WARNUNG: Im folgenden Beitrag wird Demütigung, Vernachlässigung und Ablehnung im Zusammenhang mit Krebs thematisiert.
Als ich im August 2022 aufhörte, eine freie Frau zu sein, und als meine Onkologin mich über den Ablauf meiner anstehenden Krebstherapie aufklärte, war ich 29 Jahre alt – eine kettenrauchende, mitten im Leben stehende, erschöpfte und manchmal auch unzufriedene junge Frau. Das war’s, mein Leben ist vorbei!, dachte ich am Tag meiner Diagnose. 8 Monate später ging ich als eine von Krankheit gezeichnete, aber sehr viel glücklichere Frau in die nächste Etappe meiner Therapie: Die Bestrahlung.
Ich wog 65 Kilo. Das waren immer noch 5 Kilo mehr, als ich es von mir gewohnt war, denn die Wassereinlagerungen, die sich durch die Chemotherapie in meinem Gewebe angestaut hatten, machten sich dadurch bemerkbar, dass ich in keine meiner enganliegenden Jeans passte. Also mal wieder die blaue Jogginghose – ich hasse es. Wirklich. Fluchend stehe ich in der Küche, wo mein derzeitiger Feind der Kleiderschrank steht, und versuche, meine Beine wieder aus dieser intriganten Jeans zu schälen. Skinny ist der Endgegner einer Chemopatientin. Als würde man Krieg gegen seinen eigenen Körper führen. Mein Haar war inzwischen einige Millimeter gewachsen und ich fühlte mich wieder viel menschlicher. Doch wie soll man sich im eigenen Körper wohlfühlen, wenn man nur schwer Kleidung findet, in die man hineinpasst? 2,5 Monate zuvor hatte ich die Chemotherapie abgeschlossen. 5 Monate Hölle. Nach meiner Operation Ende Februar stellte ich mir die Frage, wie ich die Strahlentherapie wohl vertragen würde und ob diese Therapie genauso kräftezehrend sein würde, wie die Chemo. Die Bestrahlung ist sicherlich vieles, aber mit dem Wissen, wie sich eine Chemotherapie anfühlt, ist sie eines ganz sicher nicht: impraktikabel. Denn was kann schon anstrengender sein als eine Chemotherapie?
Ich war erst wenige Tage zurück in Berlin, nachdem ich zuvor 5 Monate bei meiner Tante und ihrem Mann in Würzburg gelebt hatte. Und ich fühlte mich wie ein Wackelpudding, der zwar seinen Weg hinaus aus der Packung in irgendeinen Mund gefunden hatte, sich aber schwer damit tat, sich wieder in irgendeine Form hineinzufinden. Hast du eine Vorstellung davon, wie es ist, wenn man als 30-jähriger Mensch monatelang von allem abgeschottet – und ans Bett gebunden – lebt? Mit einer Erkrankung, deren Verlauf kaum eine:r in deiner Altersgruppe kennt? Wahrscheinlich nicht. Wie auch? Meine Freiheit, so sah ich es zu diesem Zeitpunkt zumindest, war also das Letzte, was mir gerade wichtig war: Freund:innen treffen, schreiben, Steuererklärung, Anträge bei der Krankenkasse, Termine einhalten, einkaufen gehen, der Einzug in eine neue WG, Dating, die Erwartungen der Anderen – all das überforderte mich maßlos. Ich meine, ich habe den Krebs überlebt, und nun soll ich hier ganz normal weitermachen? Bei dieser Überlegung fühlte ich mich in den ersten Tagen nach meiner Rückkehr ganz schön verloren; verloren im 3,7-Millionen-Einwohner:innen großen Berlin und der psychischen Ausnahmesituation, in der ich mich befand.
Eine weitere Belastung für mich war das durch Streit strapazierte Verhältnis zu meiner Familie. Ich litt darunter, dass sich mir so wichtige Menschen in dieser schweren Zeit absichtlich entzogen – dann, als ich sie am meisten brauchte. Wie ich heute zu wissen glaube, war das so, weil viele sich mit dem Thema Krankheit wirklich sehr schwer tun. Deshalb wurden nicht viele Worte darum gemacht und eins kam zum anderen: ich fühlte ich mich während der Therapie einfach im Stich gelassen. Die Folge waren viele Vorwürfe und Anschuldigungen meinerseits. Es folgte ein Kontaktabbruch und damit brach mein Herz gleich mit. Ich war erneut auf mich allein gestellt – wie schon so oft in meinem Leben. Weitere Familienmitglieder, die sich in den letzten Monaten meiner Chemotherapie um mich gekümmert hatten, wollten nach meinem Auszug, der mit einem schlimmen Streit vollzogen wurde, ebenfalls nichts mehr von mir wissen. Während der Chemotherapie hatte ich aus Gründen des Selbstschutzes den Kontakt zu meiner Mutter unterbrochen. Doch wir waren gerade dabei, uns wieder anzunähern. Mithilfe von Telefonaten war es mir möglich, den Verlust irgendwie wegzustecken. Und noch weitere Beziehungen zu nahen Menschen des Familienkreises litten, nachdem ich Würzburg verließ. Es kam zu einem innerfamiliären Bruch, der mir in dieser Ausnahmesituation schwer zusetzte.
Aber ganz allein war ich dann doch nicht: Denn ich habe meinen Großvater, mit dem ich ein Herz und eine Seele bilde, und der stets ein offenes Ohr für mich hat. Er ist wirklich immer für mich da – egal, was passiert. Er ist der einzige Mensch in meiner Familie, bei dem ich das Gefühl habe, so sein zu dürfen, wie ich bin. Der Krebs schweißte uns enger zusammen und so pflegen wir heute eine engere und vertrautere Beziehung als jemals zuvor. Dazu habe ich das Glück, viele Menschen in meinem Umfeld zu haben, die während dieser schweren Zeit für mich da waren. So holte mich meine langjährige Freundin J. in Würzburg ab, um mit mir den Umzug nach Berlin zu machen. Sie weiß um meine schlechte Familiensituation – und ich weiß: Auf sie und ihre tröstenden Worte ist immer Verlass! Obwohl sie noch zwei Tage blieb, um mir den Einstieg in das Leben zu vereinfachen, war ich in einer solch schlechten psychischen Verfassung, dass der Start in die Strahlentherapie zu einer großen Herausforderung für mich werden sollte.
Am 6. März 2023 um 10 Uhr wurde ich für ein Vorstellungsgespräch in eine Strahlenpraxis in Berlin einbestellt: eine helle, moderne Atmosphäre und humane Mitarbeiter:innen erwarteten mich. Wie sonst auch war ich die jüngste Patientin von allen – der Altersdurchschnitt lag bei ca. 50 Jahren. Laut meiner persönlichen Recherche hatten die meisten hier Krebs. Die Praxis wurde mir nach der Operation von meinem Brustzentrum als „eine sehr gute Strahlenpraxis“ empfohlen und hatte den Vorteil, dass sie mit einer Entfernung von 2 Kilometern fußläufig von meiner Wohnung erreichbar war. „Es wäre empfehlenswert, wenn Sie nach der Therapie direkt nach Hause gehen, um sich auszuruhen“, sagte der Chefarzt noch im Aufklärungsgespräch zu mir, um mir deutlich zu machen, dass ich die Therapie nicht unterschätzen solle. Auch wenn der Bestrahlungsprozess nur wenige Minuten in Anspruch nehmen würde, so sei dieser aufgrund der Häufigkeit wohl besonders beschwerlich. Geplant war: 5 Mal die Woche Therapie, von Montag bis Freitag, ausgenommen die Feiertage. Dementsprechend sollten sich meine kommenden Wochen um nichts anderes, als die Bestrahlung drehen. Wie intensiv die Therapie tatsächlich für mich sein würde, sollte ich schon bald merken.
Nachdem ich den Chefarzt kennengelernt hatte, wurde ich mit einem Fahrstuhl ins Untergeschoss geschickt. Hier bat man mich, einen Moment im Wartebereich Platz zu nehmen, bis ich aufgerufen werde. Nach wenigen Minuten öffnete die Praxismitarbeiterin eine Tür mit der Aufschrift „Kabine 1“ und forderte mich auf, meinen Oberkörper frei zu machen. Geplant war eine individuelle Bestrahlungsplanung, die anhand einer speziellen Computertomographie und unter Berücksichtigung meiner vorliegenden Untersuchungsbefunde vollzogen werden sollte. Meine Aufgabe bestand lediglich darin, dass ich mich auf den sogenannten Linearbeschleuniger legte, welcher in eine CT-Einheit integriert ist, die dafür sorgt, meine Körpermaße an die Sitzfläche anzupassen. Dies sei wichtig, um eine zielgenaue Therapie und somit auch eine erfolgversprechende sowie organschonende Behandlung zu gewährleisten – ein Prozess, den alle Patient:innen vor Behandlungsbeginn durchlaufen. Außerdem sei dies für die „Atemanhalte-Technik (DIBH)“, das sogenannte Gating, von großer Bedeutung. Es dient dem Zweck, mein Herz sowie die Lunge während der Bestrahlung des Mammakarzinoms zu schonen.
Nachdem ich in die optimale Behandlungsposition gebracht wurde, war es mir nicht mehr gestattet, mich zu bewegen. Selbst minimale Veränderungen können dazu führen, dass die hochdosierten Strahlen einen Bereich an meinem Körper treffen, der nicht zum zu bestrahlenden Gebiet gehört. Dies kann Schäden am Gewebe oder gar den Organen verursachen. Über einen Lautsprecher ertönten durch die Mitarbeitenden der Praxis in regelmäßigen Abständen folgende Kommandos: „Einatmen … und Ausatmen“. Das Ganze wiederholte sich ungefähr 7 bis 15 Mal; ich habe nie mitgezählt. Damit ich die Luft auch tief genug einatmete, was wohl für den Schutz meines Herzens und die Lunge sehr wichtig war, hatte man ein Smartphone mit einer „Balkenanzeige“ in Kopfhöhe vor mir installiert. Atmete ich ein, schoss der Balken in die Höhe – beim Ausatmen senkte er sich wieder. Da ich zwischendrin nur kurze Atempausen machen konnte, empfand ich die Übungen als sehr anstrengend, sodass ich teilweise mehrere Anläufe brauchte, um sie zu absolvieren – Schmerzen verspürte ich hingegen keine. Mir ging einfach die Puste aus. „Der Beschleuniger reagiert auf ihren Atem anhand der sich vor und seitlich von ihnen befindlichen Infrarotkameras. Atmen Sie während der Anhaltübung weiter, bricht das Gerät ab und stellt die Bestrahlung ein. So gewährleisten wir eine passgenaue Bestrahlung“, hatte mir der Chefarzt im Vorfeld erklärt.
Er war ein freundlicher, etwas in die Jahre gekommener Mann, der sich selbst, wie mir schien, gerne reden hörte. Er gab mir jedoch von Beginn der Therapie an den Raum dafür, mich mit meiner journalistischen Tätigkeit entfalten zu können. Das half mir dabei, eine gewisse Distanz zu meiner Erkrankung und der anstrengenden Therapie herzustellen. Bei meinem 1. von insgesamt 28 Bestrahlungsterminen am 12. April 2023 fiel mir auf, dass etwas an ihm seltsam war. „Bei der ersten Bestrahlung bin ich immer mit dabei“, hatte er mir noch gesagt. Nach der ersten Therapieeinheit kam er durch die Tür zum Bestrahlungsraum und begann damit, mich über den Bestrahlungsprozess zu befragen. Ich lag mit freiem Oberkörper immer noch auf der Liege des Beschleunigers. Da ich weder Zeit hatte, mich zu sammeln, noch mich anzuziehen fühlte ich mich sehr unwohl. Woran das genau lag, weiß ich bis heute nicht. Aber einer der Gründe dafür war sicherlich, dass er im Gegensatz zu den anderen Mitarbeitenden nicht in Dienstkleidung erschien, sondern in seiner privaten Kleidung. Dadurch stufte ich ihn nie wirklich als „richtigen“ Arzt ein. Aus den anderen Einrichtungen kannte ich das nicht. In der Hoffnung, das Gespräch würde an diesem Punkt unterbrochen werden, lief ich in Richtung Umkleidekabine, um mich erst mal anzuziehen. Doch er machte keine Anstalten, von meiner Seite zu weichen. Folglich verliefen die nächsten Minuten so: Ich stand in der Kabine, die Tür war offen, im Türrahmen lehnte mein behandelnder Chefarzt, so dass es mir unmöglich war, diese zu schließen. Er redete noch immer über den Bestrahlungsprozess. Und während ich verzweifelt nach meinem Oberteil griff, um meine Brüste zu verdecken und mich anzuziehen, grinste er mich, wie ich finde, auf eine unpassende Art an. Manche der Leute, denen ich davon erzählte, nannten sein Verhalten unprofessionell, andere wiederum sprachen von einer medizinischen Routine. Ich jedenfalls war verdammt erleichtert, als die Kabinentür dann endlich zu war und ich mich auf den Nachhauseweg machen konnte. Immerhin hatte ich gerade meine erste Bestrahlung hinter mich gebracht und brauchte Ruhe.
Eine der ersten Nebenwirkungen, die ich verspürte, war meine sehr plötzlich auftretende mentale Dünnhäutigkeit und das Wechselbad von Emotionen. Eine der krassesten Erfahrungen machte ich an einem Freitagabend gegen 18 Uhr. Es war der 21. April 2023 und ich hatte inzwischen die 8. Bestrahlung hinter mich gebracht. Ein Freund von mir hatte mich zu einer Ausstellung eingeladen, bei der er einen Gig spielen würde. Ich entschied mich spontan, hinzugehen. Die 11 Kilometer von Moabit nach Kreuzberg nahm ich mit dem Fahrrad auf mich. Doch ich war noch nicht weit gekommen, als sich meine Gedanken um das zerrüttete Verhältnis zu meinem Bruder und meiner Tante drehten. Es waren schlimme Worte gefallen. Inklusive Bezichtigungen, die in mir ein Gefühl von Weltuntergang auslösten. Durch die Aufarbeitung mit meiner Therapeutin weiß ich heute, dass es sich dabei um einen sogenannten „Liebesentzug“ handelte – eine auf Manipulation beruhende Kontrollstrafe. „Liebesentzug“ ist eine verdeckte Erziehungsstrategie und zeigt sich zum Beispiel in Umgangsstrategien wie Desinteresse am Kind signalisieren, abwertenden Bemerkungen machen, strafende Verantwortung zuweisen, weil man ja schon „so viel“ für die Person tun würde oder Toxisches Schweigen. Hinzu kommt der plötzliche Beziehungsabbruch, bei dem Betroffene vor eine endgültige Entscheidung gestellt werden, bei der ihnen jegliche Entscheidungsgewalt genommen wird. Bedauerlicherweise erlebte ich dies innerhalb einer Woche durch drei verschiedene Instanzen meiner eigenen Familie.

Gerade in Berlin Mitte angekommen, fuhr ich etwas ziellos vor mich hin, da ich mich offenbar verfahren hatte. Die von Fiktion geleitete Stimme meines Bruders drang in meinem Kopf zu mir durch. In meinen Gedanken beschimpfte er mich und wünschte sich, dass ich aus seinem Leben verschwinde. Ich fühlte mich so ohnmächtig. Daraufhin bekam ich keine Luft mehr und schnappte unkontrolliert nach Luft – immer schneller, immer panischer. Die Tränen schossen mir in die Augen und liefen meine Wangen entlang, sodass ich nur noch schlecht sehen konnte, was vor mir war. Seitdem waren erst wenige Minuten vergangen. Für mich fühlten sie sich wie etliche Stunden an. Irgendwann stieg mir die Panik so zu Kopf, dass ich an den Rand fuhr und mein Fahrrad in den Vorgarten eines Mehrfamilienhauses warf. Ich setzte mich auf die kalte Steintreppe, wo ich versuchte, mich zu beruhigen. Eine gute Freundin von mir hatte ich vorher bereits mit einer Nachricht in Alarmbereitschaft versetzt, falls ich Hilfe benötige. Wir führten einige kurze Telefonate. Zuvor folgte ein langes Gespräch mit meiner Mutter. Gekrönt wurde die Panikattacke durch einen Polizeieinsatz. Mittlerweile war es 19:50 Uhr und ich fühlte mich bereit, den Weg erneut auf mich zu nehmen. Also fuhr ich weiter in Richtung Kreuzberg, wo ich das letzte Stück vom Moritzplatz aus mit der U-Bahn nahm. Der weitere Abend verlief besser. Ich hatte einfühlsame Gespräche und meine Freund:innen brachten mich auf andere Gedanken.
Die nächsten Tage stellten mich auf eine harte Probe. Um meiner Gesundheit willen, musste ich einen Weg finden, mich von den Schuldgefühlen zu lösen, die durch die Familienereignisse verursacht worden waren. Doch es gelang mir nur bedingt. Mein erstes Arztgespräch hatte ich am 26. April 2023 um 15:40 Uhr. Es sollte um die Verträglichkeit der Bestrahlung gehen. Allerdings hatte ich an diesem Tag ein massives Stimmungstief, bedingt dadurch, dass die jüngsten Vorfälle immer wieder ihren Weg in meinen Kopf fanden. Des Weiteren ließ mich der Gedanke nicht los, dass es da einen Zusammenhang zwischen meiner quälenden psychischen Verfassung und der Strahlentherapie geben könnte. Nachdem ich wenige Tage später den Chefarzt mit meiner Vermutung konfrontierte, erhielt ich Klarheit. Er bestätigte meinen Verdacht. Dies sei jedoch sehr individuell und wirke sich von Patient:in zu Patient:in unterschiedlich aus.
Als ich ihn fragte, weshalb er diese für mich so wichtige Information im Aufklärungsgespräch nicht erwähnt hatte, antwortete er sowas wie: „Die meisten Patient:innen hier vertragen die Therapie psychisch eigentlich sehr gut, weshalb ich keinen Grund dafür sehe, das Thema vor Therapiestart anzusprechen. Es würde nur ein durch ihn aufgezeigtes Handeln, quasi einen negativen Plazebo-Effekt, mit sich bringen, was sich wiederum negativ auf die Gesundheit unserer Patient:innen auswirken könne.“ Daraufhin antwortete ich: „Ich hatte vor wenigen Tagen Selbstmordgedanken, eine Panikattacke auf dem Fahrrad und laufe momentan wie eine tickende Zeitbombe durch die Gegend. All das ist an diese Therapie hier gebunden und sie halten es nicht für notwendig genug, dies zu erwähnen?“ Wir diskutierten noch eine Weile hin und her, bis ich das Gespräch beendete. Ich fühlte mich zunehmend unwohl und auch nicht wirklich ernst genommen. Heute, mit ein wenig Abstand, denke ich: Manchmal scheint es eine gute Sache zu sein, wenig darüber zu wissen, wie sich die Zukunft entwickeln wird. Auf diese Weise haben wir das Gefühl, uns vor Enttäuschungen schützen zu können. Aber die Realität meines Therapie-Lebens, das ich zum damaligen Zeitpunkt nur schwer aushalten konnte, hätte sich vielleicht besser für mich angefühlt, wenn ich von Beginn an von den möglichen psychischen Auswirkungen dieser Therapie gewusst hätte.
Die Wochenenden waren wie Urlaub für mich. Wenngleich der Donnerstag immer der schlimmste Tag für mich war, weil mich die Kräfte zunehmend verließen. Eine klassische Therapiewoche erlebte ich so: Montags war ich meist munter drauf. Die Erholung durch das Wochenende äußerte sich in euphorisierten Fahrradtouren hin zur Strahlenklinik, in denen ich meist Blümchens „Nur Geträumt“ oder „Herz an Herz“ mitsang und freudig über die Straßen Berlins bretterte. Nach der Therapie fühlte ich mich dann aber zunehmend angespannt und müde, sodass der Tag im Bett endete. Der Dienstag und Mittwoch verliefen ähnlich. Gegen Donnerstag kippte meine Stimmung dermaßen, dass ich mich oftmals unter Tränen wiederfand und vereinzelt aggressives Verhalten zeigte – besonders auf dem Weg zur Therapie oder auf dem Heimweg. Einmal brüllte ich zum Beispiel ein paar Passant:innen an, die wohlgemerkt auf dem Fußgängerweg standen und in ein Gespräch verwickelt waren. Sie sollten mir einfach den Weg frei machen, weil ich sonst zu spät zu meiner Therapiestunde kam, die ich so bitter nötig hatte. Neben der Strahlentherapie hatte ich weitere Termine: im Krankenhaus, beim Hausarzt, Psychotherapie, aber auch privat und beruflich. Hinzu kamen die Familienprobleme, sodass es schier unmöglich für mich war, all dem gerecht zu werden. Einer der Bereiche litt immer – und die Enttäuschung darüber, nicht zu genügen, brachte mich zur Verzweiflung.
Hinzu kam das mich stetig begeleitende Gefühl, verrückt zu werden. Denn subjektiv betrachtet niemand aus meinem Umfeld konnte mich und meine aktuelle Lage wirklich nachvollziehen. Doch um für mich selbst und auch andere Menschen Abhilfe zu schaffen, begann ich bereits zu Beginn der Bestrahlung ein tägliches Video-Tagebuch auf meinem Instagram-Account zu führen. Darin zeigte ich besonders jene Momente, die, wie ich fand, einen authentischen Einblick in meine aktuelle Lebensrealität gaben. Momente, die die sogenannten Wesensveränderungen abbildeten. Doch so sehr ich tagsüber auch dahinter stand – sobald ich abends im Bett lag und den Tag Revue passieren ließ, schämte ich mich dafür. Das waren jene Momente, in denen die Stimmen meiner Verwandten wieder hochkamen: „Du wirst es mal schwer haben im Leben.“
Die folgenden Bestrahlungstermine wurden zu einer Qual für mich. Besonders schlimm wurde es aber erst, als ich von Moabit nach Schöneweide zog. Fortan hatte ich einen Therapieweg von 17 Kilometern, sodass ich bald nur noch für die Strahlentherapie lebte. Ich weiß noch, wie ich am 8. März 2023 erstmals diesen langen Weg auf mich nahm. Es war ein schöner Frühlingstag. Meinen Termin hatte ich um 9:20 Uhr. Ich wollte ein Stück mit der S-Bahn fahren, die bei uns quasi vor der Haustür hält, um Energie zu sparen. Da ich mich noch nicht auskannte, landete ich erst in der falschen Bahn und auf dem Rückweg stellte ich fest, dass die S-Bahn aufgrund von Bauarbeiten ausfiel und nur Ersatzbusse fuhren. Genervt – und mit bereits 40 Minuten Verspätung – nahm ich mein Fahrrad und bretterte los. Aus mir unerklärlichen Gründen war meine Sim-Karte an diesem Morgen rausgesprungen, sodass es mir nicht möglich war, die Praxis anzurufen, um Bescheid zu geben. Als ich dann verschwitzt und völlig außer Puste in der Strahlenpraxis ankam, entschuldigte ich mich für die Verspätung und wurde von der Mitarbeiterin am Empfang mit einem verständnisvollen „alles gut“ gleich nach unten geschickt. Ich war erleichtert und dankbar, dass man mir keinen Vorwurf machte.
Doch die Abrechnung sollte offenbar noch kommen: Während ich meinen Oberkörper in der Umkleidekabine entkleidete, wurde die Tür von außen geöffnet und die Stimme einer Mitarbeiterin ertönte: „FRAU KRÖPLIN! Das geht so nicht weiter! Sie können hier nicht jeden Tag auftauchen, wie es ihnen passt! Wir haben hier auch noch andere Patient:innen und einen Plan, an den wir uns halten müssen!“ Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt für eine solche Ansage, denn ich war müde von der Therapie und der Hinweg hatte mich all meine Kraft gekostet. Hinzu kam erneut das Gefühl, versagt zu haben. Denn nur, weil ich täglich zu spät kam, bedeutete das nicht, dass ich das extra so beabsichtigte. Es war mir einfach nicht konsequent möglich, alle Vereinbarungen einzuhalten. Es folgte eine von Trotz geleitete Diskussion beider Parteien. Und als ich dann bestrahlt wurde, gelang es mir nicht mehr, die Atemanhaltübungen reibungslos auszuführen. Ich brach in Tränen aus.
Auch einen Monat nach dem Vorfall bin ich der Meinung, dass es das Richtige war, die Situation nicht unkommentiert zu lassen. So schrieb ich noch am selben Tag eine Mail an den Chefarzt mit der Bitte um einen Praxiswechsel aufgrund der langen Distanz. Außerdem konfrontierte ich ihn mit dem unprofessionellen Verhalten seiner Mitarbeiterin. Seine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Als ich am nächsten Morgen wieder zu spät zur Therapie kam, diesmal aber telefonisch Bescheid gab, wurde ich förmlich von den Blicken der Mitarbeitenden der Praxis durchbohrt: „Das ist sie, oder? Mein Gott, was für ein Prinzesschen. Erst macht sie hier ein riesiges Tamtam mit dem Fotoshooting, dann kommt sie hier jeden Tag zu spät und jetzt besitzt sie auch noch die Frechheit, unsere Kollegin anzuschwärzen. Na, dann geh doch! Mach deine Bestrahlung woanders. Ist uns doch egal!“, sprach meine Unsicherheit zu mir. Noch bevor ich meine Behandlung antrat, stand das 2. von insgesamt 3 Arztgesprächen an. Es schauderte mich bei der Vorstellung, erneut allein mit dem Arzt bei geschlossener Tür in einem Raum sitzen zu müssen. Nach kurzer Wartezeit holte er mich im Wartebereich ab und wir gingen in sein Büro. Die Kritik, die ich am Vortag geäußert hatte, hatte ihn offenbar zum Nachdenken gebracht – denn er schlug mir vor, dass wir meine Behandlung auf zwei Termine weniger, also insgesamt 27 Bestrahlungseinheiten, zum Ende hin aber mit erhöhter Strahlendosis, kürzen könnten. Ein Praxiswechsel sei während der Therapie kaum bis gar nicht möglich. Seine Erwähnung, ein Gespräch mit der Mitarbeiterin geführt zu haben, bestätigte meine Annahme, dass der Vorfall in der Praxis die Runde gemacht hatte.
Unten im Bestrahlungsraum angekommen, verflog mein schlechtes Gefühl recht schnell. Die Mitarbeiterin war nicht da. Stattdessen begrüßten mich meine Lieblingsassistentinnen herzlich und halfen mir dabei, mich in die richtige Position zu legen. Das machte sich auch an meiner Behandlung bemerkbar: Als ich auf der Liege lag, verfiel ich den Tränen. Es war einfach alles zu viel. Ich war so müde und sehnte mich so nach einer Pause. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, jetzt in den richtigen Händen zu sein. Ich werde diesen Augenblick niemals vergessen, denn er war in dem Moment so wichtig für mich – und wäre es sicher auch für alle anderen Menschen, die einen solch nervenaufreibenden Prozess durchmachen müssen: Eine der Mitarbeitenden streichelte daraufhin meine Hand und sprach mir verständnisvoll zu, indem sie sagte: „Ich weiß, das ist alles viel und sehr anstrengend. Aber Sie schaffen das! Sie sind schon so weit gekommen, Frau Kröplin. Schauen Sie mal, was sie schon alles hinter sich haben. 9 Mal noch, dann ist es vorbei!“ Während mir ihre Kollegin mit einem Kopfnicken wohlwollend Verständnis mit ihren warmen Augen entgegenbrachte, holte die andere Assistentin zwei Taschentücher, um mir damit sanft die Tränen von den Wangen abzutupfen. „Geht’s wieder?“, fragte sie mich. Ich nickte und wir legten los – diesmal gelang mir jede einzelne Übung reibungslos.
In der zweiten Hälfte der Therapie, also Anfang Mai 2023, kamen Appetitlosigkeit und Lustlosigkeit zu den Nebenwirkungen hinzu. Außerdem waren meine Gedanken sehr sprunghaft, sodass es mir nicht mehr möglich war, mich auf die einfachsten Gespräche oder gar meine Arbeit zu konzentrieren. Zum Vergleich: Während der Chemotherapie war das für mich zumindest an ausgewählten Tagen durchaus möglich. Alles, was mich antrieb, war das absehbare Ende der Strahlentherapie. Da die Aufnahme fester Nahrung fortan ein Problem für mich darstellte, änderte ich meinen Ernährungsplan kurzfristig auf „süß“ und „herzhaft“. Burger, Eiscreme oder Pizza, die ich auf dem Nachhauseweg irgendwo einsammelte, zu essen fiel mir wesentlich leichter, als täglich frisch zu kochen. Von den 65 Kilogramm, die ich zu Beginn noch erwähnt hatte, waren mittlerweile nur noch 60 übrig. Kräftig fühlte ich mich nun wirklich nicht mehr. Deshalb unterbrach ich vorerst meine Sporteinheiten im Fitnessstudio. Auch die Fahrt zur Therapie machte ich nun ausschließlich mit der Bahn, um Kraft zu sparen. Die Besserung erfolgte nicht nur rasch, sie machte sich fast zeitgleich körperlich sowie psychisch bemerkbar: meine Aggressionen waren weg.

Und dann endlich, am frühen Morgen des 19. Mai 2023, dem Tag meiner letzten Bestrahlung, wachte ich mit einem derart überwältigenden Gefühl von Euphorie auf, dass ich die nächsten zwei bis drei Stunden wie die Königin der Welt durch Berlin zog. Alles, aber wirklich alles, fühlte sich einfach so unglaublich gut an! Bei meinem Strahlentherapie-Abschlussgespräch, so sagte man mir, könne jedoch nicht beurteilt werden, inwiefern die Behandlung erfolgreich gewesen sei. “Und woran messen Sie dann, ob die Therapien, die sie hier verabreichen, wirken?”, fragte ich daraufhin skeptisch. Der Chefarzt meinte dann so etwas Unbefriedigendes, wie: ”Das ist schwer zu messen. Das zeigt sich eigentlich erst in ein paar Jahren.” Ich bat um einen Arztbrief und kurz darauf lag ich ein letztes Mal grinsend auf dem Linearbeschleuniger. Anschließend verließ ich die Praxis immer noch grinsend wie ein Honigkuchenpferd. Ich kann es gar nicht beschreiben, wie ich mich in diesem Moment fühlte – etwa wie neugeboren.
Trotz der kräftezehrenden Zeit, die ich durch die Strahlentherapie erleben musste, denke ich heute, knapp einen Monat später: Das war es wert! Bis heute bin ich mir unschlüssig darüber, wie viele der Therapien, die ich in den vergangenen 10 Monaten verabreicht bekommen habe, ich für meinen Heilungsprozess wirklich brauchte. Wir alle haben unsere Sichtweise auf das Leben und die Ereignisse darin, und davon bin ich natürlich nicht frei. Diese Perspektiven, die ich hier in diesem Text schildere, sind total subjektiv und auf keinen Fall zu pauschalisieren. Denn so schlimm ich manches auch wahrgenommen habe – all dies hat mich dennoch zu einer selbstbewussteren Person gemacht, als ich es ohne all dies vermutlich jemals geworden wäre. Ich bekam einen Blick auf die Welt, der mich nicht nur als Journalistin empathischer machte. Er hilft mir auch dabei, meinen Platz hier auf dieser Welt zu finden und andere Menschen, die gerade etwas von meiner Stärke brauchen, zu unterstützen. Die Rötungen und wunden Stellen, die erst gegen Ende der Therapie auftauchten, sind heute verheilt – und somit nicht mehr sichtbar. Auch nach erhöhter Strahlendosis habe ich heute dieselbe feine Haut, wie auch schon vor Therapiebeginn, nur zeichnet sie eben nun zwei Narben, die mich immer daran erinnern werden, was für eine Kämpferin ich bin. Denn ich habe den Kampf gegen den Krebs gewonnen, in welchem ich meinem Feind ins Auge blickte. Und heute bin ich nicht nur eine freie Sofia mit einer frechen Kurzhaarfrisur, ich bin vor allem eine gesunde Frau – eine Frau, deren Leben nun endlich beginnen kann.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.
Wow. Hammer, der Artikel. Echt heftig, was Du da durchgemacht hast,
auch abgesehen vom Krebs 😮
Freut mich ehrlich, dass es Dir wieder gut geht 🙂
Marius