Meine Mutter kam aus verschiedenen Gründen mit 24 Jahren nach Deutschland. Neben der Neugier, wie sich ihre zweite Heimat so anfühlt (sie ist Deutsch-Chilenin) war einer der Gründe die mangelnde Jobchance, die sie in Chile in den 80ern hatte und die gesellschaftlichen Erwartungen an eine junge Frau wie sie vor allem zu Zeiten einer Diktatur. Auf meine Mutter warteten lauter Dinge, auf die sie keinen Bock hatte – die Verlobung mit ihrem langjährigen Freund mit der leisen Vorahnung, dass es nicht bei dieser einen cachetada¹ bleiben würde; die Meinung vieler um sie herum, dass Frauen nicht arbeiten sollten, ihren Beruf aufgeben, eine Familie gründen und für diese sorgen und zwar so, wie es auch von ihr erwartet wird. Keine Abweichungen; sich kleinmachen; sich anpassen.
Also wehrte sie sich dagegen, stieg einfach in den Flieger und kehrte lange nicht zurück. In Deutschland machte sie zwar genau jene Dinge, die sie auch in Chile erwartet hätten: Hochzeit, Kinder, Familie, Job stilllegen – jedoch mit dem Gefühl der Selbstbestimmtheit, das sie so in Chile nie hätte haben können.
Meine Schwester und ich wuchsen also mit dem ewigen Mantra auf, wirklich immer nur das zu machen, was wir wollen, und zwar so, wie wir es wollen, notfalls trotzig und bockig.
Ich wuchs in Deutschland sehr frei auf, habe mir beim Knutschen nie Gedanken gemacht, ob ich „zu leicht zu haben“ sei und redete mit Freundinnen und Freunden immer offen über seelische und körperliche Erfahrungen aller Art.
Dass das selbst junge Frauen in Chile sich oftmals nicht trauten, merkte ich erst, als ich vor elf Jahren ein Jahr dort verbrachte und mit Dingen, die mir so selbstverständlich waren, aneckte. Ich stieß auf viele „das gehört sich nicht“ oder „das gehört sich halt so“ und war oft verwirrt über die konservativen stillen Regeln und Benimmformeln inmitten eines frei und sexy zu oft-sehr-sexistischem-Reggaeton tanzenden Haufen junger Menschen. Vieles passte für mich im Kopf nicht zusammen; ich hatte permanent das Gefühl, hier falsch zu sein mit meiner mir damals selbstverständlichen Weltansicht. Ich merkte jedoch auch, wie unzufrieden die jungen Frauen in meinem Umfeld waren, wie viel Angst eine Frau in Lateinamerika leider immer noch zu oft spürt und wie der Drang nach Veränderung langsam, aber sicher hochkocht.

In den letzten elf Jahren hat sich viel getan und dem Himmel sei Dank gibt es Social Media. So konnte ich Kontakt mit meinen Freundinnen und meiner Familie in Chile halten und die aufrollende Veränderung beobachten. Junge Frauen², die sich zusammentun, um sich gegenseitig zu unterstützen, das Internet benutzen, um sich zu vernetzten und zu informieren, um sich Mut zu machen und um sich eine Stimme zu verschaffen. Es kamen Zahlen und Berichte ans Licht von Missbrauch und Femiziden. Es wurde auf die Straße gegangen. Es gibt unzählbare Kampagnen und Sinnfluencerinnen, die für Dinge wie Selbstliebe, Körperbewusstsein oder mentale Gesundheit plädieren und über sexismo, machismo toxico, feminismo uvm. aufklären. Auch wenn das dir jetzt alles gar nicht so krass vorkommt, ich – sowie meine chilenischen Freund:innen, bemerkten den Riesenschritt. Etwas Neues, worüber bisher noch nicht oder nicht viel gesprochen wurde, ist am Brodeln.
Und wir alle wollen Teil davon sein.
Jahrelang haben sich lateinamerikanische Frauen nicht getraut auszusprechen, was in ihren Ländern vorgeht, wie sie sich als Frauen fühlen, wie sie unterdrückt werden. Der Prototyp „Latina“ ist „doch eh schon stark, selbstbewusst, laut und hat die Zügel in der Hand“³ – wieso sollte sie sich also beschweren wollen oder sich benachteiligt fühlen? Eine Latina-Frau sei „zu aufreizend, selbst schuld, se lo buscó“– hat es sich selbst eingebrockt, wortwörtlich: selbst gesucht, wenn ihr etwas Schlimmes, verursacht durch einen Mann, zustößt. Ein weiteres Klischee, dass ich schon viel zu oft zu Ohren bekommen habe, ist, dass wir Latinas einfach „zu aufbrausend, zu dramatisch“ seien und „es einfach nur ein bisschen übertreiben“. Es wird nicht übertrieben, Leute. Die Zahlen sprechen für sich selbst.
In Chile wurden im Jahr 2020 40 Frauen Opfer eines Femizides, 147 weitere überlebten einen Femizidversuch. In Mexiko und Brasilien sind es zwischen 900 und 1200 Frauen pro Jahr, die von einem Mann umgebracht werden. Gemessen auf die Einwohnerzahl sind die Länder mit der höchsten Femizidrate El Salvador und Honduras in Mittelamerika. Die Zahlen bewegen nichts in dir? Probieren wir es so: Lateinamerika ist nach Afrika der am zweitheftigsten betroffenen Kontinent, was Gewalt an Frauen angeht. Aktuell ist 1 von 3 Frauen dort von physischer Gewalt oder sexueller Gewalt betroffen und alle zwei Stunden wird eine Frau durch einen Mann ermordet. In 58 von 100 Fällen ist der Mörder eine nahestehende Person oder ein Familienmitglied. Kolumbien, Argentinien, die Dominikanische Republik, Peru, Chile – diese fünf Länder haben in dieser Reihenfolge die höchste vom-eigenen-Partner-ermordet-Rate. Immer noch zu abstrakt?
137 Frauen sterben jeden Tag in Lateinamerika durch einen Mann. 137 JEDEN TAG. Hunderte weitere erleben Vergewaltigungen, Belästigung, Demütigung, Angst, tragen Traumata und psychische Schäden davon. Jede kennt eine. Jede hat selbst irgendetwas zu erzählen. Kann man das fassen?
Es reicht. Latinxs⁴ haben die Schnauze gestrichen voll. Und wehren sich. Bockig und trotzig – so wie ich es auch beigebracht bekommen haben. Laut und gemeinsam, organisiert und aktiv. Offline, online, künstlerisch, solidarisch.
Diese neue feministische Welle, der erste große Aufruhr für ganz Lateinamerika schuf Argentinien 2015 mit ihrer #niunamenos Kampagne – „keine einzige weniger“⁵. Es folgten Proteste in allen Ländern Lateinamerikas und auch daraufhin auch in vielen weiteren Ländern der Welt. Später kam in Mexiko die Bewegung #niunamas⁶ hinzu. Die feministische Hymne entstand in Chile durch die Gruppe LASTESIS, die einen Tanz starteten, der nicht nur in Lateinamerika, sondern global zum Hype wurde: „Un violador en tu camino“. Sogar in Berlin, Köln, Hamburg oder Düsseldorf wurde gegen Vergewaltiger getanzt. Wenn ich nur daran denke, singt mein ganzer Kopf im Technobeat: „y la culpa no era mia, ni donde estaba ni como vestia – el violador eres tu⁷!“ und die Videos auf YouTube oder Instagram lassen bei mir auch ein Jahr später noch Gänsehaut wachsen. Und jedes Mal, wenn ich das Lied „canción sin miedo ⁸“ von der mexikanischen Sängerin Vivir Quintana höre, bekomme ich einen so großen Kloß im Hals und ich singe mit, bis mir die Tränen fließen.
Am 30.12.2020 wachte ich zu einem Feed voller Videos auf mit Hunderten jubelnden, tanzenden Menschen auf den Straßen Argentiniens – die Abtreibung wurde legalisiert – ein sehr großer Schritt, denn in den meisten Ländern Lateinamerikas ist es noch immer verboten. Ich saß vor meinem Handy und fühlte vieles: Rührung und Stolz gegenüber dieser Gemeinschaft, dieses Zusammenhaltes dieser Energie, die all diese Frauen und Menschen ausstrahlen, die Bewusstsein für das Thema schaffen, die beständig für ihre Rechte weiterkämpfen und mit ihren Kampagnen und Bewegungen einen anstecken und dazu einladen mitzumachen, sich einzusetzen, mitzutanzen, mitzusingen, mitzuschreien, mitzumarschieren.
Deshalb bin ich ein Fan der feministischen Bewegung in Lateinamerika. Weil sie bockig ist und trotzig und wütend und aber gleichzeitig angstfrei und lebendig und voller einladender Freude auf eine bessere, selbstbestimmtere Zukunft – nicht nur für Frauen in Lateinamerika, sondern weltweit. Weil sie Dinge bewegt und Veränderung vorantreibt. Und weil die feministische Bewegung in Lateinamerika ein Vorbild ist. Sie haben sich rasant Platz gemacht, von meinem Gefühl von keiner Bewegung vor elf Jahren bis hin zu globalen Massenprotesten mit Bandanas in lila, grün und pink – Farben, die nun weltweit hierfür getragen werden. Weil sie an diesem 8. März 2021 zum feministischen Kampftag trotz Pandemie Platz, Orte und Möglichkeiten für große Proteste und Inszenierungen geschaffen haben und wir uns hier in Deutschland nun, elf Jahre nach meinem ersten unberechtigten Überlegenheitsgefühl, eine ordentliche Scheibe von den Latinxs abschneiden sollten.
¹ Die Ohrfeige (wortwörtlich: Schlag auf die Wange (el cachete)
² Vermehrt Frauen, natürlich gibt es aber auch andere Geschlechter, die sich mitanschlossen
³ Mir wurde das tatsächlich einmal exakt so gesagt
⁴ Um alle Geschlechter einzubeziehen schreibt man x statt a/o
⁵ es soll keine Frau mehr fehlen (= von einem Mann umgebracht werden)
⁶ Es soll keine Frau mehr sexuelle/physische/psychische Gewalt durch einen Mann erleiden müssen
⁷ Und die Schuld war nicht von mir, weder wo ich war noch was ich trug/ anhatte – der Vergewaltiger bist du.
⁸ Lied ohne Angst
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE

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