Es ist Sonntagabend und mein Magen grollt vor Leere. Der Blick in den Kühlschrank bestätigt meine Annahme: eine mit meinem Magen übereinstimmende Leere. Nach mehrfachem geistlosen Öffnen und wieder Schließen des Kühlungsorgans schießt mir die Lösung in den Kopf: einfach Essen bestellen, easy. Meine Finger tasten sich flink durch eine Liefer-App und binnen weniger Minuten kann ich mich entspannt zurücklehnen; die Fahrerin wird in etwa 35 Minuten mit meiner Bestellung bei mir zu Hause angekommen sein. Ich setze mich auf die Couch und blicke aus dem Fenster. Es regnet in Strömen und der Wind klatscht die Tropfen wie Platzpatronen gegen die Fensterscheibe. Hm, krass eigentlich, dass jetzt jemand mit dem Fahrrad durch die halbe Stadt muss, um mir meine vegane Pizza zu liefern. Noch krasser eigentlich, dass ich mir dessen bewusst bin und trotzdem bestelle. Als es an der Tür läutet und mir ein vom Regen nasses, aber dennoch lächelndes Gesicht meine Pizza entgegenhält, verdirbt mir mein schlechtes Gewissen endgültig den Appetit. Ich drücke der Lieferbotin beschämt etwas Trinkgeld in die Hand, bevor sie wieder von meiner Bildfläche verschwindet und ich die Tür hinter mir schließe. Das war wohl meine erste und letzte Begegnung mit ihr.
Auch am nächsten Morgen will mich mein schlechtes Gewissen noch nicht verlassen. Verschiedene Gedanken strömen mir durch den Kopf. Wie fair werden Fahrradbot:innen bezahlt? Müssen sie selbst für wettergerechte Ausstattung aufkommen? Haben sie Zusatzversicherungen aufgrund ihrer verstärkten Risiko-Aussetzung im Straßenverkehr? Nach kurzer Recherche stoße ich auf das Riders Collective, eine gewerkschaftliche Vereinigung für Rider:innen in Wien. Rider:innen – das sind jene Personen, die dir jegliche Konsumgüter mit dem Rad vor die Eingangstür liefern. Ein paar Tage später finde ich mich auf einem Event des Riders Collective wieder.
An der Wiener Gürtellinie unter der U6 findet die Veranstaltung statt. Zum Roten Bogen sollen Rider:innen kommen, um sich zu vernetzen und untereinander auszutauschen. Ich bin hier, um mich mit Robert Walasinski und Blaz Gyoha vom Riders Collective zu treffen. Zwischen mehreren Rider:innen und meinen beiden Interviewpartnern nehme ich Platz. Erst mal lausche ich den Gesprächen, die von alltäglichen Herausforderungen in der Arbeit, aber auch von verschiedenen Dienstverträgen und Gehältern handeln. Mir wird schnell klar, dass hier keine Barrieren zwischen Privatsphäre und Arbeitsleben herrschen.
Robert Walasinski ist ein Gründungsmitglied des Riders Collective. Er war zuvor einige Jahre selbst als Rider unterwegs und parallel im Betriebsrat bei Foodora (heute MJAM, Österreich). Robert begann nach seinem Studium mit dem Riden, machte nebenbei aber immer schon gewerkschaftliche Arbeit. In seinem individuellen Zugang zum Beruf sieht er ein strukturelles Problem der Branche: Für manche wenige ist das Riden ein praktischer Zuverdienst, 60 Prozent der Rider:innen sind jedoch vollkommen lohnabhängig von der Tätigkeit. Personen, die den Job eher als bezahlte Freizeitaktivität betrachten, interessieren sich dementsprechend wenig für nachhaltige Arbeitsbedingungen und faire Löhne. Sie profitieren von den Vorteilen, welche das Plattformarbeiten für genau dieses Profil an Arbeitnehmer:innen bietet: ein einfacher und niederschwelliger Zugang zu bezahlten Aufträgen – ohne langfristige Gebundenheit oder Abhängigkeit. Die meisten Rider:innen brauchen den Job aber, um damit Rechnungen zu bezahlen und ihre Existenz zu sichern, entsprechen mit diesen Bedürfnissen folglich aber nicht dem Profil der freien Dienstnehmer:innen.
Freie Dienstnehmer:innen. Dieser Begriff fällt sehr oft in den Unterhaltungen zwischen den Rider:innen. Was hat es damit auf sich? Robert klärt auf: „Tech-Unternehmen wie MJAM werben mit freien Dienstverträgen an potenzielle Arbeitnehmer:innen. In der Praxis stellen sich diese aber bald als Verhängnis für all jene dar, die ein Arbeitsverhältnis als Anstellung mit gewissen Absicherungen wahrnehmen. Freie Dienstverträge beinhalten keinen bezahlten Urlaub, kein 13. und 14. Gehalt, keine Absicherungen gegen Krankenstände, keine regulierten Arbeitszeiten und – vor allem – keinen von eingehenden Aufträgen unabhängigen, fixen Lohn.“

MJAM hat es geschafft, seit 2015 etwa 2000 freie Dienstnehmer:innen zu zirka 200 echten Dienstnehmer:innen anzustellen. Ihr denkt euch vielleicht gerade auch: „Aber, jede:r trifft doch selbst die Entscheidung darüber, welches Arbeitsverhältnis eingegangen wird?“ Bevor ich diesen Gedanken überhaupt aussprechen kann, entgegnet Robert mir: „Entscheidungen beruhen auf Informationen.“
Wenn folgend Arbeitgeber:innen argumentieren, dass die Löhne beim Kollektiv-Vertrag zwischen 9,21€ und 11,50€ die Stunde liegen, mensch beim freien Dienstvertrag aber bis zu 16€ die Stunde verdienen kann, weitere Vor- und Nachteile der beiden Anstellungsverhältnisse aber nicht transparent erläutert werden, fällt die Entscheidung schnell seitens des freien Dienstvertrags. Das zeigt auch die Statistik: Rund zwei Drittel der österreichischen Fahrradbot:innen sind freie Dienstnehmer:innen oder Selbstständige.
Robert Walasinski betont, dass der freie Dienstnehmer:innen-Vertrag in dieser Branche hauptsächlich zugunsten großer Konzerne angeboten wird, die mit viel Kapital versuchen, erkämpftes Arbeitsrecht zu unterminieren. Diese Konzerne nehmen sich in vielen Fällen gar nicht mehr als Arbeitgeber:innen wahr, sondern lediglich als Vermittler:innen zwischen Auftraggeber:innen und Auftragnehmer:innen. Diese Risikoauslagerung von Arbeitgeber:innen auf Arbeitnehmer:innen ist ein häufig beobachtetes Phänomen bei Unternehmen der Gig–Economy und nicht nur problematisch für die Bot:innen-Branche.
Oben drauf haben rund zwei Drittel der in Österreich beschäftigten Fahrradbot:innen einen migrantischen Hintergrund. Sprachliche Barrieren und die dadurch bedingte Unwissenheit über die arbeitsrechtlichen Bestimmungen in Österreich sind ein Vorteil für kapitalgetriebene Unternehmen wie MJAM. 80 Prozent der befragten Rider:innen sind keine Mitglieder in der Gewerkschaft, hauptsächlich weil Informationen über das Funktionieren oder generelle Existieren einer Gewerkschaft fehlen.
Und hier kreuzt das Riders Collective die Fahrbahn der Missstände. Robert beschreibt die Initiative als eine Art Intermedia zwischen Gewerkschaft und Rider:innen. Entstanden ist das Kollektiv durch einen Projektauftrag des österreichischen Gewerkschaftsbunds, dessen Anforderung es war, ein Netzwerk aus jungen Arbeitnehmer:innen in der Plattform-Ökonomie zu bilden und ihnen das Arbeitsrecht näher zu bringen. Arbeitskonzepte wie die Plattformarbeit in Kombination mit der Digitalisierung stellt Gewerkschaften vor diverse Herausforderungen. Schwere Erreichbarkeit der Arbeitnehmer:innen, eine fast ausschließlich im digitalen Raum stattfindende Kommunikation und häufig nicht-existente Betriebsstätten, in der Kolleg:innen aufeinandertreffen, sind Umstände, mit denen Betriebsräte vor zehn Jahren noch nicht konfrontiert waren.
Das Riders Collective bietet mit den ihnen zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten an der U-Bahnstation Josefstäderstraße einen Ort, um genau diese Lücken zu füllen. Vor allem der Austausch unter den Kolleg:innen fehlt innerhalb der Bot:innenszene. „Lustigerweise kennt man eher die Räder als die Gesichter.“, schmunzelt Blaz.
Und die Stimmung unter den Rider:innen? „Mit dem Bestellaufkommen schwankend.“, sagt Robert lachend und ich kann spüren, dass hinter dieser Aussage mehr steckt als ein mittelmäßiger Dad-Joke. Sein Blick schweift in die Weiten des Wiener Gürtels. Robert scheint den freien Dienstvertrag und damit einhergehende arbeitsrechtliche Folgen noch nicht genügend erläutert zu haben – er holt aus: „Das Ding ist, man muss das ein bisschen größer und über das Individuelle hinaus betrachten. Wenn wir zulassen, dass eine Plattform mit viel Kapital auf den Arbeitsmarkt tritt und einfach alles umgeht, dann können wir alle unsere Jobs und Arbeitsrechte an den Nagel hängen. Dann hat die Hyperflexibilität gewonnen und das Individuum, das es schafft, den Algorithmus auszutricksen und vier Bestellungen anstatt drei pro Stunde zu machen. Das funktioniert für Einzelne super, aber in der Masse eben nicht.“ Aha, da wären wir wieder beim Sozialdarwinismus, der dem Neoliberalismus schon öfter mit schein-naturwissenschaftlichen Legitimierungen die Ausbeutung von Arbeitskräften gesichert hat. Survival of the fittest macht auch vor der Bot:innenszene keinen Halt.

Was kann mensch also machen, wenn nicht nur gutes, sondern auch fair geliefertes Essen bestellt werden möchte? „Dort bestellen, wo ich aufgrund meines Informationsstandes weiß, dass es ordentliche Arbeitsverhältnisse gibt. Niemals online Trinkgeld geben. Keiner weiß, wo es hinkommt; es werden komische Halbbeträge überwiesen, obwohl nur ganze Beträge eingegeben werden können. Also das Trinkgeld in die Hand drücken. Und direkt bei den Restaurants bestellen, gar nicht erst bei den Plattformen“, sagt Robert mit eindrücklicher Stimme. Blaz nickt, ergänzt aber: „Auf der anderen Seite muss man schon sagen, dass diese Plattformen mit ihrem technischen Aufbau die Lieferungen irgendwie erleichtern. Aber in Bezug auf die Fahrer:innen – ja, Trinkgeld geben. Allgemein ist es, glaub ich, immer wichtig, dass sich die Leute bewusst sind, was es eigentlich bedeutet, Essen zu bestellen. Draußen regnet es, dazu sind fünf Grad, es ist Freitag, du schaust einen Film oder was auch immer. Du willst ‘ne Pizza essen, und dann hast du die Möglichkeit, entweder bestellst du von einem Restaurant, das 500 Meter entfernt ist oder drei Kilometer. Es ist ein riesiger Unterschied, ob jemand auf drei Kilometer Distanz eine Pizza liefern soll oder auf 500 Meter. Allgemein, persönlich find ich halt, ist es sehr wichtig, dass die Gesellschaft weiß, dass das ein harter Job ist.“
Ertappt. Meine untere Bauchregion meldet sich wieder zu Wort. Aber nicht, weil sie vor Hunger knurrt, sondern weil mir das Gespräch mit Robert und Blaz ziemlich auf den Magen schlägt. Wie kann eine so krasse – und doch offensichtliche – Ausbeutung von Arbeitskräften durch ein paar Riesenkonzerne in einer wirtschaftlich relativ neuen, staatlich fast vollkommen unregulierten Branche so hart an Konsument:innen, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen, vorbeiziehen? Wie kann ich so ignorant gewesen sein und die Menschen hinter diesen Jobs nicht wahrgenommen haben?
Das Event neigt sich dem Ende zu und ich springe auf mein Rad. Auf dem Weg nach Hause löst sich langsam der Knoten in meinem Bauch. Ich bin froh, ein paar Dinge gelernt zu haben, die ich besser machen kann und spüre Solidarität für die Arbeiter:innen der Branche.
Autorin: Anna Eder
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folgt uns auf Facebook, Instagram und Spotify.