Ich bin 10 Jahre alt und stehe mit anderen Jungs im Mallorca-Urlaub abends am Pool. Uns ist langweilig. Einer der Älteren schlägt vor, dass alle einen Schwanzvergleich machen sollen. Bereitwillig lassen ein paar der Kinder die Hosen runter. Ich entscheide mich dagegen, gehe zu unserer Ferienwohnung und lege mich ins Bett, weil ich Angst vor einer Blamage habe. Die letzte Urlaubswoche gehöre ich nicht mehr zur Gang, das lässt man mich spüren.

Ich bin 13 Jahre alt und betrete die Gruppendusche der Jugend-Fußball-Schule in Köln.
Sicherlich hätten andere Kicker meines Vereins die drei Wochen mehr verdient. Ich war nie der beste Fußballspieler, nicht mal der Mittelmäßigste. Dennoch habe ich beim Torwandschießen einmal mehr in die Ecke oben rechts getroffen als Yannik und Martin. Der Vater von Yannik hat sich sogar beschwert – sein Sohn ist besser, geeigneter, hat es sich durch sein Engagement mehr verdient. Ja gut, entschuldige. Dennoch habe ich öfter getroffen. Also ab nach Köln, Sommerferien der anderen Art und den Neid der anderen im Gepäck. Der erste Abend auf dem Zimmer mit den unbekannten Jungs war entspannt bis aufregend: wir haben viel über Fußball geredet, aber als die Ersten schlafen gingen, kamen die wirklich interessanten Themen: „Wen findest du geil? Sag mal! Und was würdest du mit der machen?“ Da wurden Fantasien gesponnen, die sich nur die ausdenken können, die keine Ahnung von der eigentlichen Sache haben. Ihre Schwänze müssten riesig sein. Sie hatten bei sich im Dorf mit den schönsten Mädchen Sex und natürlich fast jeden Tag, manchmal müsste man ja Pause machen, sich dem Fußball widmen. Am nächsten Tag kam dann das erste Training, Taktik- Schule, Ernährungs-Workshop, das erste Abendessen. Aber vorher: Alle duschen!

Erst fallen die Unterhosen, dann die Handtücher. Dann stehen 20 Pubertierende im dampfenden Duschwasser und beäugen sich. Erst werden die mit den großen Schwänzen beglückwünscht. Sie werden automatisch zu den Chefs der Affenbande. Nachdem die evolutionären Sieger gekrönt wurden, wurde der Loser bedacht. Haha, witzig. Vielleicht bin ich jünger? Oder einfach anders? Mein Penis wird von den anderen auf verschiedene Weisen bewertet: Länge, Krümmung, Schamhaarbewuchs, die Größe der Eier und sie lassen wahrlich kein gutes Haar an meinem haarlosen Körper. Ab diesem Abend war die Fußballschule nichts mehr für mich, aber durch die drei Wochen musste ich durch. Niemals hätte ich meinen Eltern erzählt, dass ich es nicht aushalte, weil ich meinen Penis scheiße finde. Am nächsten Tag gehe ich mit Unterhose duschen, das habe ich mir von einem muslimischen Jungen abgeschaut. Tatsächlich schont man mich danach, macht sich höchstens über die Unterhose lustig.

Ich bin 15 Jahre alt. Jeder im Freundeskreis weiß, wer einen großen Penis hat. Das wird dann auch erwähnt, wenn man von den Leuten spricht. Die Gespräche klangen in etwa so: „Wir waren gestern auf der Party von Tom.“ – „Der Tom vom Bauernhof?“ – „Nein, der mit dem riesigen Schwanz.“ – „Achso, der.“

Ich bin 17 Jahre alt und gerade haben sich meine Freundin und ich zum ersten Mal ganz nackt gemacht.
Wir werden gleich gemeinsam Sex entdecken und das wird der Wahnsinn. Bestimmt – muss ja so sein. Denn alle reden davon und in den Pornos geht’s ja auch ziemlich rund. Der Schwanz wird hart, die Vulva wird feucht und mehr braucht man nicht zum Akt. Sechs Jahre später hat meine Freundin kein einziges Mal durch Penetration einen Orgasmus gehabt, die Beziehung geht zu Ende und der Gedanke, sexuell ungenügend zu sein, kommt oben auf die Liste meines All-Time-Selbsthasses: Es liegt an meinem Schwanz. Dieser Gedanke geistert Jahre durch meinen Kopf.

Ich bin 20 Jahre alt und stehe nachts unschlüssig vor einem Pool im Garten von Bekannten. Indem planschen circa alle meine Freund:innen und sind besoffen. Meine Hände sind feucht, gerade ist meine Freundin nackt an mir vorbeigelaufen und hineingesprungen. Ich stehe im Spotlight des Mondes mit meiner Angst. Ich will meinen Penis nicht zeigen, da ich weiß, dass ein paar der Männer im Pool so sprechen wie die aus der Gruppendusche, als ich 13 war. Ich fühle mich im Kreis meiner Freunde nicht wohl. Es schert sich niemand um mich, außer ich. Ich ärgere mich. Nach einigen Überlegungen – gucken sie gerade in meine Richtung? Ist es hell beim Pool? Wer sitzt da alles? – zieh ich mein Shirt aus, strampele mich aus der Hose. Um die Performance abzurunden, trete ich mit der Verse in eine Scherbe und falle halb nackt neben dem Pool auf die Wiese und blute. Glück im Unglück.

Ich bin 25 Jahre alt und bin mit meinem Date nach Hause gegangen. Wir ziehen uns aus und haben Sex. Alles in allem befriedigend für beide. Ich liege nackt auf dem Bett und erzähle von meinen Komplexen. Erzähle ihr von Situationen des Selbstzweifels und Hasses, steigere mich ein wenig rein. Sie tätschelt meinen Kopf und sagt, dass ich mir keine Gedanken machen müsse. Alles wäre gut. Sie scheint diese Sätze schon ein paar Mal gehört zu haben und sagt, dass sich fast jeder Mann für seinen Schwanz rechtfertige. Vor allem, wenn es mal hake in der Kiste. Aber auch dann: Alles ist gut. Trotzdem nagt da etwas im Hinterkopf: sagt sie das nur, um mich zu beschwichtigen? Denkt sie gerade an all die anderen Männer mit den perfekten Penissen, mit denen sie lieber schlafen will? Sie lügt, oder? Ich gebe mich zwar beruhigt, aber der Zweifel sitzt im Hinterstübchen und schürt das Feuer wieder an.

Ich bin 30 Jahre alt, stehe vor den Exponaten meiner eigenen Ausstellung. Meine damalige Partnerin und ich haben uns über ein Jahr in allen möglichen Situationen des Kennenlernens fotografiert. Deshalb hängen an der Wand nun auch Fotos unserer Genitalien. Ich bin nervös, aber auch froh, dass ich zu mir und meinem Körper stehen kann. Freunde und Bekannte umkreisen uns, diskutieren die Arbeit, machen Späße und freuen sich mit uns über die gelungene Vernissage. Bis auf einige wenige sexistische Kommentare der Veranstalterin geht es keine Sekunde um meinen Körper. Und das tat richtig gut. Ich wurde als ganzer Mensch gesehen, als Künstler, als jemand, der versucht, mit seiner Arbeit zu kommunizieren. Meine Partnerin und ich sind sehr stolz. Ich denke darüber nach, ob ich diese komplette Veräußerung meiner Scham brauchte. Ich möchte nicht, dass diese Arbeit als Befreiungsschlag oder als Arbeit über Body Positivity angesehen wird. Nein, hier geht es um meine Partnerin und um mich. Dennoch höre ich Sprüche wie „Oh, ein schöner Penis.“ Danke, aber was hat das mit der Kunst zu tun? Still und heimlich gefallen mir diese Sprüche.

So verschieden die Menschen sind, so verschieden sind auch ihre Erfahrungen und Körper. Niemand möchte aufgrund der eigenen Hülle abgewertet werden und doch haben es so viele erlebt. Selbst kam ich aus diesem Gedanken-Karussel kaum raus. Ironischerweise mussten mir Frauen sagen, dass ich okay bin und das finde ich schade. Ich hätte mir die Offenheit gewünscht, mit der heute in meiner Gegenwart über solche Themen gesprochen wird. Ich war sicher nicht der Einzige, der unsicher war. Aber geredet hat niemand darüber. Gerne würde ich meinem jungen Ich die Angst nehmen, „falsch“ zu sein, nicht zu genügen.

Was mir schlussendlich geholfen hat? Genau kann ich das nicht sagen, aber ich schätze, dass es eine Mischung aus dem Verstreichen von Zeit, schönen Erlebnissen allein oder zu zweit, offenen und ehrlichen Gesprächen und der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ist. In der Rückschau fallen mir zwar die negativen Situationen ein, die positiven Schritte der Entwicklung kann ich nur erahnen. Dennoch bin ich überrascht, wieviel in den letzten Jahren in meinem Kopf passiert ist. Apropos Kopf: Mach dir keinen, denn alles ist gut.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Foto: @buttermilchzitrone @pietybalboa

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