WARNUNG: Die Inhalte behandeln sensible Themen wie sexuellen Missbrauch und eine Essstörung und können bei einigen Menschen Unwohlsein, belastende Erinnerungen oder auch Flashbacks auslösen.
„Spinnen, Geister, Dunkelheit und Dobby, der Hauself aus Harry Potter.“Das hätte ich im Kindergarten wie aus der Pistole geschossen antworten können, wenn mich jemand nach meinen größten Ängsten gefragt hätte.
Während meiner Grundschulzeit kam eine neue beängstigende Emotion zu meinen bereits existierenden Ängsten hinzu: Die Furcht, auf dem Weg von der Schule nach Hause von fremden Männern entführt zu werden. Auf dem Schulhof wurden immer häufiger Geschichten über solche schrecklichen Vorfälle in anderen Städten erzählt und so entwickelte ich eine permanente Angst vor dem Heimweg. Insofern begann ich schon in der dritten Klasse zu verstehen, was es bedeutete, in einem weiblich gelesenen Körper geboren zu sein und wie diese Erkenntnis meine Wahrnehmung von Sicherheit und Freiheit beeinflussen würde.
Da ich in einem kleinen, recht behüteten Dorf aufwuchs, ließen mich meine Eltern bereits im Alter von acht Jahren immer alleine mit dem Fahrrad zu Freund:innen oder zum Fußballverein fahren. Das achtsame über-die-Schulter-schauen auf dem Weg dorthin wurde zur Selbstverständlichkeit, bevor ich zehn Jahre alt wurde. Die ständige Sorge, dass mir etwas Ähnliches wie den vermissten Kindern aus dem Radio passieren könnte, machte mir Angst und stimmte mich extrem paranoid und misstrauisch. Dennoch führte diese Angst aber auch dazu, dass ich in der Öffentlichkeit gut auf mich aufpasste, um mich bestmöglich vor potenziellen Gefahren zu schützen. Das tat ich zum Beispiel, indem ich mit meinem ersten Handy, das mir meine Eltern für Notfälle gaben, ein Telefonat simulierte, um auf mögliche, mir gefährliche Menschen weniger angreifbar zu wirken. Von dieser Methode, die vermutlich Tausende Frauen auf ihrem Weg nach Hause anwenden, erfuhr ich durch Gespräche meiner Mutter mit meinen älteren Schwestern, die zu dem Zeitpunkt im Jugendalter waren und anfingen abends länger auszugehen. Meiner Mutter war damals nicht bewusst, dass ich aufmerksam zuhörte. Die Tatsache, dass meine Mutter, meine Schwestern derartig warnte und ihnen Tipps gab, wie sie sich verteidigen könnten, machte mir umso mehr bewusst, dass man sich als weibliche Person in der Öffentlichkeit zu schützen hat.
In jener Zeit ahnte ich jedoch nicht im Geringsten, dass all diese Schulterblicke und das Ausweichen auf die andere Straßenseite und das aufmerksam sein, sobald ich alleine war und einem fremden Mann begegnete, mich nicht vor meiner damaligen größten Furcht – jenseits der bereits erwähnten Angst vor Spinnen – beschützen würden. Ich erkannte nicht, dass Männer trotzdem in der Lage sein könnten, mich zu verletzen. Und dafür mussten es noch nicht einmal Männer sein. Dafür reichte es, ein fünfzehnjähriger Junge zu sein. Außerdem mussten sie mich dafür auch nicht auf offener Straße antreffen. Es war ausreichend, mich in einer Situation zu erwischen, in der ich am wenigsten ängstlich und somit am wenigsten vorsichtig war. Betrunken und dementsprechend enthemmt. Mit vierzehn Jahren und daher noch unerfahren. Pummelig und dadurch unsicher. Verliebt und somit gutgläubig.
Auf einmal war ich fünfzehn und mein größtes Horror-Szenario trat ein. Jedoch nicht in der Form, vor der ich in meiner Kindheit gewarnt wurde. Nicht in einer Art und Weise, vor der mich meine Angst vor Fremden hätte beschützen können. Viel mehr festigte diese jahrelange Paranoia in meiner Kindheit den Stereotypen des Pädophilen als Vergewaltiger in mir, weshalb es mir überhaupt nicht in den Sinn kam, dass auch vor den scheinbar netten Jungs Vorsicht geboten war.
Durch diesen Trugschluss habe ich mich unmittelbar nach besagtem Ereignis sehr allein gefühlt und mich zunächst selbst für die Geschehnisse verantwortlich gemacht. Ich war ja schließlich sehr betrunken und hätte falsche Signale gesendet haben können. Rückblickend ist mir bewusst, dass diese Denkweise eine Reaktion auf das gesellschaftlich so weit verbreitete Victim-Blaming war, bei der die Schuld für einen solchen Vorfall beim Opfer gesucht wird. Obwohl ich bis dahin noch niemanden von meinem Erlebnis erzählt hatte, begann ich meine eigene Urteilskraft über diesen Abend aufgrund des Alkoholeinflusses zu hinterfragen. So fand die gezielte Verunsicherung von Opfern sexueller Gewalt schon durch mich selbst statt. Dementsprechend wollte ich mich mit dem Gedanken abfinden, Gras über den Vorfall wachsen zu lassen. Wie sollte mir nämlich jemand glauben, wenn ich es selbst nicht einmal tat?
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, empfinde ich so viel Mitgefühl für mein jüngeres Ich und würde dieses Mädchen am liebsten fest in den Arm nehmen, um ihr zu versichern, dass sie irgendwann den Mut finden wird, das Geschehene aufzuarbeiten und dass sie Menschen haben wird, die dabei für sie da sind und sie nicht enttäuschen werden.
Allerdings empfinde ich auch heute noch das Gefühl einer gewissen Hilflosigkeit, wenn ich darüber nachdenke, dass etliche Mädchen dasselbe wie ich damals durchmachen müssen. Zumal sexuelle Gewalt den Alltag von Jugendlichen viel deutlicher prägt, als ich es einst vermutet hatte.
Laut der repräsentativen Speak!-Studie, die Jugendliche aller Schulformen im Alter von 14 bis 16 Jahren zu ihren Erfahrungen mit sexueller Gewalt befragte, haben bereits 23 Prozent der Jugendlichen körperliche sexuelle Gewalt erfahren. Dazu zählen intime Berührungen gegen den eigenen Willen, die schon jedes dritte der befragten Mädchen erlebt hat, bis hin zu erzwungenem Sex. Weibliche Personen sind hierbei, egal in welchem Ausmaß die körperliche sexuelle Gewalt stattfand, deutlich häufiger betroffen als männliche Personen. Nicht-körperliche sexuelle Gewalt wie sexuelle Belästigung im Internet, Exhibitionismus oder unangemessene, anzügliche Kommentare und Gesten wurden sogar von 48 Prozent der befragten Jugendlichen erfahren. Als besonders risikoreiche Orte für solche Vorfälle gelten laut besagter Studie besonders öffentliche Räume wie Veranstaltungen und Partys, aber auch die Straße und fremde private Räume wie eine andere Wohnung und geschlossene Partys.
Die sexuellen Übergriffe, die Frauen in meinem persönlichen Umfeld erleben mussten, fanden in den meisten Fällen auch bei Feierlichkeiten statt. Bei mir entstand außerdem der Eindruck, dass Außenstehende und Bekannte auf diese Vorfälle je nach Situation sehr unterschiedlich reagierten. Wenn es zu Übergriffen bei öffentlichen Partys durch fremde Männer kam, schien mein Umfeld sehr schockiert und glaubte den Opfern auf Anhieb. Sobald ich oder eine meiner Freund:innen jedoch bei einer privaten Party von einem Bekannten belästigt wurde, reagierten Außenstehende unsicher und wenig entschlossen, sich vollständig mit dem Opfer zu solidarisieren. Vielleicht lag es daran, dass man Personen aus dem eigenen Umfeld, eventuell sogar einem Freund, ein solches Verhalten weniger zutraut. Möglicherweise wollte man die Vorfälle auch aufgrund des eigenen Harmoniebedürfnisses heraus totschweigen.
Die Täter körperlicher sexueller Gewalt waren laut der Speak!-Studie allerdings meistens männliche Mitschüler oder Freunde, weshalb es umso wichtiger ist, dass Opfern unabhängig von ihrer Beziehung zum Täter Glauben geschenkt wird.
Ich persönlich habe mir außerdem lange die Frage gestellt, warum keiner meiner Freund:innen oder sonstigen Außenstehenden, die mitangesehen haben müssen, dass ich gegen meinen Willen berührt oder geküsst wurde, eingegriffen haben. Für mich war es naheliegend zu glauben, dass sie gedacht haben müssen, ich hätte nichts dagegen gehabt. Der Gedanke, dass ich mich augenscheinlich nicht gewehrt haben muss, weil sonst ja sicherlich jemand etwas dagegen getan hätte, verstärkte in mir die eigenen Schuldgefühle. Ach Sina, du brauchst dich nicht wundern, dass niemand eingegriffen hat, wenn du die Küsse und Berührungen einfach über dich ergehen lassen hast.
Oft findet sexuelle Gewalt im Verborgenen statt, doch laut der Speak!-Studie haben siebzig Prozent der befragten Jugendlichen sexuelle Gewalt schon mindestens einmal beobachtet. Dass so ein hoher Anteil der Befragten sich daran erinnerte, einen solchen Vorfall bezeugen zu können, lässt mich realisieren, dass ein Bewusstsein für übergriffiges Verhalten in dieser Altersgruppe durchaus besteht und die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Außenstehende aus anderen Motiven heraus tatenlos bleiben. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Bekannten, der behauptete, „er wolle sich nicht für eine Seite entscheiden“, nachdem einer seiner Freunde einer anderen Person aus seinem Umfeld sexuelle Gewalt zufügte.
Die Erkenntnis, dass ich mit dem Missbrauch nicht allein bin, kam allerdings erst deutlich später und so war ich zunächst mit meinen überfordernden Gefühlen alleine. Als sei eine Bombe eingeschlagen, änderte sich das Empfinden von Angst für mich in diesem Alter schlagartig. Zuvor traten ängstliche Gefühle nur in Momenten auf, die rational bedrohlicher als andere schienen oder wenn ich mit meinen Urängsten, wie zum Beispiel Dobby, konfrontiert wurde. Dadurch konnte ich sie gut einordnen und kontrollieren.
Doch nun war eine undefinierbare Furcht, deren Ursache ich nicht einmal benennen konnte, ständig präsent. Sie entzog sich mir jeglicher Kontrolle und begleitete mich in den alltäglichsten Situationen wie dem Sitzen im Klassenzimmer, begleitet in Form von Panikattacken. Als Kind zeigte sich meine Angst noch durch hysterisches Losschreien, sobald ich eine Spinne sah. Doch nun spielte sich meine Angst vor allem im Stillen ab, unsichtbar für andere, aber dennoch zermürbend in meinem Inneren. In meinem Kopf fühlte es sich dann an, als würde er ganz heiß werden, sobald die Tränen in meine Augen schossen. In meinen Adern spürte ich, wie sich das Blut durch den erhöhten Pulsschlag überschlug. In meiner Brust zog sich alles immer weiter zusammen, begleitet von meiner zunehmend schnellen Atmung.
Früher schien es, als würde das Gefühl der Angst von außen kommen und dann einfach an mir vorbeiziehen, sobald die potenzielle Gefahr außer Reichweite war. Doch nun hatte die Angst tief in meinen Knochen ein Zuhause gefunden, wie in einem Palast, den sie mit einem Zepter erhaben regierte.
So wie viele Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, gab ich mir selbst die Schuld für den Vorfall. Nicht zuletzt beeinflusst durch die Worte meiner damaligen besten Freundinnen, die mir ständig vorhielten, wie betrunken ich doch gewesen sei. Da der Täter bei meinen Freundinnen außerdem als recht attraktiv galt, schienen sie sich nicht wirklich vorstellen zu können, dass es mir nicht gefallen hat, von ihm „begehrt“ zu werden. Und so begann ich ein schädliches Denkmuster zu stricken, das mich glauben ließ, dass ich nicht vor anderen, sondern mir selbst Angst haben sollte, da ich ja die Schuldtragende gewesen sei. Von diesem Zeitpunkt an, damals war ich fünfzehn Jahre alt, durchdrang mich eine extreme Unsicherheit, weil mich der Gedanke nicht losließ, dass mein Körper „das Böse“ angezogen habe und deshalb auch selbst eine Schande sei.

Diese fast schon dämonisch anmutende Angst vor mir selbst spürte ich besonders intensiv während einer Panikattacke, die in Wut umschwang und mich dazu brachte, mich auf dem Boden zu krümmen, zu weinen, zu verkrampfen und meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, als bräuchte ich einen Exorzisten. Ich wusste nicht, wie diese Panikattacke enden sollte oder wie ich mich beruhigen könnte, weshalb ich den Drang verspürte, meine Arme aufzuschneiden. Ich dachte, so würde dieses Gefühl, welches mich tief in mir so sehr quälte, wie eine Sintflut in Form von Blut aus meinen Adern fließen und meinen Körper wieder reinwaschen, in der Hoffnung, dann von all der Schande und Schäbigkeit, die ich empfand und vor allem von ihm, dessen Fingerabdrücke auf meinem Körper nur ich sehen konnte, gereinigt zu sein.
Von so viel Selbsthass überwältigt, beschloss ich, mich selbst auflösen zu wollen, hörte zu essen auf und geriet in eine Essstörung. Gelähmt von meinen Angstzuständen, war ich nicht fähig, meine Gefühle zu kommunizieren und mir Hilfe zu suchen. Deshalb sah ich es als einzigen Ausweg, mein Äußeres so ungesund und miserabel wie mein Inneres aussehen zu lassen, damit mein Umfeld merken würde, dass ich gerettet werden müsse. Dies war der einzige Hilfeschrei, den ich ausstoßen konnte, schließlich war meine Kehle zu sehr von meiner Angst zugeschnürt.
Obwohl mein Umfeld merkte, dass ich nicht nur Gewicht, sondern auch Lebensfreude verlor, hat es lange gedauert, bis sich ernsthaft nach mir erkundigt wurde. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass mir mein Lehrer eines Tages sehr vorsichtig mitteilte, dass ihm meine Gewichtsabnahme Sorgen bereite. Er habe sich allerdings monatelang darüber Gedanken gemacht, ob es angemessen sei, mich darauf anzusprechen, oder ob er mir damit zu nahe treten würde. Es klang für mich so, als wäre es ihm etwas unangenehm, so eine persönliche Konversation mit seiner Schülerin zu beginnen, aber ich habe mich gefreut, dass mir jemand das Gefühl gab, gesehen zu werden. Am Ende des Gespräches betonte ich deshalb, dass es die richtige Entscheidung war, mir Hilfe anzubieten. Gerne hätte dies natürlich schon eher geschehen können, doch ich kann es auch nachvollziehen, dass zu Schüler:innen eine höfliche und professionelle Distanz zu wahren ist. Problematisch wird es allerdings, wenn diese Distanz dem pädagogischen Auftrag von Lehrer:innen im Weg steht, weshalb er wohl auch die einzige Lehrkraft war, die sich jemals nach meinem Wohlbefinden erkundigte. Mit der Zeit teilten mir aber immer mehr Menschen aus meinem Umfeld mit, wie sehr sie sich um mich sorgten und ich erinnere mich an jede einzelne Person, die mir so etwas Beistand zeigte. Selbst wenn es nur die Nachfrage war, ob bei mir alles in Ordnung sei, hat dies einen immensen Unterschied für mich gemacht und mir gezeigt, dass ich nicht alleine bin.
Inzwischen bin ich neunzehn Jahre alt. Obwohl ich die Vergangenheit immer noch mit mir herumtrage, wird mein Gang dabei immer aufrechter und weniger schleppend. Ich habe keine Angstattacken mehr und wenn man mich heute fragt, wovor ich Angst habe, kenne ich darauf keine klare Antwort mehr. Mit Spinnen habe ich gelernt zu leben und Dobby finde ich mittlerweile sogar sympathisch. Allerdings bin ich nach wie vor tief eingeschüchtert von Männern und dieses Misstrauen zeichnet sich auch in meinen zwischenmenschlichen Beziehungen, leider vor allem in der Liebe, ab. Obwohl ich für Sexualpartner Vertrauen und Liebe empfand, fühlte ich mich beim Sex gelegentlich trotzdem unwohl, ängstlich und überfordert.
Laut der Paar- und Sexualtherapeutin Angelika Eck seien solche körperlichen und psychischen Reaktionen auf sinnliche Berührungen nach bedrohlichen Erfahrungen nachvollziehbar. Reize wie intime Gerüche, Berührungen oder visuelle Eindrücke können vergangene Erinnerungen an die traumatische Situation abrufen und automatische Gefühls- und Körperreaktionen wie Ekel oder Angst hervorrufen. Um diese Zustände langfristig zu überwinden, seien nach Eck passende Traumatherapien hilfreich. Die physische Verletzung einer solchen Erfahrung ist nämlich das eine, doch das dadurch entstandene Trauma eine ganz andere Herausforderung.
Traumata treten laut Informationen der Deutschen Traumastiftung nach belastenden Ereignissen oder Situationen, die häufig mit Gewalteinwirkungen verbunden sind, die man kaum oder gar nicht verarbeiten kann, auf. Dass ich vermutlich unter einem Trauma zu leiden hatte, wurde mir am deutlichsten durch die physischen Symptome, die dies mit sich brachte, bewusst. Wie bereits erwähnt traten bei mir Panikattacken, begleitet von plötzlichem Zittern, Atemnot und Schüttelfrost auf. Hinzukamen außerdem kognitive Symptome wie Konzentrations- und Gedächtnisverlust sowie dem Problem leichtfertig freie Entscheidungen zu treffen. Da sich diese Symptome meistens schleichend entwickeln, fällt es Betroffenen häufig schwer, sie als Folge eines Traumas zu identifizieren.
Durch diese Symptome, die langfristig zu einem Verlust an Lebensfreude- und Qualität führen, habe ich in meiner damaligen Situation geglaubt, ich könnte nie wieder in der Lage sein, ein glückliches Leben zu führen. Doch sobald ich therapeutische Hilfe in Anspruch nahm, gelang es mir, das Geschehene aufzuarbeiten und die damit einhergehenden Wunden zu heilen. Angesichts der verheerenden möglichen Folgen eines Traumas wie Posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen, Schlafstörungen oder dem Entwickeln von Alkohol- und Drogenproblemen war dies ein wichtiger Schritt.
Durch meine eigenen Erfahrungen und den Erlebnissen der Frauen in meinem Umfeld ist mir bewusst geworden, wie schnell es zu solchen sexuellen Übergriffen und alltäglichem Sexismus kommen kann. Aber dieses Bewusstsein lähmt mich nicht mehr, auch wenn es mich daran erinnert, nicht auszuschließen, dass es in der Zukunft wieder zu ähnlichen Situationen kommen kann. Gewissermaßen habe ich die Tatsache, dass weiblich gelesene Personen vermutlich mein ganzes Leben lang noch in Unsicherheit leben werden, akzeptiert, was jedoch nicht bedeutet, dass ich diesen Fakt resignativ hinnehme. Vielmehr habe ich nach all den Jahren, in denen mich die Angst vor einem weiteren sexuellen Übergriff kontrollierte, die Weisheit eines Heilungsprozesses errungen. Ich weiß nun, dass all der Selbsthass, den ich in mir trug, in genau diesem Irrtum lag.
Natürlich besteht die Möglichkeit, dass mir in der Zukunft wieder Gewalt angetan wird. Doch anstatt deshalb in Angst zu leben, bin ich mittlerweile zuversichtlich, diese Kämpfe dann deutlich erhabener zu bestreiten, weil ich weiß, dass ich diesen Kampf schon einmal gewonnen habe. Selbstverständlich braucht es viel mehr als nur Selbstakzeptanz, um Traumata zu überwinden. Lange Gespräche, professionelle Hilfe und manchmal auch Genugtuung sind gleichermaßen wichtig, um emotionale Distanz zu unseren Ängsten und den Erlebnissen, die diese verursacht haben, zu kreieren. Auf der Internetseite hilfe-portal-missbrauch.de gibt es die Möglichkeit, sich über Hilfsangebote, egal ob online oder lokal, zu informieren. Außerdem ist es für mich entscheidend gewesen, mich nur mit Personen zu umgeben, die mir hierbei eine Stütze darstellten, statt mein Selbstbewusstsein, das unter dem traumatischen Erlebnis ohnehin gelitten hat, noch weiter zu untergraben, indem man mir Schuldgefühle einredete.

Auf diese Weise konnte ich die Angst, die ich jahrelang tief innerlich spürte, wie eine Made, die sich durch meine Eingeweide frisst und mich krank macht, ablegen. Ich erkannte, dass der Moment des körperlichen Missbrauchs, der mich mental viele Jahre verfolgt hat, vorbei ist und ich auch aufhören kann, mich selbst zu verletzen. Die Angst ist nämlich kein Teil von mir, der sich permanent an mich heftet. Ich bin nicht die Person, die Schuld an meiner Situation hat, und es gibt auch keine bösen Dämonen, die meinen Körper besetzen. Nur ich allein lebe in ihm und deshalb erlaube ich mir, mich sanft in den Arm zu nehmen, um mir zu sagen: „Du bist in Sicherheit.“
AUTORIN: SINA S., ALLE BILDER: IVAN SCHREMF
Wenn du Hilfe zur Bewältigung von sexueller Gewalt oder anderen traumatischen Erfahrungen benötigst, kann spezialisierte Psychotherapie sehr hilfreich sein. Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die eine zusätzliche Ausbildung im Umgang mit Traumata haben, findest du unter anderem auf der Website des Bundesjustizministeriums. Du kannst auch in der Therapeut:innensuche der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) nach geeigneten Therapeut:innen suchen. Es gibt verschiedene Ansätze zur Traumabewältigung, darunter die Methode Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDRIA) und die traumazentrierte Körperpsychotherapie, die auf der Methode Somatic Experiencing basiert.

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