo verabreicht bekommt?
Die Chemotherapie wirkt – wie eben besprochen – auf sich schnell teilende Zellen. Und sie soll, wenn man es salopp sagt, die sich schnell teilenden Zellen kaputtmachen. Tumorzellen sind solche schnell teilenden Zellen, deswegen werden sie von der Chemo zerstört. Aber die Chemo ist nicht so spezifisch, dass sie nur die Tumorzellen kaputtmacht. Tumorzellen sind sehr schlau, – sie haben sehr viele Eigenschaften von den gesunden körpereigenen Zellen übernommen. Deswegen haben wir unter einer Chemotherapie auch die Nebenwirkungen, dass andere sich schnell teilende Zellen ebenfalls beschädigt werden.
Zum Beispiel?
Die Haare sind betroffen, weil sie ja ständig nachwachsen. Dann setzt der Haarausfall ein. Die Blutzellen erneuern sich ständig. Das bedeutet, dies sind ebenfalls gutartige, schnell teilende Zellen. Deswegen bestehen Nebenwirkungen auf das Blutsystem. Im Mund hat man beispielsweise schnell teilende Zellen. Das merkt man daran, dass, wenn man sich verletzt oder eine offene Stelle im Mund hat, diese normalerweise nach zwei Tagen wieder weg ist. Auch im Magen-Darmtrakt sind Schleimhäute, die sich ständig erneuern. Das merkt man jetzt im Alltag normalerweise nicht so, aber während der Chemotherapie eben schon. Das äußert sich in Form von Übelkeit oder Durchfall. Dazu kommen noch Veränderungen an den Nägeln. Auf das Herz oder die Herzmuskelzellen wirkt die Chemo ebenfalls ein. Nicht, weil die Herzmuskelzellen sich besonders schnell teilen, sondern weil Herzmuskelzellen sich einfach gar nicht teilen. Und weil die Chemo einfach eine toxische, also giftige Nebenwirkung haben kann. Aber kurz gesagt: Aufgrund der schnell teilenden Zellen, auf die die Chemo wirken soll, haben wir auch die meisten Nebenwirkungen.
Jetzt haben Sie ja täglich mit diesen Nebenwirkungen zu tun und mit Menschen, die Schmerzen haben. Haben Sie sich selbst schon mal vorgestellt, wie es wäre, wenn Sie eine Chemotherapie bekommen würden?
Ja, das stelle ich mir oft vor.
Und?
Ich frage mich zum Beispiel immer, was ich machen würde, wenn ich keine Haare mehr hätte. Wir bieten diese Kühlkappen-Therapie, die leider nicht vollständig von den Krankenkassen finanziert werden, an und ich wäge dabei genauso ab, ob es sich lohnt, dafür das Geld aufzubringen. Das stelle ich mir nicht ganz so schlimm vor, weil ich denke, die Haare wachsen wieder. Mit dem Geld würde ich mir persönlich lieber schöne Erlebnisse gönnen. Womit ich, glaube ich, ein richtiges Problem hätte, weil ich das bereits bei Alltags-Erkrankungen ziemlich schlimm finde, ist die Übelkeit. Das ist einfach eine Nebenwirkung, die so einschränkend ist, weil sie die Lebensqualität so sehr einschränkt und einen völlig lahmlegen kann. Das wäre für mich schwierig und schlimm. Da haben wir aber auch relativ gute Medikamente, finde ich.
Die wiederum auch Nebenwirkungen haben.
Klar, aber zumindest ist dann die Übelkeit weg. Und womit ich vermutlich auch schwer umgehen könnte, ist, sich schwach und antriebslos zu fühlen, sodass an manchen Tagen einfach gar nichts geht. Ich glaube, da müsste ich sehr an meiner mentalen Stärke arbeiten und mir immer wieder sagen: Das gehört dazu und das muss ich akzeptieren. Aber das würde mir sicher sehr schwerfallen, weil ich einfach so ein aktiver Mensch bin, der immer auf der Achse ist und Sachen macht. Wenn das dann nicht mehr geht und man so in die Knie gezwungen wird, würde ich sicher darunter leiden.
Das wollte ich Sie gerade fragen: Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, wenn man nach der Chemo mehrere Tage keine Kraft hat? Was es bedeutet, nicht mal vom Bett nicht hochzukommen.
Es ist natürlich schwer, sich das vorzustellen. Man kann sich auch nicht richtig ausmalen, wie es ist, krank zu sein. Also wenn eine Person zum Beispiel davon erzählt, dass sie eine ganz schlimme Grippe hat, oder selbst wenn Angehörige mir sagen, dass es ihnen heute total schlecht geht – man kann ja Schmerzen oder ein bestimmtes Körpergefühl nicht 1:1 für die Person nachempfinden. Doch wenn wir jetzt mal eine Influenza oder so was nehmen, dann denke ich mir: Und Chemopatient:innen geht es dann immer wieder alle zwei oder drei Wochen so. Richtig vorstellen und nachempfinden kann ich es nicht. Doch ich versuche, es mit zu empfinden und die Menschen zu begleiten. Ich glaube auch nicht, dass es der richtige Weg ist, wenn man sagt: Ja, ich weiß genau, wie sich die Schmerzen anfühlen. Denn das kann man nicht. Das empfindet jede:r anders und jede:n schränkt es anders ein. Manch einer sagt: Okay, wenn ich zwei Tage im Bett lag, ist es auch wieder gut. Andere kommen danach noch viel schwerer in die Gänge. Man kann nur Hilfestellungen geben, die man kennt. Und die, die zur Verbesserung beitragen – wie beispielsweise der Hinweis, trotz allem zu versuchen, Sport zu machen.
Was auch hilft.
Man kann es sich nicht vorstellen, aber es hilft nachgewiesenermaßen. Man kann eben versuchen, dadurch den Patient:innen aufzuzeigen, welche Wege es gibt, dass es ihnen besser geht.
Was ich wichtig finde, ist der Punkt: Chemo ist nicht gleich Chemo. Und ich glaube, es ist schwer vorstellbar, wenn man nicht in diesem Krebs-Kosmos mit drin ist. Von einer anderen Betroffenen hörte ich, dass sie nach der Chemo zwei Wochen flach lag. Sie bekam die Therapie im dreiwöchigen Zyklus. Bei mir waren es maximal vier Tage am Stück – was für mich schon krass war, wenn man wie so eine tote Hülle auf der Couch liegt. Wenn ich mir vorstelle, dass ich das zwei Wochen lang durchmachen muss, und andere haben es dann halt gar nicht.
Ja, genau. Es wirkt bei jeder Person anders und jede:r empfindet es anders. Manche Menschen gehen auch unter den Chemotherapien noch arbeiten, und andere müssen funktionieren, weil sie halt drei kleine Kinder haben und es nicht anders geht, weil der/die Partner:in beispielsweise nicht da ist. Man muss individuell schauen, wie jede:r Patient:in die Therapie verkraftet und welche Möglichkeiten der Hilfestellung es gibt. Wichtig finde ich, dass man ihnen in der Situation das Gefühl vermittelt, dass sie nicht alleine sind und dass sie unsere Unterstützung erhalten.
Ist die Befürchtung meiner Freundin – mit den Langzeitfolgen nach einer Chemotherapie – berechtigt?
Es gibt Langzeitfolgen von Chemotherapien. Beispielsweise, dass die Polyneuropathien, also die Veränderungen an den Nervenendigungen, für immer bleiben können. Es kann sich natürlich mit der Zeit auch wieder bessern. Dies ist jedoch auch ein Grund, der dazu führen kann, dass wir Chemotherapien abbrechen. Weil wir sagen: Die/der Patient:in hat jetzt bereits solche Einschränkungen und wir möchten nicht, dass es zu Langzeitfolgen kommt. Gleiches gilt für den Herzmuskel, den wir unter Chemotherapie stetig untersuchen und überwachen. Weil man nicht möchte, dass es zu Langzeitfolgen kommt, die Patient:innen im Alltag so einschränken, dass sie im schlimmsten Fall kränker aus der Behandlung hervorgehen. Manchen Patient:innen kann man aus bestimmten Gründen keine Chemo geben, weil man sie dadurch mehr schwächt, als die eigentliche Tumorerkrankung es machen würde.
Wie kann ich mir das vorstellen?
Wenn ich einer 80-Jährigen die gleiche Chemotherapie geben würde, die Sie bekommen haben, mache ich sie wahrscheinlich kränker, als sie durch die Tumorerkrankung ist und als sie von der Zeit ihres Lebens mit der Tumorerkrankung an Nebenwirkungen überhaupt erfahren wird. Und da muss man als Ärztin oder Arzt schon abwägen, in der Fachsprache sagen wir Nutzen/Risiko dazu: Die Chemo muss immer einen größeren Nutzen haben als das Risiko an Langzeitfolgen, was eine Chemotherapie unweigerlich mit sich bringt. Das muss man im Kopf haben, – aber bei so einer jungen Patientin wie bei Ihnen überwiegt der Nutzen immer die Risiken. Und aus diesem Grund kontrollieren wir ja, dass die Patient:innen eben keine Langzeitfolgen davon tragen.
Am Anfang denkt man ja eh immer erst mal, dass eine Chemotherapie etwas Schlechtes ist, weil sie den Ist-Zustand verändert. Ich habe meinen Tumor eigentlich gar nicht bemerkt, also hatte ich keinen Schaden davon – und erst die Chemo hat mir in dem Sinne das Gefühl gegeben, wirklich krank zu sein. Ich glaube, viele Menschen tun sich schwer damit, diese Art der Therapie als hilfreich anzuerkennen, weil man zunächst nur sieht, wie sie den eigenen Zustand verschlechtert. Aber wie Sie schon sagen, hilft es langfristig.
Das ist ja das Gemeine an einem Tumor. Ein bösartiger Tumor macht sehr lange keine Symptome. Der wächst einfach im Stillen vor sich hin. Und er führt immer erst dann zu Symptomen, wenn er schon auf andere Organsysteme übergegangen ist oder man eben Verengungen oder Schmerzen durch den Tumor selbst hat.
Oder man bemerkt einen Gewichtsverlust.
Ja, aber das nehmen viele dann nicht so richtig wahr. Meistens ist der Gewichtsverlust mit einer B-Symptomatik verbunden.
Ich würde gern noch mal einen Schritt zur Diagnosestellung zurückspringen. Was ich damals beeindruckend fand, war, wie gut organisiert das Krankenhaus ist, in dem Sie arbeiten. Als ich vor Therapiebeginn, wie jede:r Krebspatient:in, die ganzen Ärzt:innentermine abklappern musste, brauchte ich nichts eigenständig zu planen – das hat alles das Krankenhaus für mich organisiert. Für mich war das sehr hilfreich, denn so hatte ich Zeit, den ersten Schock zu verarbeiten. Das erlebte ich so aus meiner Patient:innenperspektive und ich frage mich, wie das aus ihrer Perspektive – also im Krankenhaus – abläuft? Was passiert, wenn ein:e Patient:in zu ihnen kommt, die Diagnose erhält und dann wieder geht? Welche Abläufe folgen intern?
Nachdem sie die Diagnose und die Termine bereits hat?
Ja, genau. Also, die Patientin sitzt bei ihnen im Gespräch, Sie geben ihr die Diagnose und erklären ihr, was auf sie zukommen wird. Dann wird ihr eine Mappe – in meinem Fall – mit Terminen ausgehändigt. Ich frage mich, was währenddessen im Hintergrund oder vielleicht auch schon davor geschieht.
Sobald wir die Diagnose haben, werden die Patient:innen bei uns in der Tumorkonferenz vorgestellt. In diesem Rahmen wird die Therapie festgelegt und besprochen, welche Untersuchungen benötigt werden, um anschließend die Therapie in die Wege leiten zu können. Im Hintergrund werden die Dosis sowie die Zyklen der Chemotherapie geplant. Dann warten wir auf die Ergebnisse, um zu gucken, ob die Patientin in dem Zustand ist, wie wir uns das wünschen; dass eben noch keine Fernmetastasen vorliegen und dass das Herz gesund ist. Und sobald die Befunde da sind, geben wir die Freigabe für die Therapie und dann darf es losgehen.
Läuft das in allen Krankenhäusern so ab?
Ja, vielleicht nicht ganz so schnell. Aufgrund der hohen Patient:innenzahl sind wir hier relativ zügig mit der Tumorkonferenz durch und sind bemüht, die Staging-Untersuchungen, von denen Sie eben gesprochen haben, schnell zu bekommen. Dadurch, dass wir die Zytostatika-Apotheke direkt hier im Haus haben, wissen wir, dass es mit der Therapie zeitnah losgehen kann. Wir können alles eigenständig planen. Deshalb geht das bei uns ein bisschen schneller.
Wissen die Patient:innen bereits ab der Diagnosestellung, ob sie eine Chemotherapie benötigen?
Das wird in der Tumorkonferenz festgelegt. Hier fangen die Planungen direkt an: Patient:in XY braucht im Zeitraum von zwei bis drei Wochen einen Therapieplatz. Wenn man sich das noch extern organisieren muss, was in vielen Krankenhäusern der Fall ist, weil die Chemotherapie in einer externen Praxis gemacht wird, geht das Vorstellen in der Praxis erst dann los, wenn die Voruntersuchungen abgeschlossen sind. Natürlich erhält man dann auch relativ schnell einen Termin, aber da ist eben noch dieser Information Gap dazwischen: Dass das Krankenhaus die Informationen sammelt und an die ambulante Chemo-Praxis weiterleitet, die die Unterlagen nach Abschluss der Therapie wieder an das Krankenhaus zurückschickt. Für die Operation geht es ja wieder hierher zurück.
Woran erkennt man als Krebspatient:in ein gutes Krankenhaus?
Es gibt ja Zertifizierungen, die Krankenhäuser haben können. Man kann zum Beispiel Onko-zertifiziert sein, dann gibt es eine DEKRA-Zertifizierung für Krankenhäuser und natürlich ist das auch an den Ausbildungen, die die Ärzt:innen jeweils haben, sichtbar. Was immer einen hilfreichen Eindruck vermittelt, ist, wie andere Patient:innen es da empfunden haben. Ich empfehle, sich die Rezensionen anderer Patient:innen durchzulesen, die man im Internet finden kann, oder den direkten Austausch mit betroffenen Personen. Was ich ebenfalls noch als wichtig empfinde, ist die Anzahl der Patient:innen, die das Krankenhaus behandelt. Kleine Kliniken haben eine sehr niedrige Anzahl an behandelten Patient:innen, was zu einer geringeren Expertise führt. Und da würde ich schon schauen, dass es ein Krankenhaus ist, das eine gewisse Patient:innenanzahl mit dieser Erkrankung pro Jahr behandelt, um die Expertise einfach in dem Team zu wissen.
Was kostet eine Krebsbehandlung im Durchschnitt?
Das ist davon abhängig, ob man Antikörper braucht oder nicht. Ohne Antikörper ungefähr 6000 Euro, mit Antikörpertherapie mehrere Zehntausend Euro.
Ohne nur 6000 Euro?
Die Chemotherapeutika sind mittlerweile etwas günstiger geworden. Aber die Antikörper sind ultrateuer. Dies betrifft jedoch nur die systemische Therapie. Die Operation und der Krankenhausaufenthalt kosten auch noch mal mehrere Tausend Euro.
Letzte Frage: Was würden Sie Menschen wie meiner Freundin oder auch Ihrer Freundin, die die Chemo weitestgehend ablehnen, gerne mit auf den Weg geben?
Ich würde Ihnen sagen, Sie sollen sich die Studienlage anschauen und statistisch abgleichen, was man mit einer Chemotherapie oder anderen schulmedizinischen Therapien bewirken kann. Und ich würde immer sagen, dass ich durchaus für alternative Therapien offen bin, aber eben in Kombination. Damit lässt sich so manche Nebenwirkung sicherlich erträglicher machen oder ganz reduzieren.

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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.