Schwangerschaft als Geschenk – das ist eine weitverbreitete Ansicht in unserer Gesellschaft. Infolgedessen lautet der unausgesprochene Konsens: Über Abtreibung spricht man nicht. Ich glaube, dass damit Schluss sein sollte und frage mich: Wieso lassen wir Frauen in dieser schwierigen und schambehafteten Situation alleine, anstatt sie zu unterstützen? Um der Frage nachzugehen, treffe ich mich mit Irmi Jaud von pro familia, einer Anlaufstelle für Beratung rund um Sexualität und Familie. Ein Gespräch über die Rolle des Patriarchats und wie wir Verantwortung neu denken müssen.
DIEVERPEILTE: Vor wenigen Wochen habe ich am Münchner Königsplatz eine Demo von Abtreibungsgegner:innen gesehen. Ich war geschockt, wie viele Demonstrant:innen so radikal gegen Frauenrechte und Selbstbestimmung demonstrierten und dabei Marienbilder hochhielten. Besonders überrascht hat mich, wie viele Frauen daran beteiligt waren – einige hatten sogar ihre Kinder dabei. Was denken Sie über solche Demonstrationen?
Irmi Jaud: Puh, das ist schon eine der schwierigsten Frage gleich zu Beginn. Die stehen auch bei uns vor der Beratungsstelle, Anti-Choice-Bewegung heißt das, also: den Frauen eben nicht selbst die Wahl zu lassen, sondern sich dagegen auszusprechen. Das passiert auf sehr radikale Weise, da werden Plakate gegen Schwangerschaftsabbruch aufgestellt, die Teilnehmer:innen singen Marienlieder. Wir kennen das, aber es ist alles andere als unproblematisch, weil betroffene Frauen bei uns ein und aus gehen. Besonders perfide finde ich die Generalisierung: Alle Frauen, die einen Abbruch vornehmen, machen sich schuldig. Nicht umsonst sind da auch christliche Symbole vertreten. Das ist schon heftig. Es gibt natürlich freie Meinungsäußerung, aber so massiv Menschen zu bedrängen, finde ich grenzwertig. Uns gehts bei pro familia ja darum, dass wir die gesetzliche Grundlage beachten. Wir wollen aber auch eine Haltung vermitteln.
Welche Haltung vermittelt ihr Frauen, die zu euch kommen?
In den ersten 12 Wochen ist ein Abbruch möglich. Nach der Beratung müssen noch mal drei Tage vergehen, die Frau muss zu einem Arzt mit Genehmigung gehen. Im Gesetz steht, dass die Beratung einerseits dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen soll, aber auch ergebnisoffen geführt werden muss. Das heißt, die Frau darf nicht beeinflusst werden. Pro familia legt viel Wert darauf, dass die Frau entscheidet, ob sie ein Kind austrägt oder einen Abbruch macht. Die Anti-Choice-Bewegung sieht das radikal anders. Die Selbstbestimmung der Frau kommt hier nicht vor. Mittlerweile ist es auch eine politische Bewegung. Viele Staaten schränken den Abbruch ein – nur noch bis zur 9. Woche. Das ist auch in osteuropäischen Ländern zu beobachten, zum Beispiel in Polen. In diesen konservativen politischen Verhältnissen setzt es sich mehr und mehr durch, den Frauen das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen. Eine schwierige Frage. Das ganze Thema ist sehr politisch, obwohl die Frau, die einen Abbruch macht, erst mal nicht politisch sein will.
Fast die Hälfte der Frauen, die einen Abbruch durchführen lassen, haben verhütet – dennoch kam es zur Schwangerschaft.
Ja, was heißt verhütet. Natürlich kann man mit Kondom verhüten und trotzdem gehts schief. Die Spirale kann zum Beispiel verrutschen. Wenn eine Frau regelmäßig die Pille nimmt, ist das Verhütung, trotzdem bleibt auch hier ein Risiko, sehr selten, aber doch. Viele Frauen nehmen Verhütung sehr ernst – trotzdem kann es vorkommen, dass das Verhütungsmittel versagt oder man es einmal vergessen hat… Ich frage bei Beratungen nie nach Verhütung, um diese „Schuldfrage“ rauszunehmen. Viele Frauen schlagen sich seit Jahren mit dem Thema Verhütung rum. Die junge Generation ist jedenfalls sehr verantwortungsvoll, was dieses Thema angeht. Je liberaler ein Land, desto sicherer – und umso geringer auch die Abbruchzahlen.

Erleben Sie, dass Frauen sich aufgrund der Gesetzeslage und der gesellschaftlichen Tabuisierung kriminalisiert fühlen?
Schwangerschaftsabbruch ist nicht legal, aber straffrei. Kriminalisiert ist natürlich ein harter Ausdruck. Aber sie fühlen sich schon, als wären sie unter Beobachtung. Viele denken nach wie vor, dass man die Beraterin überzeugen muss, um den Schein zu bekommen, den sie benötigen, um einen Abbruch durchführen zu lassen. Das versuche ich immer zu entkräften und den Druck zu nehmen, aber mit einer gewissen Anspannung kommen schon sehr viele Frauen. Kriminalisiert würde ich aber nicht sagen.
Was ist Ihre Aufgabe, wenn eine Frau mit dem Thema Abbruch zu Ihnen kommt?
Im Gespräch mit mir erhalten sie Informationen zum Thema Abtreibung. Das sind zum Beispiel Frauen, die einen neuen Job begonnen haben und Angst davor haben, diesen verlieren zu können – in so einem Fall weise ich sie darauf hin, dass es Mutterschutzgesetze gibt. Aufgrund dieser können sie innerhalb der Schwangerschaft nicht gekündigt werden. Manche Frauen sind sehr froh darüber. Für andere gibt es noch drei, vier andere Gründe, warum die Schwangerschaft nicht infrage kommt. Ich bedränge sie dann natürlich nicht. Ich versuche die Balance zu halten und herauszufinden, wo ich unterstützen kann. Ich berate beispielsweise über finanzielle Hilfen und versuche da genau auf die Situation der Frau einzugehen.
Was sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen?
Die 12. Woche nach Empfängnis ist die zeitliche Grenze. Nach der Beratung müssen noch drei volle Tage vergehen, bis der Abbruch vorgenommen werden kann. Das Gesetz sagt außerdem, dass es einen Schutz für das Ungeborene gibt, demgegenüber steht eben die Entscheidungsfreiheit der Frau. Eine Frau braucht „gewichtige Gründe“ – laut Gesetz – um sich für den Abbruch zu entscheiden. Was das ist, das entscheidet jede für sich.
Wie viele Frauen beraten Sie in einer Woche?
Ich habe zum Beispiel eine Halbtagsstelle. Ich mache wöchentlich elf, zwölf Beratungen die Woche. Da wären dann wahrscheinlich etwa fünf Konfliktberatungen dabei.
Deutschland hat im Vergleich zu Schweden eine deutlich geringere Zahl an Abbrüchen. Woran liegt das? Weil wir besser aufgeklärt sind oder weil wir eventuell weniger Anlaufstellen im internationalen Vergleich haben?
Das würde ich wirklich auf die gute Prävention zurückführen. Noch haben wir genügend Anlaufstellen und Ärzte, vor allem in den Großstädten. In den ländlichen Bereichen wird es sehr dünn, viele Frauen müssen weit zu einem entsprechenden Arzt fahren. Vor allem, wenn man in der Situation ist, nicht jedem von dem Abbruch erzählen zu wollen, ist das blöd. Generell ist die Versorgung aber noch gewährleistet. Ich sage noch, weil gerade ein Generationenwechsel beginnt: In den nächsten Jahren gehen viele Ärzt:innen, die Abbrüche machen in Rente, die seit 20, 30 Jahren praktizieren. Gerade in Bayern gibt es eine Vorsicht bei den Ärzt:innen, denn sie wissen genau, dass Aktivist:innen sehr aktiv sind und dann auch mal vor der Praxis stehen. Das ist ein Grund, warum sich viele im Netz diesbezüglich nicht zu erkennen geben. Man darf das Thema Abbruch zwar benennen, darf aber nicht den Preis nennen – also „Werbung machen“.
Was kostet ein Abbruch?
Es beläuft sich meistens auf etwa 500 Euro. Zum Abbruch unter Vollnarkose gibt es noch eine andere Methode: den medikamentösen Abbruch, Mifegyne. Das ist nicht so teuer. Damit ist aber ein hoher Betreuungsaufwand verbunden. Die Frau muss zweimal zum Arzt und mehrere Stunden in der Praxis bleiben. Geringverdienerinnen – also unter 1170 Euro Nettoverdienst – wird der Abbruch von der Krankenkasse bezahlt.
Ist das nicht schräg, dass es einerseits Kostenübernahme und gleichzeitig einen Paragraphen gibt, der uns sagt: Was du machst, ist nicht legal?
Ja, stimmt. Da geht es eben um eine Gleichbehandlung: Wenn wir es schon ermöglichen – nicht erlauben – dann sollen es zumindest nicht nur die Reichen machen können. Das Gehalt des Partners/ der Partnerin zählt übrigens nicht dazu bei dieser Rechnung.
Wo wir bei Partner:innen sind: Welche Rolle nehmen die Männer beim Thema Abbruch ein? Sind die Partner in der Beratung – oder sogar beim Abbruch – mit dabei?
Beides. Es gibt schon viele Paare, wo der Partner dabei ist, obwohl bei der Beratung, als auch beim Abbruch. Die Frau braucht ja auch jemanden, der sie abholt. Das machen oft die Partner. Viele Frauen sind in einer festen Beziehung und haben Kinder – 60 Prozent sind das – und sagen vielleicht, das dritte kann man sich nicht mehr vorstellen. Da ist der Mann natürlich beteiligt und auch bei der Beratung dabei. Einerseits eine unterstützende Rolle, aber auch eine blöde Situation: Unterm Strich kann er es nicht entscheiden. Aus der Sicht des Mannes auch manchmal eine gewisse Ohnmacht.

Woran liegt das denn, dass die Gesellschaft mit dem Finger auf die Frau zeigt?
Es ist ja auch eine mächtige Position, das zu entscheiden. Ich brauche keine Entscheidung des Partners, ich bin eine selbstbestimmte Frau. Die Kehrseite ist natürlich, das ist leicht zu verurteilen. „Warum hast du dich jetzt gegen die Schwangerschaft entschieden?“. Vor Kurzem habe ich erst ein Statement einer Schauspielerin gelesen, das hieß: „Hinter jedem Schwangerschaftsabbruch steht auch ein Mann“. Soll heißen: Männer, solidarisiert euch mit uns! Hier bei uns vor der Filiale gibt es ja auch Gegendemonstrationen, oft kommen auch junge Männer dazu, die sagen: Wir sind für das Recht der Selbstbestimmung der Frau. Es sind vermehrt Frauen, aber es ist toll, dass auch junge Männer für die Rechte von Frauen Haltung zeigen.
Wir haben jetzt schon über den Partner geredet. Wie ist das mit dem Umfeld? Wird das Thema Abbruch für sich behalten?
Ich habe das Gefühl, es wird noch sehr für sich behalten. Immer wieder kommt es vor, dass Frauen mit niemandem außer mir darüber sprechen. Nicht einmal der Partner erfährt etwas. Aus Angst vor Verurteilung. Höchstens der besten Freundin oder der Schwester wird das meistens erzählt. Die Mehrzahl spricht mit kaum jemandem.
Haben Sie schon mal von einem Abbruch abgeraten?
Nein, aber ich habe auch noch nicht zugeraten.
Sie versuchen, wirklich eine neutrale Linie zu fahren?
Wenn eine Frau ganz klar ist, wäre es anmaßend, eine Richtung vorzugeben. Wenn eine Frau aber 38 ist, der Kinderwunsch zwar prinzipiell da ist, aber die Schwangerschaft gerade die Karrierepläne durchkreuzt, sage ich dann schon: Denken Sie noch mal drüber nach. Ich hake eher noch mal ein, wenn eine Frau total schwankt und damit zu kämpfen hat. Wenn dann rauskommt, sie fühlt sich nicht fähig, Mutter zu werden oder der Partner möchte auf keinen Fall, dann ermutige ich natürlich, der eigenen Richtung zu folgen.
Passiert das denn auch, dass Frauen nach einem Abbruch zu ihnen kommen, weil sie es bereuen?
Ab und zu, sehr wenige. Forschungen zeigen auch, dass Frauen, wenn sie gezwungen werden oder sehr ambivalent sind, die Tendenz zu psychischen Problemen haben. Wer ganz klar mit der Entscheidung ist, bereut es meistens nicht. Das Dazwischenstehen ist das Schwierigste. Trauer und Reue sind hier nicht überraschend.
Haben Sie mal einen Abbruch miterlebt?
In meiner Einarbeitungszeit. Ein Arzt hat das ermöglicht, ich durfte hospitieren. Das ist echt schon ganz schön lange her.
Wie haben Sie das empfunden?
Es ist recht medizinisch. Was ich ganz gut fand: Damals konnten Frauen noch ambulant den Abbruch machen und waren bei Bewusstsein. Der Arzt hat total wohlwollend mit der Frau geredet, was bei jedem anderen Eingriff auch normal ist. In der 11., 12. Woche ist die Entwicklung des Fötus schon weit fortgeschritten, da sagen manche Ärzt:innen. Das mach ich nicht. Für andere ist es klar, in dieser Situation zu helfen. Man kann sich dennoch nie ganz rausnehmen aus dieser Situation, da geht es auch um persönliche „Skrupel“.
Wie können wir als Gesellschaft und Individuen Frauen in dieser Situation zeigen, dass sie nicht alleine sind?
Immer wieder betonen, dass Frauen fähig sind, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Deshalb ist das Werbungsverbot auch so absurd. Die Vorstellung des Konstrukts “Frau” funktioniert hier etwa so: Sie fährt U-Bahn, sieht ein Plakat „Werbung für Schwangerschaftsabbruch“ und denkt sich: Uh, das mach ich auch (lacht). Wie verschroben ist das? Vermitteln wir Frauen doch: Hey, ihr habt die Fähigkeit, schwanger zu werden und es hat Einfluss auf das Leben, den Körper – es ist ein Riesending, Kinder zu kriegen! Aber auch die andere Seite, also sich gegen ein Kind zu entscheiden, ist eine verantwortungsvolle Entscheidung. Das entscheidet nach meiner Erfahrung sowieso jede Frau verantwortungsvoll. Frauen sind doch nicht plemplem. Sie wissen genau, worum es da geht. Egal ob junges Mädchen, erwachsene Frau, ob Muslima oder nicht gläubig, Ärztin oder Azubi – man muss das Selbstvertrauen der Frauen stärken.

Weil die patriarchalen Strukturen immer noch sehr stark sind?
Ja. Wie gesagt: In der Entscheidung zum Abbruch steckt auch große Macht. Mann und Frau haben da was gemacht und die Frau muss entscheiden, wie’s weitergeht.
Ungewohnt im Patriarchat.
Ja, wahrscheinlich hat es damit was zu tun.
Ich finde den Gedanken der Machtposition der Frau interessant. Viele sagen ja: Die Frau ist mit der Entscheidung alleine. Wie siehst Du das?
Das stimmt natürlich auch. Viele wurden sitzen gelassen, oder der Partner will keine Kinder. Manche Männer brechen den Kontakt ab und blockieren die Frauen, sodass sie ihn nicht mal telefonisch erreichen kann. Also ja: Oft stehen die Frauen wirklich alleine da.
Und das gilt es zu ändern! Vielen Dank für das offene Gespräch.
Für weitere Informationen schau gerne auf www.profamilia.de
Autorin: Laura I.
Dieses Interview erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folgt uns auf Facebook, Instagram und Spotify.
Autor:innen
DIEVERPEILTE ist eine Redaktion von Journalist:innen und Nichtjournalist:innen, die bei uns oder als Gastautor:innen arbeiten. Alle eint, dass sie guten jungen Journalismus machen wollen. Wenn du uns einen Text anbieten willst: info@dieverpeilte.de