Warnung: Dieser Text enthält Schilderungen von Suizidversuchen.
Das Leben ist dazu da, gelebt zu werden. Vielleicht nicht so wie geplant, aber immerhin. Und viele von uns leben sich tot. So wie fast alle essen und trinken, mittelprächtige Jobs erledigen, ein paar Träume hüten, andere verwerfen und sich in manchen Nächten in den Schlaf heulen. All das kleine Glück, das große und das viele Leid, formt uns zu dem, was wir sind: ein Leben.
Hin und her schwanken von Zeit zu Zeit und die Suche nach dem Ankommen, ohne etwas aufzugeben, obwohl du dir doch bereits zehntausendfach bewiesen hast, dass das Glück nur eine Tat entfernt sein kann, ein bezwungener Aussichtsfleck zum Atemholen und Vertrauenschöpfen. Manchmal muss man erst sterben, um wirklich leben zu können.
Pablos (Name verfälscht) Beinstummel lassen vermuten, dass sich dahinter eine qualvolle Geschichte verbirgt. Seine warmen Augen versprechen Verständnis. Drei Selbstmordversuche, dreimal gescheitert. Ein Sprung von der Brücke, eine Messerspitze in die Halsschlagader und ein Wurf vor den Zug. Letzteres kostete ihn zwar die Fähigkeit, laufen zu können, doch nicht sein Lächeln.
Ich bin nicht gut in Abschiednehmen, vielleicht, weil ich es schon so oft musste. Abschiede sind wie Herdentiere. Sie befinden sich dicht aneinandergedrängt zusammen, stehen dir gegenüber und schauen recht unschuldig in deine Augen. Als wäre nichts passiert, als wäre nichts gewesen. Ob gerade ein Gewitter tobte oder mit aller Himmelswucht der Blitz einschlug, sie stehen nur stumm da und starren vor sich hin. Teilnahmslos. Ein wenig stupide und das wars. Immer eng beieinander. Ein Abschied zieht den nächsten mit sich. Und dann noch einen. Gründe gibt es immer. Und am Ende bleibt nur der Kummer und die Frage nach dem was war oder vielleicht was wäre wenn?
Sie sind der Grund, warum die Seele nicht mehr leben will. Nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal. Besonders meine. Wenn ich meinen Wert verliere, dann verliere ich mich. Und deshalb schnitt ich mir ins Fleisch. Die Narben sind noch da, ganz klar verzieren sie meinen linken Unterarm – getötet haben sie mich nicht. Auch nicht die Packung Paracetamol, die ich mit 18 schluckte. Was habe ich versucht, dem einen Abschied keinen weiteren folgen zu lassen. Niemals fair, immer mit Folgen.
Tote Seelen begehen Suizid, lebende überleben ihn und bemerken sich. Wie Pablo und ich. Ohne einander zu kennen, ohne dieselbe Sprache zu sprechen. Man weiß es, man spürt es. Und man stärkt sich gegenseitig, wenn man sieht, was das Leben für einen bereithält.
Es hat 25 Jahre gebraucht bis zum gesunden Beschluss, es doch einfach mal anders zu machen. Dem Wimmern das Maul zu stopfen und dem erwarteten Verständnis in den Arsch zu treten. Ich bin nicht gut im Abschiednehmen, ich mag keine Herdentiere, aber ich akzeptiere nach und nach, dass wer geht, vieles mitnimmt. Mit oder ohne Brandzeichen, ich laufe nicht davon und das wünsche ich mir auch von dir.
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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.
Sehr bewegende Story!! Und wieder so schön geschrieben.
Dankeschön liebe Carla! (: