Sommer 2011: Ich betrete die Beratungsstelle. Es ist ein freundlicher, heller Raum. Auf dem Tresen steht ein Korb mit Kondomen. Der Mann dahinter begrüßt mich nett und sagt mir, dass ich ihm anstatt meines Namens eine Kombination aus den Buchstaben des Vornamens meiner Mutter und ihrem Geburtsdatum geben solle, um anonym zu bleiben. Mein Brustkorb ist verengt, mein Herz schlägt schneller und mir wird ein wenig schwindelig. Es ist mein erster HIV-Test.
Ich setze mich ins Wartezimmer, in dem auch schon viele andere zitternde Menschen sitzen. Nach gefühlten Stunden bin ich dran. Der Mann, der mir erklärt, was es genau braucht, um sich mit HIV anzustecken, ist nett und ich beruhige mich etwas. Er nimmt mir Blut ab und sagt, dass ich in einer Woche wiederkommen soll, um das Ergebnis abzuholen. Immer noch mit einem engen Gefühl in der Brust verlasse ich das Gebäude.
Den Grund meines Testes würde ich gerne schönreden, aber das geht nicht: Ein paar Monate zuvor hatte ich ungeschützten Sex. Ich kannte meinen Sexualpartner, weshalb ich nicht groß über mögliche Konsequenzen nachdachte. Und obwohl er mir versicherte, dass mit ihm alles in Ordnung war und er sich regelmäßig testen ließ, wurde ich panisch — nicht zuletzt, weil ich auch wusste, dass er kein Kind von Traurigkeit war. Da eine HIV-Infektion erst nach Wochen des möglichen Risikokontakts festgestellt werden kann, habe ich drei Monate gewartet, um ein eindeutiges Testergebnis zu bekommen. Aber diese eine Woche, bevor ich mein Ergebnis endlich bekomme, kommt mir länger vor als die Monate zuvor.
Ich bin froh, dass ich den Test anonym und kostenlos in einer Beratungsstelle der Aidshilfe, in einem Gesundheitsamt oder anderen Checkpoints machen kann. In der Praxis meines damaligen Hausarztes hätte ich vorwurfsvolle Blicke der Sprechstundenhilfe oder meines Arztes befürchtet. Außerdem kostet der Test dort 15 bis 20 Euro. Geld, das ich nicht ausgeben will. Heutzutage gibt es HIV-Selbsttests, die bei der Aidshilfe, im Internet, in Apotheken oder Drogerien erhältlich sind – das wäre eigentlich das Beste gewesen: anonym, schnell und 12 Wochen nach dem möglichen Infektionsrisiko auch sicher.
Um mich in der Woche abzulenken, verabrede ich mich mit Freund:innen und mache Sport. Aber abends allein zu Hause ist es schwierig und das Gedankenkarussell beginnt. Ich lese alles, was ich über die Ansteckung mit HIV finden kann: von Erfahrungsberichten bis hin zu Wissenschaftstexten. Über die Erleichterung mancher, sich nicht angesteckt zu haben, bis hin zu der erschreckenden Sicherheit, infiziert zu sein. Mir wird wieder schwindelig und ich fühle mich erschlagen.
Die schlimmsten Szenarien spielen sich immer wieder in meinem Kopf ab. „Was ist, wenn ich mich angesteckt habe? Wie soll ich es meinen Eltern sagen oder meinen Freund:innen? Wie soll ich damit weiterleben?“, frage ich mich. Ich halte kurz inne, atme durch und denke darüber nach, wovor ich genau Angst habe. Es ist nicht das Virus an sich, damit lässt es sich nämlich damals wie heute sehr gut leben. Ich habe Angst vor der Stigmatisierung.
Denn auch in einem vermeintlich aufgeklärten Land wie Deutschland erleben HIV infizierte Menschen durch Medien, die Gesellschaft und medizinisches Fachpersonal immer wieder Vorurteile, Ausgrenzung und sogar Kriminalisierung.
Eine Befragung der deutschen Aidshilfe aus 2020 ergab, dass die meisten HIV positiven Menschen sich aufgrund von Vorurteilen in ihrem Leben eingeschränkt fühlen und viel weniger wegen der gesundheitlichen Aspekte. Viele erfuhren besonders dann Diskriminierung, wenn ihre Infektion bekannt wurde. Somit gaben 56 Prozent der befragten Menschen an, dass ihnen deshalb schon Gesundheitsleistungen verweigert wurden oder sogar die Schweigepflicht verletzt wurde, indem medizinisches Fachpersonal ihre Patient:innenakten offensichtlich markierte. Auch die Darstellung HIV infizierter Menschen in den Medien empfanden die meisten als herabwürdigend.
Zum Beispiel in der Berichterstattung über den Gerichtsprozess der No Angels-Sängerin Nadja Benaissa, die ungeschützten Sex mit Männern hatte, ohne sie über ihre HIV-Infektion zu informieren. In Deutschland kann eine HIV infizierte Person von dem: der Angesteckten wegen schwerer Körperverletzung (§224 Strafgesetzbuch) angezeigt werden, wenn sie nichts von der Infektion wusste. Trotz Benaissas Schuldeingeständnis und ihrer Entschuldigung haben die Medien diesen Prozess nicht als Chance genutzt, um differenzierter über HIV zu sprechen, lese ich in einem Artikel auf der Seite der Aidshilfe. Ein anderes, nicht nur in Bezug auf HIV*, auftretendes Phänomen ist, dass betroffene Personen nicht befragt werden, sondern meistens nur Nicht-Betroffene darüber sprechen. Dadurch entsteht das Stigma des HIV infizierten Menschen, der einen bestimmten „schlechten“ Lebensstil habe.
In der Podcastfolge von Die Realitäter:innen vom 10.09.2020 redet Nadja Benaissa gemeinsam mit Barbie Breakout (Drag Künstlerin) über ihr Leben mit dem Virus. Benaissa erklärt, wie schwierig es für sie war, eine Zahnarztpraxis zu finden, die sie behandelte. Barbie Breakout fügt hinzu, dass dies ein häufiges Problem sei und besonders daran läge, weil viele Ärzt:innen schon älter seien und sich oftmals nicht über die aktuellen medizinischen Erkenntnisse bezüglich HIV informierten. Zum Beispiel, dass durch die aktuelle Behandlung die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt und dadurch kein Ansteckungsrisiko mehr besteht. Sie sprechen auch über Kriminalisierung von HIV-positiven Menschen: Breakout erklärt, dass daraus „der Mythos des niederträchtigen HIVlers“ entstünde, der vorsätzlich andere Menschen anstecke.
Für mich selbst ist nach einer Woche der Spuk vorbei. Mein Ergebnis ist negativ. Beim Hinausgehen komme ich wieder an dem Tresen vorbei und nehme mir ein paar Kondome aus der Schale. Mein Herz ist wieder leicht. Ich genieße die warme Sonne auf meiner Haut und nehme mir vor, in Zukunft besser auf mich aufzupassen.
*Zum Beispiel auch in Bezug auf Alltagsrassismus in Deutschland. Erst Anfang des Jahres ist, zu Recht, eine mediale Empörung entfacht, weil in der WDR Sendung „Die letzte Instanz“ eine Diskussion mit vier weißen und somit nicht betroffenen Personen über Fremdbezeichnungen für Roma und Sinti sowie für Schwarze Menschen geführt wurde. Die Ausgangsfrage war, ob es nötig gewesen sei, die Paprikasauce zum Schnitzel umzubenennen.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.
Illustration: Teresa Vollmuth

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Autor:innen
War bis Juli 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Geisteswissenschaften mit Fokus auf Indien an der Universität Hamburg studiert. Themenschwerpunkte sind Gesellschaftspolitik und feministische Themen.