„Wie geht es dir gerade so?“, fragte mich mein bester Freund. Es war ein sonniger Oktobertag und wir standen am Fluss zwischen hohen Gräsern. Es handelte sich um eine einfache Frage, eine Frage, die man normalerweise mit „Ach ja, mir geht’s gut!“ beantwortet. Aber mir ging es nicht gut und vor mir stand mein bester Freund, wir kennen uns seit dem ersten Schultag der ersten Klasse. Mir ist bewusst, dass er es wirklich wissen will. Als ich meine nächsten Worte sagte, konnte ich ihn nicht ansehen. Meine Stimme begann zu zittern, ich drehte die langen Gräser zwischen meinen beringten Fingern hin und her und legte meinen ganzen visuellen Fokus darauf. „Nicht so gut“, sagte ich dann. „Mein Vater hat… ähm… hat eine Krebsdiagnose bekommen.“ Ich wollte nicht weinen. Ich hasse es, vor anderen Menschen zu heulen. Obwohl ich wusste, dass das vor mir mein bester Freund ist, der mich schon ein paar Mal weinen sah – und obwohl klar ist, dass meine Worte auch ein Grund zum Weinen sind. Er sagte es nicht, aber ich sah, dass ihn diese Nachricht traf. Er kennt meinen Vater gut und nahm mich in den Arm. Normalerweise umarmen wir uns nur zur Begrüßung, aber diese kurze, spontane und außergewöhnliche Umarmung war genau das, was ich brauchte. Ich starrte wieder auf die Gräser zwischen meinen Fingern und ab und zu auf die Sonne, die auf dem Wasser glitzerte – nur nicht in sein Gesicht. Ich kann das allgemein nicht gut, aber noch weniger mit Tränen in den Augen. „Ich wollte nicht weinen“, sagte ich und wusste, dass es unnötig ist. Es ist okay zu weinen. Immer, aber vor allem in dieser Situation.
Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich erfuhr, dass mein Vater Krebs hat. Es war ein Tag Anfang Oktober 2021, ich war 22 und saß in der Küche, als das Telefon klingelte. Mein Vater war bei einer Vorsorgeuntersuchung und entschied sich dazu, noch eine Magenspiegelung anzufragen – kann ja nicht schaden. Es gibt wohl so manche Dinge, für die man sich einfach so entscheidet, die schließlich das ganze Leben verändern. Diese Entscheidung war eine davon. Ihm wurde gesagt, es sei alles in Ordnung. Ein paar Tage später kam der Anruf, er solle doch bitte Ende der Woche vorbeikommen. Die ängstlichen Äußerungen meiner Mutter, es könne ja nur etwas Schlimmes sein, schob ich schroff beiseite. Das war für mich einfach nicht vorstellbar. Oder vielleicht wollte ich mir es einfach auch nicht vorstellen.
Das Telefon klingelte also an diesem Oktobertag, an dem ich in der Küche saß und an dem mein Vater für das persönliche Gespräch beim Arzt war. Meine Schwester nahm den Anruf entgegen und an ihrer Stimme erkannte ich, was für eine Art Neuigkeit es ist. Sie hatte bereits Tränen in ihren Augen, als sie in die Küche kam und „Speiseröhrenkrebs“ sagte. Danach glitzerten Tränen in meinen Augen. Ich schrieb der Person, die ich damals datete und der ich zu dieser Zeit immer alles als Erstes erzählte. „Warum ist das Leben manchmal so scheiße?“, schrieb ich. „Falls ich dir helfen kann, dann bin ich da“, antwortete er 10 Minuten später. Wie könnte er mir helfen, ich weiß es nicht. Ich schrieb auch einer Freundin, mit der ich mich an dem Tag treffen wollte. „Sollen wir darüber reden oder soll ich dich ablenken?“, fragte sie, „Am besten beides“, antwortete ich. Wir sprachen nicht darüber. Wir gingen essen, wir gingen ins Theater – doch wir sprachen nicht über diesen riesigen Elefanten im Raum. Wir redeten nicht über meine Nachricht und wir redeten nicht über die Sonnenbrille, die ich trug, weil meine Augen rot und verquollen waren. Wir redeten nie mehr darüber, sie fragte nicht. Ich wollte ihr das Thema nicht aufdrängen, weil ich das Gefühl hatte, dass es ihr unangenehm ist. Irgendwie wartete ich darauf, dass sie es von sich aus anschnitt. Das wäre ein Zeichen für mich gewesen, dass es sie nicht überfordert, wenn ich ihr erzählen würde, wie es mir geht. Aber sie schnitt es nicht an. Vielleicht wartete sie darauf, dass ich etwas sagte und damit ein Zeichen gebe, dass ich darüber sprechen will. Vielleicht warteten wir beide auf ein Zeichen der jeweils anderen Person – doch wir gaben uns gleichzeitig keins.
Meinen Vater hatte ich den ganzen Tag noch nicht gesehen. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, schrieb ich ihm. „Ich auch nicht“, antwortete er.
Die nächsten Wochen waren hart. Ich funktionierte jeden Tag. Ich studierte, ich arbeitete, ich bereitete mich auf mein Auslandssemester vor und überlegte gleichzeitig, ob es nicht ein fataler Fehler sein könnte, genau zu diesem Zeitpunkt für ein halbes Jahr wegzuziehen. Ich leitete eine ehrenamtliche Hochschulgruppe, hielt Referate, schrieb Hausarbeiten und arbeitete zweimal pro Woche in einem Buchladen. Ich hatte alles unter Kontrolle. Aber ich weinte mich jede Nacht in den Schlaf. Der Arzt sagte, wir sollten die Lebenserwartung von Speiseröhrenkrebs lieber nicht googlen, ich tat es trotzdem: Speiseröhrenkrebs ist eine seltene Krebserkrankung. Je weiter fortgeschritten, desto tödlicher. Risikofaktoren sind Rauchen, Alkohol und Übergewicht. Dies trifft auf meinen Vater alles nicht zu. Das ist bitter.
Ich schaute meiner müden Mutter in die Augen, die jeden Tag nach der Arbeit gleich zu meinem Vater ging, der wegen der hoffentlich rettenden OP im Krankenhaus war. Sie blieb immer mehrere Stunden und kam erst spät abends nach Hause. Meine Schwester und ich durften nicht zu ihm – Corona-Regeln. Es war November 2021 und jede Person im Krankenhaus durfte seit Kurzem nur eine ausgewählte Kontaktperson haben. Nach der ersten Operation war ich einmal bei ihm und brachte ihm Blumen mit. Danach kam die neue Maßnahme und ich durfte ihn einen Monat lang nicht mehr besuchen. Ich versuchte, über Whatsapp mit ihm Kontakt zu halten, aber er war so erschöpft, dass ich fast nichts von ihm hörte.
Ich wollte vor Wut am liebsten schreien, als mein Vater in der Nacht von einem Pfleger mehrere Stunden im Badezimmer des Krankenzimmers vergessen und von seinem ebenfalls sehr kranken Zimmernachbarn zurück ins Bett geschleppt wurde. Die Vorstellung machte mich rasend, wie ein von mir geliebter Mensch einem anderen Menschen so hilflos ausgeliefert sein konnte. Und weil ich wusste, dass der Pfleger wahrscheinlich so gestresst war, dass man es ihm nicht mal vorwerfen konnte.
Es gab Probleme und mein Vater kam auf die Intensivstation. „Gerade fühlt es sich bedrohlich an“ schrieb er mir. „Kann ich dir was Gutes tun?“ fragte ich. „Wenn beten hilft, dann tu es“, antwortete er. Er ist nicht religiös, ich auch nicht. Ich verstand erst später, wie lebensbedrohlich diese Situation wohl wirklich war. Aber irgendwie schien ich es wohl doch unterbewusst zu ahnen, denn in dieser Nacht schaltete ich mein Handy nicht wie sonst aus, sondern ließ es auf laut.
Ich schreibe Gedichte, die alle nur ein Thema haben. „Wohin nur mit mir“ steht in einem. Ja, wohin nur mit mir und mit dieser riesigen Angst. Die Tage nach der Krebsdiagnose habe ich meinen Vater nicht ansehen können, ohne zu weinen. Ich habe bemerkt, dass ich speichern will, wie er läuft, wie er Auto fährt, wie er lacht. Dies ist eins der schrecklichsten Gefühle, die ich kenne. Jetzt habe ich ihn seit einem Monat nicht gesehen. In mir ist so eine Wut und ich richte sie gegen die Coronagegner:innen. Ich weiß, dass sie nicht schuld daran sind, aber ich lese, dass wichtige Operationen verschoben werden müssen, weil es nicht genug freie Intensivbetten gibt. Hätten sich alle impfen lassen, wäre das vielleicht nicht passiert, denke ich.
Ich erzähle immer mehr Freund:innen von der Erkrankung meines Vaters und die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Ich bin dankbar für die, die regelmäßig nachfragen und verständnislos gegenüber denen, die das Thema von sich aus nie mehr anschneiden. In einem solchen Moment wirkt es für mich, als wäre es ihnen einfach egal. Ich finde erst später heraus, dass viele von ihnen oft über mich und meine Familie nachgedacht haben und auch ihren eigenen Eltern davon erzählt haben. Ich verstehe erst später so wirklich, dass es die Angst davor ist, etwas falsch zu machen. Einerseits ist es Angst, die sie hindert. Andererseits die Tabus, diese Tabus über Tod und Krankheit zu sprechen. Ich weiß, dass das für einige Menschen genau der richtige Umgang wäre: nicht darüber sprechen, nicht daran erinnert werden. Für mich war es das noch nie. Aber da ist jede:r anders – und wie soll man so genau wissen, was jemand braucht. Eine Freundin hat ihre Unsicherheit diesbezüglich offen mit mir geteilt. Diesen konstruktiven Ansatz fand ich so angenehm, dass ich ihn ab jetzt auch anwenden möchte – sollte ich in so eine Situation kommen. Ich werde sagen: „Hey, ich weiß irgendwie gar nicht, wie ich damit am besten umgehen soll… Möchtest du auf das Thema angesprochen werden oder lieber nicht?“
Viele schreiben auch „Melde dich, wenn du was brauchst“ und ich weiß, dass es genau so gemeint ist, aber es ist mir fast unmöglich, mich in Momenten der Verzweiflung in die Arme von jemandem fallen zu lassen. Ich habe Angst davor, dass sie mich nicht tragen können, dass ich irgendwann zu schwer werde. Ich vertraue mich deswegen nur denen an, die regelmäßig nachfragen und konkret Hilfe anbieten. Ihnen traue ich zu, dass sie mich tragen können.
Mein Vater geht sehr offen mit seiner Krebserkrankung um. Und mit der Welle der Anteilnahme, die unserer Familie und speziell ihm entgegenschlägt, hat keine:r von uns gerechnet. Eltern meiner eigenen Freund:innen und Kolleg:innen senden Briefe, Karten und Kekse, Schüler:innen schicken ihm Briefe und kleine Geschenke, der Cousin meiner Mutter schenkt ihm eine Uhr seines kürzlich verstorbenen Bruders. Als er das macht, gehe ich aus dem Raum, weil ich die vielen Tränen nicht ertrage – auch wenn meine eigenen mir die Augen vernebeln.
Wie schlimm der scheiß Krebs auch ist, diese Reaktionen geben uns so viel Hoffnung in das Leben und in die Menschheit zurück. Aber ich habe das Gefühl, meine eigenen Freund:innen sind vielleicht noch zu geblendet von der jugendlichen Naivität, es würde schon alles gut ausgehen. Viele haben noch zu wenig Erfahrung damit gemacht, dass eben nicht alles im Leben gut ausgeht und können deshalb nicht nachvollziehen, wie hart das Leben mit einer schweren Erkrankung wie Krebs wirklich ist. Dennoch wird auch mir sehr viel Menschlichkeit zuteil: eine Freundin schickt mir eine „Ich denk an dich“–Karte, zwei andere backen Plätzchen für meine ganze Familie und stellen sie vor unsere Haustür und eine von ihnen gibt mir einen Kraftstein. Sehr viele Menschen fragen immer wieder nach, wie es meiner Familie und mir geht. Ich weiß, dass ich unfair bin, wenn ich manche innerlich dafür verurteile, dass sie dieses Thema, das gerade mein ganzes Leben bestimmt, so sehr meiden. Ich trage eine extreme Bitterkeit in mir und habe das Gefühl, ich muss sie an irgendwem auslassen. Fair ist das nicht, das weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt, wenn ich diesen Text schreibe – und eigentlich auch schon davor.
Mein Vater kommt nach über einem Monat aus dem Krankenhaus. Er wiegt 20 Kilo weniger, aber er ist wieder da. „Wie geht es dir?“, fragt er mich und, obwohl ich auch für ihn stark sein will, sage ich „Nicht so gut“ und er fragt ganz erstaunt „Warum?”. Ich frage mich, ob ihm überhaupt nicht klar ist, wie wahnsinnig viel er mir bedeutet. Er verbietet mir, mein Auslandssemester sausen zu lassen. Also mache ich mich Anfang Januar auf in ein anderes Land und bin irgendwie froh, alles so ein bisschen hinter mir lassen zu können. Gleichzeitig fühle ich mich schlecht, weil niemand sonst aus meiner Familie das Privileg hat. Ich schicke Fotos von verschneiten Bergen in der Arktis und mein Vater googelt nach Aktivitäten, die ich auf meinen Reisen machen könnte. Ich gehe per Schiff auf eine Nordlichtertour – und mein Vater beobachtet über eine Webcam im Internet live, wie das Schiff aus dem Hafen ausläuft.
Ich verpasse die schwierige Phase der Chemo und trage diesen Teil meines Lebens zuhause wie ein kleines verstecktes Päckchen mit mir mit – egal wo ich bin. Manchmal lasse ich Leute im Auslandssemester in dieses Päckchen schauen und es tut gut. Corona und die damit verbundenen Maßnahmen sind immer noch ein sensibles Thema für mich. Als wir eines Abends durch einen verschneiten Wald laufen und drei Freund:innen beginnen, darüber zu sprechen, dass die Corona-Regeln ja jetzt echt überholt seien, merke ich zum ersten Mal, dass das ein Thema ist, über das ich fast nicht sprechen kann, ohne unsachlich und höchst emotional zu werden. „Was ist mit den Risikopatient:innen?“, merke ich an. „Ja“, sagt ein Freund. „Die gibt es schon, aber das betrifft ja primär Leute mit Krebs oder sowas.” „Mein Vater hat Krebs“, sage ich. „Oh“, sagt er, dann nichts mehr und gleich darauf führt er seine Argumentation fort. Später entschuldigt er sich bei mir und wenn wir uns am letzten Tag des Auslandssemesters verabschieden werden, wird er mir noch einmal sagen, dass er mir und meinem Vater alles Gute wünscht. Auch er hat es nicht vergessen, obwohl wir nie wieder darüber gesprochen haben.
Das Auslandssemester geht weiter, die Chemotherapie geht weiter und mein Vater beginnt zu malen. Er ist richtig gut und ich bin begeistert von allem, was er mir in Form von Fotos schickt. „Mal mir was“, bitte ich ihn und ein paar Wochen später finde ich eine selbst gemalte Postkarte mit Mohnblumen in meinem Briefkasten. Ich hänge sie über mein Bett.
Es wird Frühling und dann Sommer und ich denke immer seltener an diesen Krebs, den ich so sehr hasse. Manchmal überrollt mich der Gedanke daran wie eine Welle und dann merke ich, dass das Thema trotzdem da ist und in mir schlummert wie ein Vulkan. Aber zumindest einer, der nicht kurz davor ist, zu explodieren.
Die Chemo ist beendet und dann kommt der Tag, wo ich die Nachricht lese, dass von dem Krebs nichts mehr zu sehen ist – und der nächste Arzttermin ist erst im November. Das Leben fühlt sich auf einmal so gut an, aber ich traue mich auch nicht so ganz, mich zu freuen. Was, wenn er bald wieder da ist? Ich weiß, dass es den Schmerz dann auch nicht leichter machen würde, wenn ich mich jetzt nicht freue, aber es fällt mir schwer. Dieses Grundvertrauen, dass meiner Familie und mir nichts Schlimmes passieren wird, ist an diesem Oktobertag kaputt gegangen. Und ich glaube auch nicht, dass es wieder kommt.
Meine Eltern wollten mich während des Auslandssemesters besuchen und ich freute mich sehr darauf, ihnen alles zu zeigen. Letztendlich kam nur meine Mutter, mein Vater war noch zu schwach. Als ich dann zwei Wochen später nach Hause kam, waren sie alle da: meine Schwester, meine Mutter und mein immer noch sehr dünner Vater, der inzwischen wieder Haare hat.

Jetzt ist es Ende November 2022. Letzten Dienstag war die gefürchtete Untersuchung und es sieht immer noch alles gut aus. In unserem Haus hängen mittlerweile Bilder, die mein Vater gemalt hat. Eines davon habe ich gleich nach meiner Ankunft erkannt, es ist abgemalt von einem Foto, das ich auf einer Reise gemacht habe. Verschneite Berge in der Arktis.
AUTORIN: ANNIE, FOTOS: STELLA DEBORAH TRAUB

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