Es ist Dienstagabend, 19 Uhr. Einer dieser typischen, verregneten Novemberabende, der einen so fertig macht. Man ist müde, unmotiviert und würde sich am liebsten den ganzen Tag nur ins Bett kuscheln. Eigentlich sollte ich damit beschäftigt sein, meine sogenannte Mental Health zu retten, die an einem seidenen Faden hängt, seitdem ich meine Therapie an den Nagel gehängt habe, weil ich „keine Zeit mehr für so etwas habe“ (jaja ich weiß, aber was soll ich machen? Zwischen essen, schlafen, arbeiten und Zukunftsängsten bleibt eben nicht so viel Zeit). Außerdem sollte ich eigentlich Bewerbungen schreiben, schließlich mache ich sonst nach meinem Bachelor mal für mehr als zwei Monate „nichts“ – laut meinem Lebenslauf – und ich sehe mich schon, wie ich mich vor allen möglichen Personen dafür rechtfertige was das Zeug hält. Und ich sollte verdammt nochmal endlich meine Wäsche waschen, ansonsten habe ich morgen keine saubere Unterwäsche mehr. Und das ist nun wirklich mal die Grundlage des Erwachsenseins, wenn ich das richtig verstanden habe.
So viel zu tun. Und doch mache ich nichts davon. Stattdessen klappe ich meinen Laptop auf. Ich könnte diesen Text auch anders anfangen: Ich heiße Clara und ich habe ein Problem (in meinem Kopf stimmt gerade ein Chor zurück: „Hallo Clara“, wie eine klassische Selbsthilfegruppe in diesen schlechten Romcoms). Ich gestehe: Ich schaue Trash-TV. Viel Trash-TV.
Das hat alles letzten Winter angefangen. Es war kalt und Corona bestimmte den Alltag. Ich weiß noch genau, wie meine Freundin Marie mich an einem so grauen Tag wie heute verführte. Du kannst dir das genauso wie damals im Paradies vorstellen, ich bin dabei Eva und Marie war die Schlange. Nur dass es sich nicht um einen Apfel handelte, sondern die damals aktuelle Staffel „Are you the one?“. Nun ja, und seitdem war es um mich geschehen. Bachelor, Couple Challange, Ex on the beach – ich kenne sie alle. Und das sehr gut. Es ist für mich einfach entspannend zu sehen, ob Nikos Beziehung nun wirklich funktioniert, wen Diorgo nun als Nächste verführt und ob sich Walentina mal wieder mit irgendwem anlegt. Es gibt mir das Gefühl, dass seien gerade in diesem Moment die wichtigsten Probleme und alles andere existiere nicht mehr. Die Welt wird klein und durch die Linse einer Kamera betrachtet. Liebeskummer, anstehende Klausuren und dieser ständige Druck – all dies wird auf einmal ganz klein. Einfach mal das Gehirn für einen Moment ausschalten. Einmal kurz Luft holen in der Hektik des Alltags.
Und nach ein bis zwei Stunden klappe ich dann den Laptop zu. Tauche zurück in die Realität. Und schäme mich. Schließlich könnte ich mir auch irgendeinen Politik-Podcast anhören, um auf der nächsten WG-Party zu punkten oder um unter einem Instagrampost der Tagesschau in der Kommentarsektion jemanden auf seine Unwissenheit aufmerksam zu machen. Oder ich könnte mir zumindest irgendeine ARD-Doku anschauen. Ich gebe zu, meine Freizeitgestaltung könnte manchmal wirklich mehr „en vogue“ sein.
Aber weißt du was? Das ist okay. Inzwischen habe ich Frieden damit geschlossen. Nach einem langen, harten Tag ist meine Abendgestaltung nun mal kein feuchter Arte-Traum. Der Wunsch immer besonders intellektuell zu sein, muss auch mal Pause haben.

Hobbies und Freizeit scheinen belastet in unserer Zeit. Dabei ist es doch irgendwie ein spätkapitalistischer Gedanke, dass alles was wir tun besonders sinnvoll sein muss. Wieso wird jede Beschäftigung als eine Adaption unserer Persönlichkeit gesehen und soll uns in gewisser Weise repräsentieren und definieren? Alles muss immer einen Zweck, eine höhere Funktion oder sogar einen Lebenstraum erfüllen. Alle lesen in ihrer Freizeit den neuen Bestseller von Harari, gehen auf Demos und lieben plötzlich Museen. Irgendwie sind wir alle so en vogue, dass wir vergessen, was uns sonst noch so Spaß macht. Lass mal wieder zocken, lustige Youtube-Videos gucken oder einfach nur chillen. Ganz nach dem Motto: Befreit euch von der ständigen Sinnhaftigkeit in der Freizeit! Ganz ehrlich, haben wir nicht alle schon genug Druck bezüglich allem Möglichen? Ich will nicht auch noch ein schlechtes Gewissen haben, weil ich angeblich meine freie Zeit „verschwende“. Wie soll das überhaupt gehen? Verschwenden kann man doch höchstens Lebensmittel.
Also falls es dir in letzter Zeit keiner gesagt hat: Es ist okay, gemütlich im Bett zu liegen und sich einfach berieseln zu lassen. Nur Zyniker würden das unproduktiv nennen. Und es ist okay, dabei mal seine Alltagsprobleme zu verdrängen. Und außerdem: Wie sexy ist es bitte zu wissen, was der andere macht, wenn er nicht gerade den Druck hat, besonders belesen und cool sein zu müssen?
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.
Autorin: Clarified

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folgt uns auf Facebook, Instagram und Spotify.
Autor:innen
DIEVERPEILTE ist eine Redaktion von Journalist:innen und Nichtjournalist:innen, die bei uns oder als Gastautor:innen arbeiten. Alle eint, dass sie guten jungen Journalismus machen wollen. Wenn du uns einen Text anbieten willst: info@dieverpeilte.de