Die Uhrzeit springt von 8:21 auf 8:22 Uhr. Vor wenigen Minuten habe ich die Kinder an der Schule rausgelassen. Michael Jackson singt für mich. Ich trinke heißen Tee und manövriere dabei mein Auto durch mehrere von der morgendlichen Rushhour verstopfte Alleen. „Break of Dawn” donnert Michaels Stimme aus den Lautsprechern und ich kann nur ahnen, wie er sich gefühlt haben muss, als er quicklebendig war und diese Zeilen sang. Wahrscheinlich wie im Sturm.
Diese Situation ist meine eigene Ruhe vor dem Sturm. Ich befinde mich auf dem Weg zur Klinik, meinem Arbeitsplatz, limitiere meine Gedanken auf ein überschaubares Maß, konzentriere mich auf andere Verkehrsteilnehmer:innen und meine Tagesziele – normale Morgenroutine, würde ich sagen. Vor mir geht die Schranke des Parkhauses auf und schließt sich hinter mir wieder. Ich genieße, wie sich der fast vollendete Sonnenaufgang auf den Blechlawinen des riesigen offenen Parkdecks über der Stadt spiegelt – ebenfalls Morgenroutine. Das Auto ist perfekt eingeparkt. Ich liebe es, im stehenden Auto Musik zu hören. Michaels Stimme suggeriert mir den spratzelnden Zauber aus Disney-Filmen. Mein Tee ist leer. Ich atme ein, atme aus, schließe die Augen, öffne sie wieder – verlasse den Wagen. Stechkarte, Mundschutz, Transponder, Klamotten. Ready for take off. Beam mich weg, Scotti.
Ich bin 39 und arbeite als medizinische Pflegefachkraft in einer onkologischen Tagesklinik, die auf multiple Krebserkrankungen spezialisiert ist. Angefangen habe ich irgendwann 2005 – damals erst in einer thoraxchirurgischen Fachabteilung. Auch dort war der Krebs omnipräsent. Gefühlt jede:n dritte:n stationär Behandelte:n führten entartete Zellen zu uns.
„Guten Moooorgen!!“, werde ich lächelnd von meinen Kolleg:innen begrüßt. Ich freue mich, sie zu sehen. „Schön, dass du da bist“, höre ich noch. So ein Team ist keine Selbstverständlichkeit, das weiß ich – jeden Tag. Früher hatte ich durchaus Kolleg:innen, die etwas anderes unter Teamplay verstanden. Vom Nierenzellkarzinom über Sarkome, Glioblastome, Hodgkin-Lymphome und Leukämien, Speiseröhrenkrebs und die ganze gynäkologische Palette – behandlungstechnisch bieten wir fast alles an. Beratende Pflegekoordinator:innen, psychoonkologische Expert:innen, Studienfachangestellte, erfahrene Fachpflegekräfte sowie ein extrem gut ausgebildetes Ärzt:innenteam ermöglichen es, mittels eines sehr starken Teamgedanken, dieses hochspezialisierte Behandlungsfeld abzudecken. Unsere Patient:innen kommen von überall her, um dieses Angebot zu nutzen.
„Morgen, Linda!!“ Unser Hämatologe checkt die heutige Personenliste und markiert in Neonorange, welche Laborwerte er direkt braucht, um das individuelle Behandlungsprozedere der einzelnen Patient:innen festsetzen zu können. Er instruiert mich bezüglich der zu bestimmenden Werte des nächsten Patienten: „Freie Leichtketten, β2-Mikroglobulin“, er liest kurz den vorangegangenen Behandlungsverlauf durch, „CRP, Ferritin, Immuntypisierung im Serum und Chimärismus-Testung nach Knochenmarktransplantation, wie gehabt“, schießt er hinterher. Ich nicke – gecheckt. Bei der Chimärismus-Untersuchung handelt es sich zum Beispiel um ein Verfahren, das sicherstellt, ob das im Gesunden fremdtransplantierte Knochenmark nach einer Leukämie-Erkrankung anhaltend überwiegt – und nicht unbemerkt erneut von bösartigen Krebszellen verdrängt wird. So können wir entscheiden, welche individuellen Vorsorge- oder Therapiemaßnahmen für unsere Patient:innen zukünftig sinnvoll sind und welche nicht. Meine Finger fliegen über die Kästchen der einzelnen Parameter des kreischend bunten Auswahlformats im hausinternen Computersystem. Ich klicke mich durch, habe alles markiert, was wir brauchen – und drücke auf Drucken.
Bald liegen unzählige mit Namen gelabelte Etiketten auf meinem Schreibtisch. Ich ordne sie den farbigen Blutröhrchen zu, messe die Temperatur, erfrage das Körpergewicht und die Größe unserer Klient:innen. Anhand dieser Werte ist es unseren Ärzt:innen möglich, die passgenaue Dosierung eines Medikaments wie zum Beispiel einer Chemotherapie passgenau festzulegen. Die Kosten der von uns applizierten Präparate variieren stark: Ab knapp unter 100 Euro steigt das Preissegment für die chemotherapeutische Behandlung immer weiter an; für die teuerste Antikörpertherapie können zwischen 8.000 bis zu 24.000 Euro veranschlagt werden – pro Gabe. Da die Verabreichung der Therapien in Zyklen erfolgt, werden zwischen 4 und 24 Gaben eingeplant – die teuersten in sich geschlossenen Jahrestherapiekosten belaufen sich somit momentan auf knapp 578.500 Euro. Deshalb rufen unsere Patient:innen am Therapietag direkt morgens an, sagen uns, dass sie fit genug sind und wirklich kommen, sodass wir die Freigabe in der Zytostatika-Apotheke zur Aufbereitung der Tagesdosis erteilen können. Wüssten wir nicht, ob ein:e Patient:in wirklich kommt, könnten wir die 20.000-Euro-Dosis bei Nichterscheinen der Person in den Müll werfen. Wir verfügen über zwei Therapieräume unterschiedlicher Fachrichtungen: HNO, Rheumatologie, Gastrologie, Dermatologie, Pneumologie und Urologie sind die gängigsten.
Im Schnitt erhalten in der hämatologischen sowie interdisziplinären Einheit 20 Patient:innen täglich ihre Therapie – doch nicht ausschließlich zytostatische. Wir verabreichen auch Immunglobuline, machen Aderlässe oder geben Eiseninfusionen, Erythrozyten- sowie Thrombozytenkonzentrate. Dazu kommen ungefähr 8 Personen, die auf der gynäkologischen Seite nach ähnlichem Prozedere behandelt werden. Die Behandlungen finden von Montag bis Freitag zwischen 8 und 15 Uhr statt, an Feiertagen sowie Wochenenden werden Notfälle ausschließlich stationär in der angebundenen Akutklinik versorgt. Bluttransfusionen sowie Thrombozytenkonzentrate verabreichen wir ebenfalls täglich, wenn die Blutwerte noch zu schlecht sind, um mit der Chemo weitermachen zu können. Diesen Verlauf kontrollieren wir zuvor gezielt durch engmaschige Labortests. So sehen wir unmittelbar vor der nächsten Therapie, wie weit die Leukozyten nach der letzten Chemogabe abgefallen sind, wie hoch der Hämoglobinwert ist und welche Anzahl von Thrombozyten das Blut der sich in der Behandlung befindlichen Person enthält.
Wenn Werte, wie beispielsweise die weißen Blutkörperchen, auch Leukozyten genannt, beziehungsweise deren Vorstufe zu niedrig sind, unterbrechen wir die Therapie. Dann werden die Patient:innen erst auftransfundiert oder bekommen spezielle Injektionen, bis sie wieder auf dem richtigen Level sind, sodass der Zyklus fortgesetzt werden kann. Verabreicht werden die intravenösen Gaben vorzugsweise über ein in der Nähe des Schlüsselbeins unter die Haut implantiertes Portsystem. Diese Applikationsart trägt dazu bei, die Armvenen zu schonen. Der gerade anwesende Patient ist ein zwei Meter großer und ziemlich stabiler Hüne – überaus tätowiert und nicht sehr gesprächig. Die Lage seines Ports kann ich nur erahnen. Meine Finger fixieren die Hautstelle über dem Implantat, in das die Nadel rein muss. „Tief einatmen”, sage ich. Zack! Er lächelt: „Daran gewöhne ich mich nie.” Würde ich auch nicht, ahne ich. „Verständlich!”, sage ich. Die mit Blut gefüllten Röhrchen liegen vor uns auf dem Tisch, um direkt im Anschluss von mir ins Labor gebracht zu werden. Er verabschiedet sich höflich und wünscht mir einen schönen Tag.
Ich renne in den ersten Stock ins Labor, renne wieder runter: 10.000 Schritte am Tag? Schaff ich locker. Die nächste Patientin hat ebenfalls einen Port. Zur Applikation von Infusionen oder Durchführung von Blutabnahmen über dieses System benutze ich spezielles Material: sterile Handschuhe, eine mit Kochsalzlösung gefüllte Spritze, eine leere Spritze zur Aspiration, die dem Entfernen eventueller Luftbläschen sowie mit Kochsalz verdünntem Blut dient, zwei sterile Kugeltupfer, einen Multi-Adapter, um die zu befüllenden Blutröhrchen andocken zu können, und natürlich die ebenfalls mit Kochsalzlösung entlüftete Portnadel inklusive Mini-Schlauch selbst. Verschlossen wird das System mit einem ebenfalls einzeln abgepackten Kombi-Stopper. Dies vorzubereiten, mutet ein wenig wie ein sonderbarer Lego-Bausatz an. Das Handling muss absolut steril erfolgen, um lokale Infektionen, die bis zu einer Sepsis führen können, vorzubeugen. Darüber nachzudenken, wie viel Abfall dadurch produziert wird, bringt mich in ein ethisches Dilemma. „Wollen wir?”, frage ich die Frau, die vor mir sitzt. „Wir wollen”, antwortet sie und lächelt tapfer. Mit zwei Fingern zieht sie sich ihren lockeren Kragen seitlich übers Schlüsselbein. Ich schaue, welche Nadellänge ich brauche und desinfiziere die Einstichstelle. Sie atmet ein. Alles geht schnell. Routine.
Besagte Patientin geht, der Nächste kommt. Etwas mehr als 60 werden es heute sein. Ich merke mir Namen, unglaublich viele Namen. Und vergesse sie wieder. Gesichter merke ich mir selten. Die Armvenen sowie zum Blutabnehmen geeignete Stellen an den Händen und Ellenbeugen ihrer Besitzer:innen erkenne ich dagegen noch nach mehreren Tagen sofort. Mit dieser Gabe sollte ich mich vielleicht mal in einer TV-Show anmelden – Scherz! Obwohl dieser Umstand grotesk ist, hilft er mir sehr, weil ich dadurch effizienter bin.
Der vorangegangene Patient geht, die nächste Patientin kommt: „Meine Beine tun soooo weh“, erzählt sie mir. „Ich konnte überhaupt nicht schlafen.“ Ich nicke. „Wir schauen gleich, was wir gegen die Schmerzen unternehmen können, okay?!“ Ich schaue ihr tief in die Augen und sage: „Sehen Sie sich die Toskana an.“ Dabei deutet meine Hand auf ein Bild, das neben uns an der Wand hängt. Sie folgt meiner Anweisung, ich fixiere den blauen Stauschlauch und steche binnen Sekunden eine feine Kanüle in ihre Armvene. Ein Schuss – ein Treffer. ”Läuft?“, „Läuft!“, verständigen wir uns zufrieden. Wir kennen das beide schon lange. „Ich habe nichts gemerkt, Schwester“, lächelt sie erleichtert. Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann… denke ich melancholisch.
Sie sind so dankbar. Das ist das Schönste an meinem Job. Die Loyalität und Dankbarkeit der vielen Menschen, mit denen ich jeden Tag in Berührung komme. Wenn man ungewollt mit dem Thema Tod in Berührung kommt – wenn auch nur in Gedanken – macht das was mit den Menschen. Es verändert ihre Lebensrealität und “alles” ist auf einen Schlag anders. Viele von ihnen lernen erst in onkologischem Ambiente, was es heißt – oder hieß, – frei und unbeschwert gelebt zu haben. Die meisten Leute taten dies zwar unbewusst, doch dadurch, dass sie nie über ihre Freiheit nachdachten, wussten sie nicht, was es wirklich bedeutet, über eine stabile Gesundheit zu verfügen. Aus diesem Grund kenne ich viele Menschen, die ihre Erkrankung mental völlig verändert hinter sich lassen: Sie sind dankbarer, wertschätzender und freuen sich über kleine, vorher als unscheinbar wahrgenommene Momente. Die Zeit und das eigene Dasein bekommen plötzlich einen unbezahlbaren Wert. Was vorher selbstverständlich war, ist jetzt ein Wunder.
Nächster Patient. Ein Mann kommt rein. Ich sehe ihn im Türrahmen stehen und sage: „Stopp!“ Er wird rot und lacht unsicher. Ich frage: „Wer hat diese Kombi ausgewählt?“ Er schaut geschmeichelt auf seinen schokoladenbraunen Kaschmirpullover mit einem hellgrünen springenden Hirsch darauf. Seine hellgrüne FFP2-Maske ist dazu perfekt akzentuiert. „Meine Frau?!“, antwortet er mit großen Augen. „Sagen Sie ihr einen schönen Gruß – Sie sehen fantastisch aus!!“, sage ich zu ihm und meine das auch so. Er freut sich. Und darüber freue ich mich. Ich liebe jede einzelne Person, die zu mir kommt. Onkologie und achtsame Fürsorge gehen meines Erachtens Hand in Hand, was ich sehr wichtig finde. Doch ich weiß aus eigener Erfahrung und von diversen Kolleg:innen, dass dies nicht immer möglich ist – aufgrund von mangelndem Personal.
Der Großteil unserer Patient:innen kennt sich äußerst gut aus, was den tagesklinischen Ablauf denkbar erleichtert. Die sich in kurzen Intervallen wiederholenden Verlaufskontrollen und ständigen Gespräche bei den Ärzt:innen lässt sie automatisch zum Profi werden, was die eigene Erkrankung angeht. Es lähmt manche Menschen vorerst, bis sie sich einen neuen Weg, die Welt zu sehen, erkämpft haben. Andere wachsen sehr schnell über sich hinaus, indem sie anderen Betroffenen Mut zusprechen und Anteil nehmen.
Wenn nur die hin und wieder auftretenden Wartezeiten nicht wären, die manchen Personen ziemlich auf den Keks gehen, was sie lautstark zum Ausdruck bringen: „Ist Ihnen klar, wie lange ich hier schon sitze?”, kreischt eine weibliche Stimme aus dem Off des Wartebereichs zu mir rüber. Konzentrier dich, denke ich, während ich mich auf meinen nächsten sterilen Portanstich vorbereite. Ich bin im Nebenraum und damit zu weit weg, um auf die Frau eingehen zu können. „Sie haben doch keine Ahnung, wie es ist, krank zu sein!!”, ruft die Frau weiter. Der Patient vor mir im Stuhl schaut mich mitleidig an. Ich lächle ihn an. Durch meinen Mundschutz erkennt er das nur an meinen Augen. Ich habe mir vor langer Zeit geschworen, dass niemand außer mir selbst meine Laune bestimmen kann. Diese Einstellung verleiht mir eine gewisse Resilienz. Dennoch bin ich ja nicht aus Stein. Als ich fertig bin, verabschiede ich mich von dem Mann und gehe zu der ungeduldigen Patientin. Ich spreche mit ihr, erkläre ihr, dass alle hier warten. Dass wir Notfälle haben, denen es mitunter lebensbedrohlich schlecht geht, dass wir so schnell machen wie wir können. Doch wir müssen irgendwo Prioritäten setzen. Sie versteht es. Alle verstehen es – wenn man die Hintergründe kennt: Personalmangel, Menschen, die in einer 9-Stunden-Schicht Anspruch auf eine Mahlzeit haben, Krankheitsausfälle. Aber woher soll man das als Patient:in wissen?
Wie fühle ich mich also, wenn mir Beschwerden entgegengebracht werden, weil die Wartezeit so lang ist? Nicht so schlimm, wie wenn wir alles therapeutisch Mögliche versucht haben und ein neues Rezidiv auftaucht. Inwieweit kann ich es mir leisten, Mitgefühl aufkommen zu lassen, ohne selbst daran zu zerbrechen? Nicht so richtig lange. Man könnte meinen, der aus gestellten Erwartungen resultierende Druck auf mein Team und mich kann zermürbend sein. Ich ignorierte das anfangs, so gut ich konnte. Genauso wie den Umgang mit dem Gedanken: Was, wenn alles nicht ausreicht? Oder: Ich verdiene hierfür vergleichsweise viel zu wenig Geld!! Ist der Aspekt egoistisch? Ich finde, nein. Unsere Arbeit rettet und verändert Leben. Mittlerweile denke ich darüber nicht mehr nach.
Konzentration ist gefragt, damit mir kein Fehler passiert. Ich arbeite mit Menschen, nicht mit Papier. Oder Zahlen. Die ohne den hausgemachten Deadline-Druck oder drängende Chef:innen bestimmt geduldiger sind als lebende Menschen. Das ist keine Wertung, aber doch ein Fakt, der bedeutet: Fehler wären mitunter lebensbedrohlich. Dass dies nicht passiert, verhindern wir, indem wir regelmäßig Fort- und Weiterbildungen absolvieren und genaue Maßgaben anhand von Standards befolgen, die uns offiziell zertifizieren.
Jeden Tag versuche ich mir klarzumachen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, gesund zu sein. Wie oft, wenn ich von den Therapien gebeutelte Chemo-Venen vor mir habe, denke ich einfach nur pragmatisch: „Wie bekomme ich am schnellsten jetzt dein Blut aus dir raus?“ Daran ist für mich absolut nichts Unnormales. Andere Leute würden denken: „What??! Wie crazy ist dieser Gedanke bitte?“ Von manchen Patient:innen werde ich scherzhaft “Vampir” genannt – so alltäglich ist die Prozedur. Stichwort: Abgestumpft. Ich will nicht abgestumpft sein, aber in Teilen bin ich es. Ich habe mir angewöhnt, täglich wahrzunehmen, dass die Lebensrealität unserer Patient:innen nicht die meine ist. Ich bemühe mich, konstant auf dem Schirm zu haben, warum die Person vor mir beispielsweise so aufgeregt ist – und schiebe meine privaten Belange für diese Zeit weit von mir weg.
Zusammenhänge schnell erfassen, Lösungen finden, fair agieren – ich versuche, das jeden Tag umzusetzen. Für Menschen, die genau das brauchen: Hoffnungsträger:innen und Lichtblicke in einem erbarmungslosen Krebs-Alltag, der von einem zerklüfteten Nervenkostüm, Mutlosigkeit, Dauermüdigkeit, martialischer Übelkeit, Kotzkrämpfen und damit einhergehender Appetitlosigkeit, beängstigendem Gewichtsverlust sowie radikalem Haarausfall während der Therapie geprägt ist. Dass sich das privat verändernde Umfeld und der plötzlich fehlende Berufsalltag jüngerer Patient:innen zusätzlich heftig auf den Gemütszustand auswirken, davon fange ich gar nicht erst an, weil ich es nur schemenhaft erahnen kann.
Dass ich meinen Job gern mag, das war nicht immer so. Ich fragte mich früher, ob ich eine Rolle spielen muss, um dem surreal krassen Berufsalltag gerecht zu werden. Das kam daher, weil die diversen Diagnosen – gefühlt – so unkontrolliert und dauerhaft in meiner Wahrnehmung präsent sind, dass ich selbst zur Hypochonderin mutierte. Zu Recht, wie ich finde – weil Krebs statistisch gesehen jede zweite Person trifft. Mittlerweile habe ich erkannt, dass ich selbst entscheide, welchen Stellenwert ich meinem Wirken in der Klinik zuschreibe – nämlich einen sehr wertvollen. Darauf bin ich stolz. Meine pflegerischen und ärztlichen Kolleg:innen sind unter der Woche täglich mindestens bis 15 Uhr für die Menschen da, die eine Behandlung benötigen. Wenn die Therapien sich zeitlich überziehen, auch öfter bis 17:30 Uhr. Das ist vielen Leuten gar nicht klar, aber mit Menschen zu arbeiten bedeutet auch, dass man nicht einfach aufstehen und gehen kann, wenn die Arbeitszeit um ist.
Um 13 Uhr verlasse ich die Klinik und setze mich in meinen Honda, um die Kinder von der Schule zu holen – und drücke im Michael Jackson-Folder bei 2000 Watts auf Play.
ILLUSTRATION: MARC LEWIS RAMAGE
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
Ist seit 2021 Redakteurin & Lektorin bei DIEVERPEILTE. Arbeitet in einer onkologischen Tagesklinik und veröffentlichte 2020 ihr erstes Buch. Ihre Themenschwerpunkte sind Gesellschaft und Bewusstsein.