Es ist 5:45 Uhr an meinem ersten Tag als Pflegepraktikantin. Zusammen mit sechs Schwestern sitze ich im Aufenthaltsraum der orthopädischen Chirurgie eines Berliner Krankenhauses. Es ist Übergabe. Der Nachtdienst, zwei gut gelaunte Schwestern, berichten von den Ereignissen der letzten Stunden. Neben mir schält eine Schwester eine Mandarine, eine gute Idee. Ich werde bis um zehn nicht zum Frühstücken kommen.

Nach der Übergabe beginnt die Morgenrunde, Vitalzeichen messen, nach den Schmerzen fragen und wann der letzte Stuhlgang war. Ich merke schnell, dass den meisten Patient:innen hier nichts mehr peinlich ist. Sie reden über alles recht freimütig, auch über Form und Farbe ihrer Ausscheidungen. Schwester Marion, der ich zugeteilt bin, nickt professionell und macht Notizen in die Kurve (Pflegebericht). Wer Verstopfung hat, bekommt Movicol zum Auflösen in Wasser, die harten Fälle ein Zäpfchen. Starke Schmerzmittel wie Oxycodon lähmen die Darmtätigkeit, die Movicol-Beutel gehen hier weg wie Gummibärchen auf der Kinderstation.

Auf dieser Station liegen viele Hüften, viele Knie und Wirbelsäulen. Viele Patient:innen sind alt und brauchen dementsprechend Hilfe beim Waschen. Ich lerne, wie man sie an die Bettkante mobilisiert, wenn sie sich aufsetzen wollen. Ich helfe ihnen beim Rückenwaschen, den Beinen, den Füßen und dem Gesäß. Ziehe ihnen Hosen und Socken an, manche brauchen oder wollen eine Windel. Von 21 Patient:innen auf Station können sich nur drei selbst versorgen, der Rest braucht zumindest im Badezimmer Hilfe und einige müssen wir im Liegen waschen. Sie sind häufig dement oder zumindest verwirrt und können sich vor Schmerzen kaum umdrehen. Viele sind inkontinent, haben einen Blasenkatheter und tragen zusätzlich IKM, Inkontinenzmaterial. Wurde vor ein paar Stunden im Nacht- oder Spätdienst ein Abführmittel gegeben, dürfen wir uns als Frühdienst darüber freuen, wenn wir die Höschen wechseln. In manchen Zimmern hält sich hartnäckig die charakteristische Duftmischung „Bübchen-Reinigungslotion plus Stuhlgang“. Später bei der Visite benennt es der Oberarzt pragmatisch: „Die riecht ein bisschen nach Pups.“

Zum Frühstück sitzen oder liegen die Patient:innen dann frisch gewaschen und mehr oder weniger angezogen bereit, ich helfe der Servicekraft beim Austeilen und serviere starken Stationskaffee, der mir den Mund zusammenzieht. Trotzdem ist er sehr gefragt. Ich selbst frühstücke erst in gut zwei Stunden, wenn alle Essenstabletts wieder eingesammelt sind und die Visite vorbei ist. In den nächsten Wochen wird jeder Morgen ungefähr so aussehen. Ab und zu darf ich mit auf Visite und mich über die Distanziertheit einiger Oberärzte wundern, mit der sie ihren Patient:innen begegnen. Den gleichen Menschen, mit denen ich gerade noch eine nette Unterhaltung über ihre Kinder geführt habe, während ich ihren nackten Körper einseifte. Zu diesen Ärzten möchte ich zukünftig nicht gehören, schwöre ich mir.

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Luisa Böldt Mitte November an der Charité in Berlin. Alle Fotos: Marie Konrad

Ich selbst studiere Medizin, bald werde ich auf der anderen Seite stehen und bald werden die Schwestern vielleicht genauso über mich reden, wie sie es jetzt schon über andere Ärzt:innen tun: spöttisch, empört, genervt. Oft haben sie einen guten Grund dazu, wenn auch nicht immer. Doch das soziale Gefüge auf einer Station ist kompliziert, das lerne ich schnell. Es ist kaum möglich, die Gunst aller Pflegenden zu gewinnen, manche haben grundsätzlich etwas gegen Praktikant:innen, Auszubildende oder Oberärzt:innen. Manche reagieren schnell gereizt, sind im nächsten Moment jedoch wieder freundlich und zeigen mir, wie man den Blutzucker misst. Im Dienstzimmer wird über jeden hergezogen, der gerade nicht im Raum ist, ob Kolleg:in oder Patient:in. Erst kommt es mir unpassend vor, unprofessionell, das sind doch unsere Schutzbefohlenen, denke ich, über die können wir doch nicht lästern! Doch unsere Schutzbefohlenen sind bei weitem keine Engel, und wenn Frau H. zum dritten Mal klingelt und überaus unfreundlich um einen Schieber bittet, würde auch ich meinen Frust gern irgendwo ablassen.

Die ersten Tage wundere ich mich auch, dass ich den Pflegenotstand, von dem ich doch so häufig gehört habe, hier gar nicht bemerke. Unsere Station scheint geradezu überbesetzt zu sein, nicht selten sitze ich im Dienstzimmer und hoffe auf eine neue Aufgabe, eine Klingel, einen Botengang, irgendwas, das mich nicht faul erscheinen lässt. Doch es werden noch Tage kommen, an denen ich mir diese Langeweile zurückwünsche. Wochenenden, an denen wir nur zu viert sind und ich allein einen halbseitig gelähmten Mann in einen Toilettenstuhl hieven und ihm gleichzeitig die Hose herunterziehen muss. Morgenrunden, in denen das Waschen kein Ende nimmt und ich meiner Kollegin die Erschöpfung anmerke, die sich bei ihr über Jahre aufgebaut hat. 

Mit Schwester Dana versorge ich Herrn G., einen 90-jährigen, bettlägerigen und dementen Patienten. Während wir ihn waschen, scheint er immer wieder einzuschlafen. Ich frage sie, ob sie ihre Arbeit gern macht. „Ich bereue es wirklich, die Ausbildung gemacht zu haben!“, antwortet sie. „Es ist nicht mal die Arbeit an sich, das Pflegen, das Waschen, das mach ich eigentlich gern. Aber die Patienten, die eigentlich noch ganz fit sind, werden immer anspruchsvoller, haben immer mehr Extrawünsche, und so hat man weniger Zeit für die Vollpflegefälle. In der Ausbildung war das damals noch gar nicht so schlimm.“

Schwester Dana ist Anfang 30, vor Kurzem bekam sie ihr erstes Kind. Bis zur Rente stehen ihr noch einige Jahre bevor. Doch ich werde in meiner Zeit hier nur wenige Pfleger:innen kennenlernen, die ihren Beruf so lange ausüben wollen. Umfragen in der Altenpflege sprechen von bis zu 78 Prozent der Beschäftigten, die sich nicht vorstellen können, ihre Arbeit bis zur Rente zu verrichten. Pflegeberufe haben zudem eine um 27 Prozent erhöhte Rate an Frührentner:innen.

Die Belastung, sowohl körperlich als auch psychisch, steigt mit der zunehmenden Unterbesetzung der Stationen und Pflegeeinrichtungen. In Deutschland fehlen laut eines Berichtes im Auftrag des Wirtschaftsministeriums von 2021 rund 35.000 Pflegekräfte. Um diese große Lücke aufzufüllen, bräuchte es mehr neue Berufseinsteigende als Fachkräfte, die ihre Arbeit in der Pflege niederlegen. Zwar zählt das Statistische Bundesamt etwa 150.000 Menschen in einer pflegerischen Ausbildung, doch laut des Pflegeberichts der Barmer ist diese Zahl zu niedrig, um den Bedarf der kommenden Jahre zu decken. Hinzu kommt: Wie viele von ihnen werden einen Abschluss machen? Ein Azubi berichtet mir, in einer Parallelklasse seien im ersten Jahr mehr Schüler:innen gegangen als geblieben. 

Auch nach der Ausbildung hadern viele mit ihrem Beruf, wie auch Schwester Dana. In Umfragen berichten mehr als ein Drittel der Befragten, sie erwägen, regelmäßig aus der Pflege auszuscheiden. Diese Entwicklung ist desaströs für eine alternde Gesellschaft. Nicht nur werden wir in Zukunft mehr alte und pflegebedürftige Menschen versorgen müssen – auch Pflegekräfte gehen in Rente, in den nächsten 10 Jahren etwa eine halbe Million. Wie kann noch eine umfassende Gesundheitsversorgung garantiert werden, wenn der Beruf nicht an Wertschätzung und damit an Attraktivität gewinnt? Wer wird mir in 60 Jahren noch den Rücken waschen wollen?

Zum Mittag füttere ich Herrn G. „Essen reichen“, heißt es richtig. „Vorm Patienten nie Füttern sagen“, ermahnt mich Schwester Heike. Zwischen den Löffeln fallen ihm die Augen immer wieder zu. Es gibt Kartoffelbrei, Suppe und Joghurt, an fester Nahrung würde er sich sofort verschlucken, an zu flüssiger auch. Die Servicekraft kommt herein und sieht uns besorgt an: „Am Ende entwickeln wir uns wieder zurück zu Babys. Ich freue mich immer, wenn sie was essen.“

Herr G., ein 90-jähriges Baby mit Bartstoppeln, denke ich und muss lachen. Gleichzeitig frage ich mich, ob so eine Aussage vor einem Patienten getroffen werden sollte. Ich versuche, ihm weiter das Essen zu reichen, ohne darüber nachzudenken, wie viel Würde ich ihm mit jedem Löffel nehme. Was denkt, was begreift sein Geist noch, der in diesem verkrampften, unbeweglichen Körper wohnt? Als er die Stimme der Servicekraft hört, lächelt er mit einem Mal. Vielleicht mehr, als wir glauben.

Die Ruhe, die in diesem Zimmer herrscht, ist trügerisch. Kaum stehe ich wieder auf dem Stationsflur, klingelt es erneut. Automatisch schweift mein Blick zur Digitalanzeige über mir. Ich lese die Zimmernummer und mache mich auf den Weg zur nächsten Patientin, die regelmäßig Weinanfälle bekommt, sobald sie sich aufsetzen soll. Ich hole Bettpfannen, wechsle Deckenbezüge, erkläre den Fernseher und spreche bald automatisch in doppelter Lautstärke, weil ich einfach davon ausgehe, dass meine Patient:innen mich sonst nicht verstehen. Manchmal ernte ich dadurch irritierte Blicke von 30-Jährigen, die sich beide Arme beim Joggen gebrochen oder einen Bandscheibenvorfall haben und standardmäßig von mir angeschrien werden: „Was gibt’s denn?“

Nach dem Mittag und kurz vor Dienstschluss kommt dann noch einmal ein kleiner Kraftakt auf uns zu, Höschenrunde. Wir öffnen die Windeln und schauen, ob sich seit dem Morgen schon etwas getan hat. Bei Herrn G. müssen wir das IKM wechseln, im Hintergrund läuft das Radio, Nothing else Matters. Ein Zimmer weiter liegt Herr S. und hält glücklich die Ente, also eine Urinflasche, fest, die wir ihm vor ein paar Stunden angelegt haben. Auch er ist dement, doch dass das gute Stück zum Pullern aus der Hose raus muss, das scheint er noch zu wissen. Leider bleibt er dabei einfach liegen, mit der neuen Hüfte kann er eh nicht laufen. Und so geht alles ins Bett und nicht in das Höschen, das wir ihm eigentlich für solche Fälle angezogen haben. Die Ente ist da ein ganz guter Kompromiss, auch er fühlt sich sicherer damit. Als wir sie ihm wieder abnehmen wollen, protestiert er, denn richtig gesund ist das eigentlich auch nicht. Die Feuchtigkeit tut seiner Haut nicht gut. Außerdem wollen wir ihn lagern, Dekubitusprophylaxe, also zur Vorbeugung von Druckstellen. Dabei stört die Ente nur. Der alte Mann hat erstaunlich viel Kraft, seine Finger umklammern den Flaschenhals, doch es nützt alles nichts. Schwester Dana ist da rigoros. Endlich liegt er auf der Seite, gut zugedeckt, Kissen im Rücken, alles gut und sicher verstaut für den Mittagsschlaf. Es ist Zeit für die Übergabe an den Spätdienst und ich habe endlich Feierabend. 

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Eine Handbewegung, die Luisa während ihres Praktikums fast täglich machen musste

Nach ein paar Tagen hören meine Füße nicht mehr auf zu schmerzen. Ich laufe über den Schmerz hinweg. Mit der FFP2-Maske bekomme ich Kopfschmerzen. Wenn ich mich hinsetze, fallen mir fast die Augen zu. Ich weiß jetzt, warum wir Medizinstudierende dieses Praktikum machen müssen, denn als Ärztin werde ich diese Art von Arbeit nicht machen müssen. Ohne diese Erfahrung würde ich nie nachvollziehen können, welche Strapazen Pflegende jeden Tag und zu jeder Uhrzeit auf sich nehmen. Ich muss es körperlich spüren und auch psychisch muss ich die alles lähmende Erschöpfung und den Stress auf einer unterbesetzten Station kennenlernen, um wirklich zu verstehen. Doch nach wenigen Tagen ist mir auch klar: Nie könnte ich selbst diesen Beruf ausüben, der mir vorkommt wie eine Falle. 

Die meisten, mit denen ich gesprochen habe, haben ihn aus dem Wunsch heraus ergriffen, zu helfen, etwas Sinnstiftendes zu tun. Doch sie wurden eines Besseren belehrt. Denn warme Worte der Patient:innen reichen nicht als Entlohnung und werden immer seltener. Nun arbeiten sie Tag für Tag, während die Arbeit sie kaputt macht. Es klingt hart, es klingt überspitzt, ich wollte es selbst kaum glauben, bevor ich es nicht mit eigenen Augen gesehen habe. Pflegenotstand, das ist für mich jetzt kein Schlagwort mehr, das ich aus den Medien kenne. Es ist etwas, das ich hautnah erlebt habe. 

Nach dem Feierabend sitze ich auf meinem Balkon, die Sonne scheint noch erstaunlich stark und ich bekomme nach nur wenigen Stunden schon einen Sonnenbrand auf den Wangen. Unten im Hof beobachte ich, wie meine siebenjährige Nachbarin ihrem kleinen Bruder eine Hose anzieht. Es sind die gleichen Bewegungen, die ich heute bei einer 78-Jährigen gemacht habe, nachdem ich sie gewaschen hatte. In ihnen liegt die gleiche Fürsorge, die wir wohl alle in uns tragen, auch wenn viele sie nicht mehr zeigen. Die Nähe und Verletzlichkeit, die damit einhergeht, ist oft unangenehm. Wir geben Aufgaben wie Körperpflege gern ab, haben sie professionalisiert. Doch am Ende ist all das Waschen, Anziehen und Füttern ganz natürlich. Es begleitet uns vom Anfang bis zum Ende unseres Lebens. Nach nur wenigen Tagen auf Station habe ich nicht mehr das Gefühl, mich zu irgendetwas überwinden zu müssen. Fürsorge mit all ihren Konsequenzen erscheint mir selbstverständlich. Doch wie viele Menschen werden in Zukunft noch für uns sorgen wollen? 

Autorin: Luisa Böldt, Foto: Marie Konrad

*Anmerkung der Redaktion: Dies ist ein Erfahrungsbericht und gilt mitnichten für alle Menschen, die in der Pflege tätig sind. Es geht hier um eine persönliche Perspektive, nicht um Pauschalisierung. 

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