WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von sexueller Belästigung.
Ich bin kein ängstlicher Mensch. Ich lerne gerne neue Leute kennen und finde es spannend, unerwartete Erfahrungen zu machen. Ich gehe offen auf Fremde zu und entferne mich bewusst aus meiner Komfortzone. Ich fühle mich meistens wohl, wenn ich nachts alleine nach Hause gehe oder im Club abseits meiner Freund*innen tanze. Und doch gibt es Situationen, in denen ich instinktiv einen Fluchtreflex verspüre. Nicht so stark, dass man es mir ansehen würde, aber genug, um ein flaues Gefühl zu bekommen.
Gestern Abend habe ich einen – sagen wir mal – Freund besucht. Um den Tag entspannt ausklingen zu lassen und noch einmal die nette Regenluft zu schnuppern, unternahmen wir einen kleinen Ausflug zum nächsten Dönerstand, der uns mit einem Bier versorgen sollte. Vor dem Stand zwei Männer, beide etwas angeheitert. Als wir an ihnen vorbeigingen, drehten sie sich zu uns und stellten uns eine Frage, jedoch hatten sie bereits eine schwere Zunge, was es nicht möglich machte, sie auf Anhieb zu verstehen.
Meine instinktive Reaktion: Ein Schritt nach links und etwas Abstand nehmen. Die Reaktion meiner Begleitung: „Wie bitte? Was brauchen Sie?“ Ein Taxi brauchten sie. Alles harmlos also. Das Ganze stellte sich als komplizierter heraus, als wir im ersten Moment dachten – nach mittlerweile Jahren von Uber und Co. hatten wir beide vergessen, wie man eine Taxinummer wählt – doch schließlich konnten wir den Herren helfen und einen Chauffeur herbeischaffen. Die beiden zeigten sich außerordentlich dankbar und wollten es sich um keinen Preis nehmen lassen, uns auch noch einen 5-Euro-Schein zuzustecken, obwohl sie keinen besonders wohlhabenden Eindruck machten. Diese Geste rührte mich, schließlich hatten wir wirklich keine große Arbeit geleistet. Schließlich fuhren die Männer ab und wir verabschiedeten uns mit einem Lächeln im Gesicht.
Wieso reagierte ich nun im ersten Moment so irritiert? Mein Begleiter schien von der Situation gänzlich unbeeindruckt. Die Antwort: weil ich eine Frau bin.
Das sage ich keineswegs, um mich in eine Opferrolle zu setzen. Subjektiv gesehen war das keine Situation, die mir nachträglich zu Schaffen gemacht hat. Die beiden Herren stellten sich ja auf den zweiten Blick als sehr freundlich heraus und es war irgendwo auch ein lustiger Moment. Umso mehr stört es mich, dass ich eindeutig voreingenommen reagiert habe. Viel lieber wäre ich auch mit wohlwollender Neugier auf sie zugegangen.
Kleine Momente wie diese führen mir immer wieder vor Augen, dass ich anders bin. Dass ich mich anders verhalten muss, nur weil ich eine Frau bin. Von klein auf wird einem beigebracht, wachsam zu sein. Schreckensgeschichten aus den Nachrichten und mahnende Worte der Verwandten schüren eine Angst vor dem Unbekannten. So geht man nach abgeschlossener Sozialisierung mit einem weiten Blick durch die Straßen, meidet dunkle Ecken und sieht in jedem Mann, der einem nachts alleine begegnet, den zukünftigen Vergewaltiger/Gewalttätigen/potentielle Gefahr. Und das ist normal. Was ich hier eben beschrieben habe, ist keiner Frau ein unbekanntes Gefühl und auch die meisten Männer sind sich dessen denke ich bewusst.
Aber wieso ist das normal? Wie komme ich dazu, dass ich mich in meiner Heimatstadt in manchen Situationen fürchten muss, um sicherer zu sein? Das ist kein schönes Gefühl. Ich finde es sehr nett, wenn männliche Freunde anbieten, mich am Heimweg zu begleiten, und bin auch dankbar, wenn ein Mann, der in der Nacht hinter mir geht, die Straßenseite wechselt, um mich nicht zu verunsichern. Doch es fühlt sich immer schlecht an. Ich fühle mich in diesem Moment immer kleiner, schwächer und machtlos. Eigentlich möchte ich nicht beschützt werden, auch wenn es notwendig ist. Ich möchte mich stark und unabhängig fühlen. Und eben auch sicher.
Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich noch nie in eine Situation gekommen bin, in der mir tatsächlich physisch etwas zugestoßen ist. Viele, wenn nicht die meisten Frauen hatten weniger Glück. In jedem Moment werden überall auf der Welt Frauen verletzt und misshandelt. Dagegen ist mein bisschen Angst ein Pups. Doch Frauenmord und Vergewaltigungen sollten auf keinen Fall der Maßstab sein, was schlimm ist und was nicht. Dass Frauen überhaupt Gewalt zugeführt wird, ist schrecklich und wenn wir uns ehrlich sind ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. Nichts rechtfertigt, dass ein Mann einer Frau etwas antut. Verglichen mit anderen Gräueltaten kann man ein kurzes Unwohlsein leicht kleinreden. Doch auch das ist in gewisser Weise eine Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen und sexistischer Diskriminierung.
Somit muss ich nicht geschlagen werden, damit mir aus frauenrechtlicher Sicht etwas Schlimmes passiert ist. Es ist nicht die physische Gewalt, die die Grenze darstellt, ab wann ich als Frau angegriffen wurde. Wenn ich mich in einer Situation unwohl fühle oder Angst habe, ist auch damit schon die Grenze überschritten worden und sollte Ernst genommen werden.
Auch als Frau habe ich ein Recht auf geistige und körperliche Unversehrtheit im absolut gleichen Ausmaß wie ein Mann. Und wenn man es von diesem Standpunkt aus sieht, finde ich es auch schlimm, wenn ich mich in einer Situation unwohl fühle, in der ein Mann davon überhaupt nichts spürt.
Ich möchte eigentlich nicht in einer Welt leben, in der es normal ist, dass eine Frau auf ihrem Heimweg Angst hat. Das ist weder fair noch hat sie das auf irgendeine Weise verdient oder gar verschuldet. Dass niemand mit der Wimper zucken würde, wenn ich erzähle, dass ich nachts alleine war und mich unwohl gefühlt habe, finde ich – wenn man es sich im Detail durchdenkt – traurig. (Potenzielle) Gewalt gegen Frauen ist selbst in Europa so alltäglich, dass wir ziemlich unsensibel dazu sind. Das sollten wir ändern. Es sollte immer etwas Außergewöhnliches sein, wenn Frauen sich unsicher fühlen in dem Sinne, dass es in der Normalität keinen Platz hat.
Ich möchte nicht mehr hören „Aber es ist ja nichts passiert“, „Das darfst du nicht so ernst nehmen“ oder „Sie ist da eben sensibel“. Sätze, die ich leider auch von Frauen schon gehört habe. Ich möchte, dass Ernst genommen wird, wenn sich eine Frau unwohl fühlt. Und ich möchte, dass im nächsten Moment daran gedacht wird, was man dagegen tun könnte. Ich möchte, dass nicht vergessen wird, dass die Realität einer Frau so anders von der eines Mannes ist, in Situationen, in denen man es eigentlich gar nicht erwarten würde.
Margaret Atwood, die Autorin von „The Handmaid’s Tale“ fragte mal an einer Universität eine Gruppe von Frauen, aus welchen Gründen sie sich von Männern bedroht fühlen. Sie meinten, sie hätten Angst von Männern geschlagen, vergewaltigt oder umgebracht bzw. getötet zu werden. Dann fragte sie eine Gruppe Männer, wovor sie sich vor Frauen fürchten. Sie meinten, sie hätten Angst, von Frauen ausgelacht zu werden. Schon krass oder?
*Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Rufnummer 0800-116 016 und via Online-Beratung können sich neben Betroffenen auch Angehörige, Nahestehende und Fachkräfte Unterstützung holen.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.
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Autor:innen
War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften in Wien studiert und befindet sich aktuell im
Philosophiestudium. Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Wirtschaft und
Poltik.