„Nein, sorry.“ Mit leicht verzogenem Mund und ohne den Blick von mir abzuwenden, schüttelt S. den Kopf. „Dann eine Zigarette bitte?“, versucht der Mann sein Glück erneut. „Bitte, bitte“, hängt er an seine Aussage dran und schaut uns leicht flehend an. „Nein, sorry“, wiederholt sie und schielt beschämt auf ihren Cappuccino. Als auch wir anderen nichts sagen, lässt der Mann den Kopf hängen und zieht weiter.
Ich fühle mich unwohl. Und irgendwie schäme ich mich auch, denn ich hätte noch Kleingeld gehabt, – zumindest 50 Cent wären drin gewesen. Und nicht nur ich. Die beiden anderen auch. Schließlich sitzen wir auf der Aachener Straße in Köln in einem Café, in dem der Cappuccino mit Hafermilch, den wir alle trinken, drei Euro und neunzig Cent kostet. Zu sagen, wir hätten kein Geld und „Könnten nicht jedem Menschen, der fragt, was geben“ mag, vielleicht irgendwie irgendwo stimmen. Aber während ich einen großen Schluck überteuerten Kaffee runterschlucke, dessen Preis ich, ohne großartig zu zögern bezahlen werde, frage ich mich, ob wir nicht vielleicht am falschen Ende sparen.
Und selbst wenn wir kein Kleingeld bei uns gehabt hätten, eine Zigarette abzugeben, wäre doch nicht zu viel verlangt gewesen. Oder? ‚Aber es waren nicht deine Zigaretten. Du hättest nicht einfach die Zigaretten anderer Leute verteilen können‘, versuche ich mein, sich immer stärker in den Vordergrund drängendes schlechtes Gewissen niederzukämpfen. Doch in meinem Herzen weiß ich, dass dies traurige Ausreden sind und der Kampf bereits verloren ist, bevor er angefangen hat.
Jede:r von uns hätte ein paar Cent gehabt. Eine Zigarette weniger hätte uns nicht umgebracht – wohl eher, sie zu behalten. Mein schlechtes Gewissen hat endgültig gewonnen: Ich fühle mich wie ein Arschloch.
Auch bei den anderen startet der „Ich-bin-kein-schlechter-Mensch-Dialog“, den ich allzu oft nach solchen Momenten beobachtet habe. In meinem Freundeskreis besteht dieser meist aus dem „Ich kann nicht jedem Menschen was geben“-Satz. In anderen Settings, die ich eher passiv beim Bahnfahren, wenn auf meinen Ohren mal keine Musik scheppert, miterlebe, werden die Aussagen um einiges ekliger: „Hau ab!“, „Ich finde Obdachlose widerlich.“, „Der soll mal für sein Geld arbeiten gehen, mache ich doch auch.“, „Bah! So einen Penner fasse ich doch nicht an.“ Dazu kommt noch das nonverbale Verhalten: Zurückweichen, angeekeltes Glotzen und vor allem pure Ignoranz, als wäre der Mensch vor einem, der nach Hilfe fragt, nicht existent – das habe ich noch öfter beobachtet.
Doch wieso verhalten sich so viele Menschen so widerlich gegenüber einem anderen Menschen?
In Deutschland gab es laut dem Statistischen Bundesamt im Januar 2022 rund 178.000 untergebrachte wohnungslose Menschen. Doch wohnungslos heißt nicht gleich obdachlos, sondern bezeichnet lediglich einen Oberbegriff, wie die Diakonie erklärt. Wohnungslosigkeit bedeutet, über keinen festen, vertraglich abgesicherten Wohnraum zu verfügen und stattdessen woanders unterzukommen, wie in Einrichtungen oder bei Freund:innen und Familie.
Als obdachlos gilt, wer aufgrund von Wohnungslosigkeit im öffentlichen Raum unterkommen muss. Kurz gesagt: wer auf der Straße lebt.
Wie viele obdachlose, nicht wohnungslose Personen es also gibt?
Puh. Keine Ahnung. Das wüsste ich auch gerne.
Aus einem Bericht des Kölner Stadtanzeigers geht hervor, dass in Köln schätzungsweise dreihundert Menschen auf der Straße leben. Wie es der Zufall will, ist mein Vater einer von diesen circa dreihundert Personen.
„Ich will kein Sozialgeld mehr. Nicht dieses Merkel-Blutgeld! Wenn Merkel weg ist, kann ich wieder in eine Wohnung.“ Das waren die Worte meines Vaters vor zwei Jahren. Ich versuchte ihm irgendwie zu helfen, er lebte schon seit einem Jahr draußen. Ich empfahl Einrichtungen, die ich aufgrund meines Studiums der Sozialen Arbeit kannte, brachte ihm ab und zu Essen von der Arbeit, empfahl mehr Einrichtungen. Doch meine Worte kamen nicht an. Denn mein Vater ist psychisch krank und das schon lange. Es wird eine paranoide Schizophrenie vermutet, welche es für ihn fast unmöglich macht, anderen Menschen zu vertrauen. Denn jede:r steckt potenziell hinter einer Verschwörung gegen ihn. Seien es die Taxifahrer vor seiner Wohnung, die Kameras in seinen Schuhen verstecken, sein bester Freund Gerd, der heimlich CIA-Agent ist oder ich, die ihn als manipuliertes Püppchen ausspioniert. Obdachlos und psychisch krank. Zwei Zustände, die – makaber gesagt – gut zusammenpassen. Denn mein Vater ist kein Einzelfall.
In einer von Wissenschaftler:innen durchgeführten Stichprobe von 2014, in der 232 wohnungslose Menschen interviewt worden sind, waren die meisten Menschen bereits vor ihrer Wohnungslosigkeit psychisch labil. Um die 14 Prozent litten unter Schizophrenien, etwa 40 Prozent hatten eine Depression und Angsterkrankungen lagen bei um die 20 Prozent vor. Suchterkrankungen wurden bei circa 80 Prozent diagnostiziert.
Mein Vater passt also in das Schema. Und nicht nur in dieses Bild fügte er sich gut ein. Denn Schritt für Schritt, Treffen für Treffen konnte ich ihm die Obdachlosigkeit mehr ansehen. Besser ausgedrückt: Ich konnte seinen körperlichen Verfall im Zeitraffer beobachten. Das wirrer werdende Haar. Das rauer werdende Gesicht. Der immer gebrechlicher werdende Körper. Der langsamer werdende Gang. Die schmutziger werdenden Klamotten. Der stärker werdende Geruch. Der noch stärker werdende Geruch. Das letzte Mal, als ich ihn sah, entsprach er meinem Bild eines Klischee-Obdachlosen.
Mein Vater, der Obdachlose.
Mein Vater, der Penner.
Die Aussage ist hart. Aber ja, so sehe ich ihn an manchen Tagen, wenn ich wütend auf ihn bin. Und ja, ich bin wütend. Wütend, weil er ist, wie er ist. Wütend, weil ich wegen ihm leide. Wütend, weil ich den vorherigen Satz egoistisch finde.
Und ja, bei manchen Treffen bin ich angeekelt, wenn er mich umarmt und auf die Wange küsst. Und ja, ich meine den Geruch nach Pisse und Muff noch Stunden nach dem Treffen an mir zu riechen, bis ich duschen gehe. Und ja, das alles bricht mir mein Herz.

Und trotzdem gebe ich nicht jedem obdachlosen Menschen Geld. Ich würde gerne, doch manchmal kann ich nicht – und ja, manchmal will ich auch einfach nicht. Was ich aber immer will, ist, dem mir gegenüberstehenden Menschen mit Respekt zu begegnen. Und mich mit dem mir gegenüberstehenden Menschen auch mal mehr auszutauschen als nur das Fünfzig-Cent-Stück gegen ein erwartetes „Danke“. Vielleicht kurz reden. Ein kurzes Lächeln. Zumindest die Existenz des Menschen anzuerkennen.
Denn egal wie wütend, verletzt und traurig ich bin: Wenn ich mir vorstelle, wie mein Vater in einer Menschenmasse um Hilfe fragt und das Einzige, was er bekommt, ist das Gefühl, ein Geist zu sein, dann reißt mein Herz. Jeder Mensch verdient Respekt. Jeder Mensch hat es verdient, gesehen zu werden.
Ist das zu viel verlangt?
AUTORIN: MARA
Betteln ist Ausdruck einer extremen Notlage. Das ist für viele schwer auszuhalten. Dafür hat die Caritas Tipps und Infos gesammelt, die dir helfen, Bettler:innen zu begegnen.

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