Der Tag war lang, der Magen knurrt und wenn man sich schon uninspiriert durch überfüllte Läden quälen muss, will man wenigstens an der Kasse seinen Frust abladen. Leider müssen darunter diejenigen leiden, die am wenigsten dafür können. Verkäufer*innen sieht man überall. Stets anwesend, aber selten motiviert. Als ich 16 war, bewarb ich mich für einen Job in einem Schuhhaus, wo ich dann sieben Jahre lang als Aushilfe arbeitete. Als ignoranter, ständig verkaterter und unmotivierter Teenager schlurfte ich allerdings nur missmutig durch die Gänge und zählte die Minuten, bis meine Schicht vorbei war. Teil des Jobs war natürlich, unseren Kunden mit Rat und Tat beim Einkauf zur Seite zu stehen. Es war also unglaublich wichtig, Hilfsbereitschaft auszustrahlen – jetzt rate mal, wer darauf keine Lust hatte?

Vivian ist 27, lebt in Köln und arbeitet als Lektorin. Wie ich kennt sie beide Seiten und die damit verbundenen Vor- und Nachteile eines Jobs im Einzelhandel. Welche Erfahrungen sie dort machte, berichtet sie ihm Interview. 

Hey Vivi, ganz kurz und knackig, was sollten wir über dich und deine Beschäftigung als Kassiererin wissen?
Hi Sofia! Kurz vor meinem jetzigen Beruf war ich für ein paar Monate in einem Konsumtempel angestellt – ein ziemlicher Bruch zu meinem geisteswissenschaftlichen, verkopften Studium, in dem mir die Konsumkritik eingetrichtert wurde. Ich liebe komplexe Theorien und Ideen, mag es, schlauen Worten zu lauschen und mit ihnen zu hantieren. Plötzlich also in einem Job zu stecken, in dem mein analytischer Blick nichts wert und auch fehlplatziert ist, war ein Realitätscheck für mich. Andererseits merkte ich, wie ich mein Arbeitsumfeld kritisch analysierte – weil ich es einfach nicht lassen kann – und dabei feststellte: gesellschaftliche Veränderungen machen vor dem Geschäft an der Kasse nicht halt – im Gegenteil werden sie hier sichtbar.

Warum hast du dich überhaupt dazu entschieden, nebenbei als Kassiererin zu arbeiten?
Ich war zu ‚alt‘, um irgendeinen finanziellen Support zu erhalten, zu verliebt, um nicht nach Köln zu ziehen und naiv genug, um zu glauben, dass ein Job an der Kasse chillig ist. Wer geht schon noch im ‚real life‘ einkaufen?, dachte ich.

Du standest wahrscheinlich schon so einige Male vor einer Kasse. Jetzt weißt du auch, wie es ist, dahinter zu stehen. Magst du mir erzählen, wie sich das für dich angefühlt hat?
Bevor ich hinter der Kasse stand, hatte ich einige Jahre Studium und Arbeit an der Uni hinter mir. An der Uni nehmen sich alle sehr ernst, alle sprechen über extrem wichtige Themen, sinnieren über gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. Plötzlich hinter der Kasse zu stehen war die bittersüße Erkenntnis, wie wenig dieses theoretische Wissen hier relevant ist. ‚Gebildet‘ zu sein bedeutet eben nicht, dass man alles kann, dass man irgendwie abgehärtet ist oder anderen Menschen etwas voraushat.

Also, wie denkst darüber? 
Das es der härteste Job ist, den ich jemals haben werde. Die immer gleichen Phrasen, die du raushaust, die Abwesenheit von Tageslicht, die ewig unzufriedenen Kunden, die länger werdende Schlange. Einmal habe ich mir mit einer Sicherung in den Finger gestochen und blutend weitergearbeitet – ging halt nicht anders. Ich habe dann gehofft, dass den Kund*innen die roten Flecken auf den Kassenzetteln nicht auffallen.

Aber du wusstest auch, dass das bald ein Ende hat.
Genau. Trotz Herablassung der Kund*innen immer wusste ich, dass ich hier nicht für immer arbeite. Ich bin privilegiert, weil ich studiert habe und Arbeitsbedingungen entwischen kann. Das ist aber anders für die Menschen, die seit Jahrzehnten hinter der Kasse stehen. Die müssen einen ganz anderen Panzer gegen unverschämte Kommentare entwickeln und haben auch mehr Respekt verdient.

Gibt es Hierarchien in Kaufhäusern?
Kassierer*innen, die sich strenger an die Kleidungsordnung halten und sich außerdem noch ordentlich zupudern dürfen auch in die Parfümabteilung. Das war zum Beispiel eine Hierarchie, die ich vorher nicht im Blick hatte. Die Haut der ‚besseren‘ Kassierer*innen ist makellos und glitzert, ihr Körper hat den Geruch des Arbeitsplatzes angenommen. Sie wissen auch, wie man einen Anzug faltet. Eine Kollegin hat (zu recht) die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie gesehen hat, wie ich eine Anzughose gefaltet habe.

Zwischenfrage: Hattet ihr eine Kleiderordnung?
Die Anweisung lautete: Geplegt, am liebsten in schwarz-weiß gekleidet und die Haare hochgesteckt. Mein Kompromiss war: schwarze Kleidung, Haare offen und gepflegt – bis auf meine dreckigen Sneaker, die nicht schön sind, in denen ich aber ohne Probleme 10 Stunden stehen kann.

Zurück zu den Hierarchien. Was gibt es da noch?
Die offensichtlichste Hierarchie besteht natürlich zwischen Kund*innen (den König*innen) und uns Kassierer*innen. Du bist da, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, eigene Ansprüche werden nicht akzeptiert.

Und bei den Angestellten?
Ansonsten gibt es natürlich noch die Hierarchie zwischen Kassierer*innen und Vorgesetzten, die über deren Arbeitsbedingungen entscheiden. Da heißt es dann: Wir kündigen erfahrenen Mitarbeiter*innen und stellen dafür nichtskönnende Student*innen (hallo!) oder Schüler*innen ein.

Mochtest du deine Vorgesetzten?
Meine Abteilungsleiter*innen waren weder dumm noch herzlos, sie sind nicht die Entscheidungsträger*innen, die die Arbeitsbedingungen der Kassierenden immer prekärer werden lassen. Ihr Job besteht darin, gute Stimmung zu kreieren. Und das schaffen sie; durch Zuhören, durch Lob und durch totale Selbstaufgabe. Da verzeiht man ihnen als Kassiererin auch mal schnell, dass man nach ein paar Wochen in Job selber schon Leute einarbeiten musste oder dass nicht jede Pause eingehalten wird.

Wie siehts mit den Kunden aus. Gibt es da auch hierarchische Strukturen?
Je höher der Betrag am Ende auf der Kasse steht, desto wichtiger der Kunde, klar. Hier darf man sich dann besonders viel gefallen lassen. Kund*innen, die kein Deutsch sprechen, werden übrigens im Allgemeinen von den Kassierer*innen etwas abfälliger behandelt. Alltagsrassismus lässt grüßen.

Als ich noch im Schuhladen war, hatte ich das Gefühl, dass ich für die Kunden nicht viel mehr als eine Verkäuferin bin. Ein Dienst. Wenn es dann doch mal zur Sprache kam, dass ich Studentin bin, waren sie meist total überrascht. Als ob Verkäufer nicht gebildet sein dürfen. Wie denkst du darüber, kennst du diese herablassenden Blicke von Kunden?
Wer stand nicht schon mal vor der Kasse und hat ein bisschen die Kassierer*in bemitleidet. Plötzlich war ich diese bemitleidete Person. Die gütig angelächelt wurde oder eben ignoriert oder angekeift.

Was meinst du, was denkt sich ein Kunde in diesem Moment?
Sie sehen dich nicht als Person, für sie bist du eine Kassierer*in. Egal wie nett auch manche Kund*innen sind, sie kommen gar nicht erst auf die Idee, dass du jemand außerhalb dieses Kaufhauses sein könntest. Denn du bist nur ihr Spiegel. Du reagierst nur. Sie sagen dir, dass es draußen regnet, und du beschwerst dich über das Wetter. Sie fragen dich, ob du die Bluse denn auch schön findest, und du nickst enthusiastisch: „Oh ja, ganz toll die Bluse.“

Ging dir das manchmal auf die Nerven?
Richtig auf die Nerven gehen die Kund*innen, die Grenzen nicht respektieren, die nicht verstehen, dass die Schuld nicht bei uns liegt. Kassierer*innen können zum Beispiel natürlich nichts dafür, dass Stellen gestrichen werden und sie die Arbeit von mehreren Personen übernehmen müssen.

Kam Sexismus auch mal vor?
Natürlich gibt es auch noch gewisse Männertypen, die mit Kommentaren wie „die schönsten Frauen hat immer noch der Ostblock“ deine vermeintlich osteuropäischen Gesichtszüge kommentieren, während die Schlange immer länger wird und du überlegst, wie man charmant Leute los wird, ohne die eigene Seele zu verlieren.

Und sonst?
Das ist ja nur mein kleiner Einblick als weiße Frau. Nicht-weiße Kassierer*innen berichteten von diversen rassistischen Bemerkungen. Wenn es an der Kasse nicht zügig geht, mussten sie sich dann Sprüche anhören wie „Was für eine Bananenrepublik“.

Was geht dir dann durch den Kopf? Stellst du dir vor, dass du sie mit deinem Finger wegschnippst oder hast du andere Fantasien?
Mir hat die Gewissheit gereicht, dass ich alle nervigen, unzufriedenen Menschen morgen schon vergessen habe. Für die Frau, die in Wuttränen ausgebrochen ist, weil ich ein Loch in ihr T-Shirt gemacht habe, als ich die Sicherung entfernt habe, war das ein beschissener Tag – und ich die Verantwortliche. Für mich war sie eine von 1000, deren Gesicht ich nach zehn Minuten wieder vergessen werde.

Gab es auch Tage, an denen sie dich nicht abgefuckt haben?
Auf jeden Fall gibt es auch schöne Momente mit Kund*innen. Jedes ernst gemeinte Lächeln, jede Nachfrage, ob ich denn auch bald Feierabend habe und jedes „Keine Eile“ hat Wertschätzung und Verständnis zum Ausdruck gebracht. Eine ältere Frau, die sich ein Tuch um den Kopf gewickelt hatte, ziemlich blass und krank aussah, kaufte einen Lippenstift bei mir. „Ich brauchte heute einfach was Schönes,“ sagte sie. „Das kann ich verstehen,“ habe ich nur geantwortet, woraufhin sie mich anstrahlte. „Es ist schön, wenn wir Frauen uns verstehen.“ Natürlich wollen weder Kassierer*in noch die meisten Kund*innen Stress. Aber die Umstände lassen uns oft zu Wölfen werden.

Und dann wäre da noch der Druck in Kaufhäusern, den der immer größer werdende Online-Markt ausübt. Was meinst du dazu?
Nirgendwo spürt man diesen Druck wie im Einzelhandel. Es wird leerer. Vor den Kassen, in den Kassen, hinter den Kassen. Das Preis-Dumping lässt die Menschen zwei Mal überlegen, ob sie sich in die Stadt begeben, um einen Teddy zu kaufen, der ihnen auch ein paar Euro günstiger direkt vor die Tür geliefert wird. „Online gab es das günstiger“, hörte ich oft. Dass die Arbeitsbedingungen großer Internet-Lieferhäuser menschenrechtlich mehr als bedenklich sind, dass der Transport der Umwelt schadet und wir uns im Internet viel leichter zu Kaufentscheidungen verführen lassen, ist egal.

Bekommen Kunden einen Preisnachlass aufgrund eines günstigeren Preises im Internet?
Das kommt vor.

Wie denkst du darüber? Ist das den „echten“ Geschäften über fair?
Nein. Faire Preise schaffen faire Bedingungen. Mit diesem Gedanken müssen wir uns anfreunden. Trotzdem verstehe ich, dass viele Menschen auf jeden Euro gucken müssen.

Ich weiß noch, als die Sache mit dem Datenschutz verschärft wurde. Damals arbeitete ich für ein Marktforschungsunternehmen an der Hotline. Für uns war das mega nervig, da der Großteil der Teilnehmer paranoid wurde. Wie ist das im Kaufhaus, hast du davon was mitbekommen?
Zum allergrößten Teil drücken die Menschen dir ihre Payback-Karte ins Gesicht, bevor du auch nur das Scan-Gerät in die Hand nehmen kannst. Aber immer wieder erklären dir neunmal kluge Kund*innen, dass ja Daten gesammelt werden, dass sie überwacht werden. Und was sie sagen, stimmt natürlich – ich habe auch keine Payback-Karte. Diese Kommentare sind leider etwas deplatziert – erstens bin ich Angestellte auf dem niedrigsten Niveau, wem soll ich Bescheid sagen? Zweitens vermute ich stark, dass Menschen die Datensammlung an der Kasse ganz furchtbar finden, nur zu gern an anderer Stelle Bilder ihrer Kinder bei Facebook teilen, vermeintlich kostenlose Apps herunterladen, die sie ab sofort tracken dürfen und deren Suchanfragen bei Amazon bereits einen so ausgefuchsten Algorithmus entwickelt haben, dass ihre Kaufentscheidungen alles andere als frei sind.

Das sehe ich auch so. Die Zeiten, in denen echte Menschen hinter den Kassen stehen, sind vermutlich schneller vorbei, als wir es erahnen können. Fällt dir ein Grund ein, warum Kunden die menschlichen Kassierer mehr wert schätzen sollten?
Während in anderen Lebensbereichen wie Essen und Sport schon längst täglich #achtsamkeit und #entschleunigung gepredigt wird, sollte auch der Konsum stärker in den Fokus gerückt werden. Vielleicht ist der Akt des Shoppens im realen Leben auch eine Chance, zu entschleunigen. Du kannst dich beraten lassen, du kannst die Produkte in die Hand nehmen, du musst in der Schlange warten und dir deine Kaufentscheidung noch mal durch den Kopf gehen lassen. Und du trittst zumindest mit einem der wahrscheinlich 1000 Menschen in Kontakt, die dafür arbeiten, dass du dieses Produkt in der Hand hälst.

Onlineshopping ist ja mal ganz angenehm, aber irgendwas fehlt mir da.
Kundenrezensionen ersetzen Beratung nicht, die Bestellbestätigung ersetzt nicht das Gefühl, mit einem Produkt nach Hause zu gehen, was du auf jeden Fall behältst – und nicht am nächsten Tag wieder auf den Weg schickst, weil es doch nicht das Richtige war.

Was ist eigentlich mit dir, gehst du gerne shoppen?
Ironischerweise hatte ich mir genau in dem letzten Jahr vorgenommen, keine neue Kleidung zu kaufen. Das war überhaupt nicht schwer. Umsonstläden, Kleidertauschparties und Secondhandläden machen die Suche schöner und spannender. Ich war aber auch vorher nicht gut im Shoppen und bin es auch heute nicht.

Würdest du behaupten, dass du dir Gedanken darüber machst, was du kaufst?
Ja, und gerade deswegen bin ich auch nicht gut im Shoppen. Ich kann kein T-Shirt in die Hand nehmen, ohne an die Person zu denken, die es genäht hat. Ohne zu überlegen, wie ‚schädlich‘ das jetzt alles ist. Es ist furchtbar. Und einfach zu sagen, wir sollten alle nicht mehr shoppen, ist natürlich auch keine kurzfristige Lösung. Wir haben gesehen, was mit den Näherinnen in Bangladesch passiert ist, als coronabedingt niemand mehr einkaufte. Ihr Lebensunterhalt war fort und sie kämpften um ihr Überleben.

Letzte Frage: Wie viel Wahrheit steckte in deinem „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“ ?
Diese Worte sind mein Arbeitsauftrag, sie sind also eine Ware, die Kund*innen ebenso konsumieren sollen wie die Weihnachtsdeko im Geschäft. Und dennoch habe ich es oft ernst gemeint. Aber wie viel Wahrheit steckt generell in unserer Arbeit? In den Funktionen, die wir im öffentlichen Leben erfüllen? Darauf habe ich keine Antwort.

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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