Warnung: Dieser Text enthält Schilderungen einer Essstörung.

Das Croissant vor mir lächelt mich an und zwinkert mir zu. Verführerisch glänzt dieses gold-gelbe Stück Heaven vor mir auf dem Tisch. „Schon beim Anschauen nehm` ich zu.“ Standardsatz, den bestimmt schon die meisten, wenn nicht sogar wir alle mal gehört haben. Das erste Croissant konnte ich übrigens mit meinen Hinterkopfgedanken runterschlucken, das zweite blieb dann doch auf dem Teller liegen. Zu groß die Angst vor den Kalorien, dem süchtig machendem Buttergeschmack. Und dann geht wieder der gleiche Film in meinem Kopf los: Warum konnte ich nicht stark genug sein? Warum kann ich mich nicht zusammenreißen? Das Bild einer kleinen 10-Jährigen auf dem Pausenhof poppt vor meinem geistigen Auge auf. „Na, hast du mich vermisst?“ „Nein, habe ich nicht!“ Darf ich vorstellen, Mein schlechtes Gewissen, mein Minderwertigkeitskomplex.

Dieses 10-jährige Mädchen bin ich, die nie genug für irgendwas war. Nie genug in der Schule, im Singen, im Ballett. So setzt sich die Liste fort, von den Bundesjugendspielen will ich gar nicht erst anfangen.
Der Punkt, auf den ich hinauswill, ist: Ich hatte immer das Gefühl, nicht genug zu sein. Mir wurde es ja auch ständig unter die Nase gerieben. In der Grundschule waren es diese perfekten, zierlichen Mädchen, die sich elfengleich über den Schulhof bewegten. In der Musikschule waren es die unauffälligen kleinen Mozarts, die jeden Ton trafen und beim Feiergehen später meine Freundinnen, die permanent angesprochen wurden. Und dazwischen ich, die weder zierlich, noch elfengleich, geschweige denn unauffällig ist. Häufig kam ich nach der Schule nach Hause und fühlte mich dumm und unwichtig und wie oft ich nach dem Feiergehen zuhause allein in meinem Bett lag und mich fett und hässlich gefühlt habe, kann ich schon gar nicht mehr zählen. Versteht mich nicht falsch, ich hatte auch schon Beziehungen und One-Night-Stands. War auf super geilen Partys und habe mir nachts im Club die Seele aus dem Leib getanzt. Habe beim Singen alle Töne getroffen und schon mal statt der sonst üblichen Teilnehmerurkunde eine Siegerurkunde nach Hause gebracht.

Doch am Ende des Tages schaue ich die anderen an, die alle schneller, schlauer, schöner sind. Und sehe dann wieder in meinen Spiegel und ziehe den Bauch ein, frage mich, wie ich so ausgehen konnte. Weine vor Enttäuschung, zwar die richtigen Töne, aber nicht den richtigen Text gesungen zu haben. Nicht genug gegeben zu haben.

Mit 20 begleitet mich der Scheiß immer noch, ich darf hier kurz auf das Croissant vom Textbeginn erinnern. Das Fitnessarmband vibriert immer so schön, wenn ich mein Ziel von 8000 Schritten erreicht habe. Dann weiß ich, ich habe genug gemacht. Wenn ich nach einem Acht-Stunden-Arbeitstag nach Hause komme, mich in meine Sportkleidung zwänge und noch mal eine Stunde Workout mache, dann weiß ich, ich bin genug. Ist das nicht eigentlich eine Kunst? Ich rede mir permanent ein, nicht genug zu sein und es klappt. Ich bin nur dann genug, wenn ich über meine Grenzen hinaus gehe. Das jedoch nennt sich dann nicht genug sein, sondern Grenzüberschreitung. Blöd gelaufen, wieder mal nicht genug auf meine Bedürfnisse gehört. In meiner Heimatstadt würde man fragen, ist das Kunst oder kann das weg?

Immer wenn ich mit meinem Papa telefoniere, sagt er mir, er sei stolz auf mich. Und zwar nicht, weil ich dreimal pro Woche Workout mache, zum Apfel statt zum Croissant greife oder manchmal für drei Minuten zum Mozart mutiere. Sondern weil er stolz darauf ist, dass ich meinen Alltag, meinen Job, mein Leben doch irgendwie ganz gut auf die Kette kriege.

Diese Kunst also vom „Nicht-genug-sein“, meine Vorstellungen vom Perfektsein entspringen am Ende des Tages ja doch demselben Gehirn, das Endorphine beim Essen eines gold-gelben, nach butterschmeckendem Croissant ausschüttet. Total paradox, aber auch wunderschön.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Autorin: Cora
Illustration: Marius Korn

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