Es ist der 12. Januar 2023 und ich bin – wie viele andere Menschen auch – in Lützerath, um die Räumung mit meiner Kamera zu dokumentieren. Der kleine Ort ist mittlerweile von unzähligen Polizeikräften überflutet. Seit 8 Uhr befinde ich mich innerhalb des Zauns, den RWE unter Polizeischutz um den Teil zog, der nicht durch die Kohlengrube Garzweiler 2 ohnehin schon versperrt wurde.

Alle Bodenstrukturen sind geräumt. Es gibt nur noch ein paar besetzte Häuser und Baumhäuser, doch auch dieser Umstand ist nur noch eine Frage der Zeit.

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In einem der Häuser – das, welches WG genannt wird – befindet sich eine Leiter im ersten Stock. Nachdem ich mich als Journalist ausgewiesen habe, ließen die Bewohner:innen besagte Leiter herunter und ich bekam die Möglichkeit, mir einen Einblick in eine ganz andere Welt zu verschaffen.

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Indigo Drau, Aktivistin und Pressesprecherin der Initiative „Lützerath lebt“
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Während draußen Kettensägen sowie Harvester die Bäume und Holzhütten zerstören, herrscht hier eine absurde Normalität im Besetzungsalltag. Es wird Kaffee gekocht, es werden Brote geschmiert und es wird abgewaschen.

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Indigo, die junge Frau, die mir die Leiter heruntergelassen hat, bietet mir an, in einem der Zimmer des Hauses übernachten zu können. Die Räumung könnte ja quasi jeden Moment stattfinden. Dunkel wird es in dem kleinen Zimmer, in dem mit mir noch zwei weitere Journalist:innen schlafen, nicht. Die Bauscheinwerfer der Einsatzkräfte erhellen das gesamte Dorf.

Gegen 9 Uhr am nächsten Morgen ist es dann soweit: Vor dem Haus versammeln sich immer mehr Einheiten und die Bewohner:innen der WG teilen sich auf. Ein Teil klettert in den Dachboden um sich dort anzuketten, ein anderer bleibt in den ersten beiden Etagen.

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Sie wollen alle friedlich bleiben, doch nicht unbedingt freiwillig gehen. Ich muss mich entscheiden und so gehe ich mit auf den Dachboden. Eingeengt zwischen etwa einer Handvoll Aktivist:innen und fast der gleichen Menge an Medienschaffenden von Al Jazeera, Reuters, dem MDR und Stern warte ich, dass die Luke zum Dachboden endgültig hochgezogen wird.

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Jetzt weiß niemand, was als nächstes passieren wird. Oder besser, wann als nächstes etwas geschehen wird. Zwei Personen haben sich mit Handschellen und Kleber an einem Balken befestigt, drei weitere haben sich in „Lock-Ins“ zusammengekettet.

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Zwei Musiker, die bis jetzt ebenfalls in der WG wohnten, stimmen ihre Instrumente. Sie wollen diese Räumung musikalisch begleiten, lesen ein paar Seiten aus dem Buch „Jenseits von Hoffnung und Zweifel“, ein paar letzte Zigaretten werden geraucht, Parolen gerufen und Interviews gegeben. Dann wird es still.

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Der kleine Chor beginnt zu singen, die Geigen spielen und das Haus zittert leicht. Unten ist der Lärm von zersplitterndem Glas zu hören, während BFE-Einheiten das Haus stürmen. „Polizei, Polizei“, tönt es gedämpft, und nur wenige Augenblicke später wird die Luke zum Dachboden aufgebrochen. Noch immer spielen die Instrumente. Die Stimmen der festgeketteten Aktivist:innen singen weiter. Sie lassen sich vom Eindringen der Polizei nicht aus der Fassung bringen; und so endet das Lied erst, als der Dachboden bereits voller Einsatzkräfte ist. Die beiden Musiker gehen zuerst. Da sie freiwillig den Boden verlassen, werden nach Angaben des WDR nicht einmal ihre Personalien festgestellt. Dann ist es Zeit für die Presse, ebenfalls zu gehen, da nun damit begonnen wird, die noch verbliebenen Menschen aus ihren Vorrichtungen zu lösen.

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Auf die Nachfrage, ob wir dafür bleiben können, wird uns erklärt, dass dies hier nun der Arbeitsbereich der Polizei sei. Die Stimmung zwischen den Aktivist:innen und den Einsatzkräften ist friedlich. Es wird sogar ein wenig gewitzelt, während ich den Dachboden verlasse. 

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Ich komme an dem eingeschlagenen Fenster vorbei, das wenige Stunden zuvor noch als Haupteingang fungierte, gehe durch das Treppenhaus, das eben noch verbarrikadiert war und befinde mich kurz darauf draußen. Das Haus ist umringt von Hundertschaften und ich erfahre, dass dies hier in Lützerath die letzte Hausbesetzung war.

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Dina Hamid, Aktivistin

Wenig später sehe ich, wie die drei Personen, die sich im „Lock-In“ befanden, abgeführt werden. Aus dem letzten besetzten Haus in Lützerath bringt die Polizei sie durch die bereits eingenommenen Strukturen zur Personenerfassung und lässt sie eine Stunde später vor den Toren des Zauns um das Dorf wieder frei.

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Alle Fotos: Max Schlag

Sie werden vermutlich nie wieder hier sein. Denn wenige Tage später stehen die Häuser, in denen einige von ihnen über Monate und Jahre gelebt haben, nicht mehr. Auch ich befinde mich das letzte Mal innerhalb des Zauns um Lützerath.

Einen Tag später versuchen Aktivist:innen die Polizeikette, um das Dorf zu durchbrechen. Ich habe an einem einzelnen Tag noch nie so viel körperliche Gewalt miterlebt. Nach der Räumung sind es diese Bilder, die in den Medien dominieren. Gewalt und die Botschaft: Statt wie erwartet in 4 bis 6 Wochen, wird Lützerath in wenigen Tagen geräumt – daran können auch die vielen tausend Menschen auf der Großdemonstration nichts ändern.

17. April 2023: In der „normalen Welt“ wartet viel Arbeit auf mich und so bleibt mir wenig Zeit, das Erlebte zu verarbeiten. Es ärgert mich, dass sich sowohl die Medien als auch meine Erinnerungen vornehmlich auf die gewaltsamen Momente konzentrieren, denn vor und während der Räumung war Lützerath so viel mehr als nur das. So viel mehr als nur ein kleines Dorf in NRW. Heute steht dort nichts mehr. Kein Haus, kein Baum. Aus der Utopie wurde das, was sie so lange umringt hat: Ein großes, dunkles Loch.

Text & Fotos: Max Schlag

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