Ich lebe im Jetzt. Ich lebe. Vor sechs Jahren lebte ich nicht. Ich war gefangen, in meinen Gedanken, in einem Teufelskreis, der sich meiner bemächtigt hat. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind schwammig. Jedes Mal, wenn ich versuche, eine vergangene Szene zu rekonstruieren, rinnen mir die Details wie Sand durch die Finger. Es ist, als würde ich versuchen, Rauch zu fangen. Ich war ein Kind, verloren in der Verwirrung der Pubertät, das krampfhaft versucht hat, erwachsen zu sein. In meinem hormongesteuerten Wahnsinn hatte ich das Gefühl, niemand würde mich jemals wirklich verstehen können, niemand wäre in der Lage, meine Gedanken nachzuvollziehen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie richtig ich mit diesem Gefühl lag. Die Wochen zogen an mir vorbei, ohne dass mir wirklich bewusst wurde, dass die Zeit verging. Ich fiel immer tiefer in mein Loch aus Zweifeln und Unsicherheit, verlor mich in der surrealen Welt meiner Gedankenkonstruktionen. Mit dem Vorschreiten der Dunkelheit entglitt mir mehr und mehr der Bezug zur Realität und ich vergaß, was ich auf dieser Welt wollte. Das Leben war eine Belastung, lebendig sein ein Kampf.

Ich bin eine zwanzigjährige Studentin, beschäftige mich mit Kunst und Philosophie und noch immer vergesse ich, dass ich wirklich lebe. Oft entgleite ich mir selber, ich flüchte mich in fiktive Geschichten und versuche die Wirklichkeit auszublenden. Immer wieder frage ich mich, wieso ich lebe, wo mein Platz auf dieser Welt ist. Aber heute weiß ich, dass der Ausweg aus diesem Irrgarten nicht der Tod ist. Es ist die Suche. Die Suche nach meinen Wurzeln, nach meiner Leidenschaft, die Suche nach den Wegen, die noch vor mir liegen. Die Antwort auf alle Fragen ist kein Satz, es ist der Weg zu mir selbst, die Suche nach der Person, die ich sein möchte. Ich bin ich und ich habe eine Vergangenheit. Ich weiß nicht, wer ich sein will, aber ich weiß, dass ich es herausfinden werde. Lange Zeit verleugnete ich mich selbst. War nicht stark genug, um mir einzugestehen, dass ich gefallen war und alleine nicht mehr aufstehen konnte. Ich war nicht reif genug, um zu begreifen, dass es in Ordnung ist, zu fallen.

Ich möchte meine Gefühle darstellen, nicht die chronologische Folge der Ereignisse. Ich möchte zeigen, wie es in meinem Inneren aussah und wie jeder Abgrund vielmehr ein fiktives Loch in meinen Gedanken war. Oft wird vergessen, wie schwerwiegend die falsche Wahrnehmung einer von Depression geplagten Person ist, aber genau dort sitzt doch die Wurzel der Verdammnis. Ich war mir der Tatsache, dass ich vieles falsch wahrnehme, stets bewusst, ich wusste, dass viele meiner Gedanken eigentlich nur Produkte meiner Krankheit waren, ich konnte zwischen der Realität und der Fiktion in meinem Kopf unterscheiden. Und doch nahmen mich die Klauen der Wahnvorstellungen manchmal gefangen, ich verlor den Glauben in die Wahrheit der objektiven Welt, obwohl ich noch immer wusste, was Realität ist. Es war zum Verrückt werden! Ich hing in einer schwerelosen Mitte. Ich konnte nicht in der Realität leben und meine Krankheit ergriff Besitz von mir. Gleichzeitig war ich mir diesem Zustand ständig bewusst. Wahrscheinlich war dieser Zwiespalt der Anfang eines sachten Risses, der sich durch mein Leben ziehen sollte. Es ist seltsam, für diese Ereignisse Worte zu finden, denn ich rekonstruiere meine Gefühle durch Darstellungen. Ich versuche ein exaktes Bild von mir zu malen. Oft habe ich mich gefragt, ob und wie mich diese Zeit nachhaltig beeinflusst hat. Vielleicht ist der einzige Weg, um zu verstehen, wen das aus mir gemacht hat, der des Zurückgehens.

Vieles ist passiert, vieles davon liegt schon weit zurück. Auch hier liegen die Gründe für meinen emotionalen Kollaps. Alles in mir hat sich überschlagen, ich wurde von jedem Gefühl überflutet und verlor mich in einem Strudel aus Chaos. Ich brach zusammen, stand wieder auf, verleugnete meine Gedanken, versuchte, mich zu belügen. Ich verzweifelte an mir selbst und dieser Welt. Dieser schrecklichen und dunklen Welt, die mich mit ihrer Grausamkeit verschlang. Es überkommt mich noch immer ein weltumspannender Schmerz, wenn mir bewusst wird, wie falsch die Entwicklungen in dieser riesigen Gesellschaft sind. Die Menschheit kommt mir blind vor und ich kann die gängigsten Intentionen nicht verstehen, einfach weil sie mir absurd erscheinen. Macht, Geld und Einfluss. Eine schwachsinnige Wahl für einen Wertmaßstab. Kein Mensch will allein sein und doch handeln die meisten so, als wären sie es. Manchmal schmerzt die Unaufmerksamkeit der Menschen, diese unbeabsichtigte Rücksichtslosigkeit, so tief, dass ich mich gezwungen fühle, mich zu fragen, ob sich das Leben überhaupt lohnt, ob ich wirklich leben möchte. Ich hatte immer Angst, meine wahren Gedanken auszusprechen und mitzuteilen, denn auch mir erscheinen sie manchmal sehr düster und ich wollte nicht, dass andere Menschen denken, ich sei gestört. Vielleicht bin ich das, vielleicht auch nicht, vielleicht fühle ich einfach nur sehr intensiv.

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Aber zurück zum Anfang, zurück in meine schwarze Zeit.

Diese Bezeichnung mag sich dramatisch anhören, aber sie umreißt meinen Zustand zu exakt, als das ich bessere Worte finden könnte. Meine Welt wurde von einer Dunkelheit überzogen, die nur ich wahrnehmen konnte, die nur für mich existierte. Alles verlor sich in einem undurchdringlichen Nebel, der in meinen Gedanken waberte. In mir war alles und gleichzeitig nichts, da war so viel, es war so intensiv und so unaussprechlich. Ich konnte nicht darüber reden, weil ich Angst hatte, falsch verstanden zu werden, weil ich Angst hatte, es nicht sachgerecht ausdrücken zu können. Mir fehlten die Worte und ich zweifelte zeitweise daran, ob überhaupt passende existieren.

Irgendwann war mir nicht nur der Bezug zur Außenwelt entglitten, sondern auch die innige Verbindung zu mir, zu meiner Person. Ich wusste nicht mehr, wer ich war und ich sah keine Möglichkeit, mich wiederzufinden. Verzweifelt hielt ich mich an dem fest, was mir geblieben war und das war nichts anderes als meine depressiven Gedanken. In meinem Kopf war ein Universum entstanden, eine eigene kleine Welt, die nichts mehr mit irgendeiner Realität gemein hatte. Dort existierten nur meine Gedanken, nichts als krankhafte Verzerrungen, die mich an den Rand der Verzweiflung trieben. Die Kontrolle entglitt mir und ich ließ mich fallen, ich war nicht mehr bereit, die Kraft aufzubringen, um gegen mich selber anzukämpfen. In meinem Geist hatte sich die unumstößliche Vorstellung eingenistet, dass ich diese Schlacht nicht gewinnen könnte. Das Gefühl, sich ständig im freien Fall zu befinden, umschloss mich sacht und meine gesamte Welt geriet ins Wanken.

Etwas in mir zerbrach, ich weiß nicht, was es war, aber ich spürte es mit einer nie gekannten Intensität. Ich glaubte, mein Herz würde zerreißen, einfach in zwei Hälften fallen, weil es diesem innerlichen Druck nicht mehr standhalten konnte. Ich spürte den Schmerz, er war da und er war real. Aber nicht greifbar. Wie ein abstraktes Konstrukt, eine Produktion meiner selbst. Zeitweise glaubte ich, verrückt zu werden. Das, was ich empfand, schien größer als ich selber und wenn es über mich hereinbrach und mich unter sich begrub, wurde aus diesem Viel ein großes Nichts. Mit einem Mal war das nichts mehr, das ich empfinden konnte, von einer Sekunde auf die andere war meine Gefühlswelt wie ausgelöscht. In mir entstand eine Leere, die viel präsenter war als all der Schmerz. Da war nichts und das muss man sich wortwörtlich vorstellen. Ich wusste nicht mehr, ob ich überhaupt noch lebendig war und dieser Zweifel grub sich so tief in mich hinein, dass er alles andere überschattete. Ich konnte ihn nicht mehr loswerden und nichts tun, um ihn zu negieren. Ich stand mir selber machtlos gegenüber, ich hatte mich und damit auch all mein Selbstvertrauen verloren.

Ich beschloss, mich auf eine Reise zu begeben, eine Reise, deren Ziel ich nicht kenne. Noch weiß ich nicht, was mich erwarten wird. Es wird nicht leicht, aber nichts erschien mir je notwendiger. Denn um zu wissen, wer ich sein will, muss ich herausfinden, wer ich war.

 

Fotos & Text by Clara Schaeder.

 

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