Eine bleibende Erinnerung: Ich bin elf Jahre alt, als ich auf der Schultoilette Blut in meiner Unterhose entdecke. Dass das meine Tage sein müssen, ist mir klar, schließlich hat eine meiner Freundinnen sie schon vor mir bekommen. Was das für meinen Körper bedeutet, weiß ich jedoch nicht. Als mir meine Mutter am gleichen Abend Binden gibt und mir deren Benutzung erklärt, ist meine Schamgrenze bereits erreicht. Meine Eltern versuchen mit mir darüber zu sprechen, aber ich fühle mich unwohl. Von meinen Freundinnen hat nur diese eine bereits ihre Tage. Und an meiner Schule und in Film, Fernsehen und Literatur wird überhaupt nicht darüber gesprochen. Die Menstruation begreife ich als Tabuthema. Das ist ein Problem, das meiner Meinung nach mit mangelnder Aufklärung zusammenhängt.

Im Sexualkundeunterricht meiner Schule zum Beispiel: Ich habe dort wenig gelernt, stattdessen war es einfach nur unangenehm. Als ich in der vierten Klasse war und lernte, wie die Befruchtung funktioniert, war das noch in Ordnung. Es wurde zu viel des Guten, als meine Mitschüler:innen und ich in der achten Klasse auf dem Gymnasium mit unserem sichtlich beschämten Biolehrer Kondome auspackten. Er konnte uns dabei nicht in die Augen sehen. Um die Scham auszublenden, zogen wir das Ganze ins Lächerliche, indem wir kicherten und Witze rissen. Der Lerneffekt blieb also aus. 

Dass es nicht nur mir so ging, zeigt eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2015: Zwar hatten mehr als 75 Prozent der befragten 14- bis 17-Jährigen in der Schule biologische Aspekte wie die Geschlechtsorgane und den Eisprung behandelt, jedoch hatte nicht mal die Hälfte auch über lebensnahe Bereiche wie Homosexualität und sexuelle Gewalt gesprochen – zumal ist die Themenauswahl der Studie nicht gerade divers. Ich lernte, wie eine Schwangerschaft funktioniert und, dass Kondome vor Geschlechtskrankheiten schützen. Aber Informationen dazu, wie Zärtlichkeit und Lust im sexuellen Konsens zusammenhängen, welche Vielfalt sexuelle Orientierungen haben oder wie ich zielführend mit Menstruationsbeschwerden umgehe: Fehlanzeige!

Und so vergingen meine Teenagerjahre, während ich keine Ahnung von meinem eigenen Körper hatte. Als ich mit 14 schlechte Haut und so starke Unterleibskrämpfe bekam, dass ich nach der Schule teilweise heulend im Bett lag, verschrieb mir meine Frauenärztin schließlich die Pille. Damals dachte ich, dadurch wäre das Problem gelöst. Doch im Laufe der Jahre bemerkte ich die Nebenwirkungen: Knoten in den Brüsten und eine mangelnde Libido, weswegen ich immer wieder die Pille wechselte. Meine Frauenärztin klärte mich nicht darüber auf, dass es auch nicht-hormonelle Alternativen im Umgang mit Zyklusbeschwerden sowie zur Verhütung gibt. Hätte das nicht Teil des Sexualkundeunterrichts sein sollen?

Mein jetziger Eindruck ist, dass sich die Gesellschaft langsam in Richtung sexueller Enttabuisierung entwickelt. Deshalb vermutete ich, dass der Sexualkundeunterricht progressiver geworden ist, seit ich vor mehr als zehn Jahren selbst das Vergnügen damit hatte. Und tatsächlich finden sich in den Rahmenlehrplänen der Bundesländer, die die Unterrichtsinhalte vorgeben, durchaus Themen wie sexuelle Selbstbestimmung, Genderidentitäten oder die Prävention sexueller Gewalt (siehe z. B. Berlin, Brandenburg, Hessen und Bayern).

Die Realität des Unterrichts sieht jedoch anders aus, wie mir Justus – der kleine Bruder eines Freundes – jetzt erzählte: Justus hat 2020 in Brandenburg sein Abitur gemacht und hatte zuletzt in der zehnten Klasse Sexualkunde – womit er ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie ich. „Den Unterricht fand ich nicht hilfreich”, sagt der 19-Jährige. „Ich habe zwar anatomisches Wissen vermittelt bekommen, beispielsweise über die Geschlechtsorgane, aber wenn ich ehrlich bin, können junge Menschen mit genauen Informationen über den Penis wenig anfangen.” Stattdessen hätte er sich lieber Informationen darüber gewünscht, wie man ein Kondom richtig aufzieht oder welche Nebenwirkungen hormonelle Verhütung haben kann. So wäre er während seiner ersten sexuellen Erfahrungen selbstsicherer gewesen und hätte besser verstanden, wie es seinen Freundinnen mit hormoneller Verhütung ging.

Woran es liegt, dass sich die Inhalte des Unterrichts teilweise so stark von denen der Rahmenlehrpläne unterscheiden, erklärt Jeffrey, ein Freund einer Freundin. Der 30-Jährige hat bereits in einer sechsten Klasse Sexualkunde gelehrt und sagt: „Rahmenlehrpläne werden nach Bundesländern entwickelt. Die Schulen bilden zwar basierend darauf interne Schulcurricula, die Schwerpunktsetzung dürfen jedoch individuell entschieden werden.”

Laut Jeffreys Freundin Johanna, die Gymnasiallehramt studiert hat, greifen viele Lehrkräfte deshalb lieber zu den biologischen Aspekten der Sexualkunde, weil diese leicht auf sachlicher Ebene vermittelbar sind als Bereiche, die in die Intimsphäre fallen. Denn Letztere sind laut der 28-Jährigen häufig nicht nur für Schüler:innen, sondern auch für Lehrkräfte schambehaftet. Schließlich wirkt es sich auch auf sie aus, dass Sexualität in vielen Bereichen lange ein Tabuthema war.

„Mein Lehrer vermittelte uns den Sexualkundeunterricht nach dem Motto: ,Heute machen wir Sexualkunde, das ist uns allen unangenehm, also lasst uns das schnell abhaken‘”, berichtet Justus. „Die anderen Klassen haben ähnliche Erfahrungen gemacht.” Die Vorgehensweise der Lehrkräfte ist zwar verständlich, jedoch trotzdem ein Problem. Denn Sexualkunde soll Schüler:innen eben nicht nur über Anatomie aufklären, sondern sie auch auf das Leben vorbereiten. Und das hat – zumindest bei mir – nicht geklappt. Stattdessen habe ich erst gelernt, wie mein Körper funktioniert, als ich nach mehr als zehn Jahren aufhörte, hormonell zu verhüten, also mit 25 – vor nicht mal einem Jahr. Dass es nicht zu meinem Körper gehört, schlechte Haut, spannende Brüste und ständig keine Libido zu haben, sondern dass das alles durch die künstliche Hormonzufuhr kam, war mir davor nicht bewusst. 

Bei meinen Freund:innen sieht es ähnlich aus: Ich habe männliche Freunde, die ihre Informationen über Sex als Teenager ausschließlich aus Pornos bezogen; die sich trotz eines aktiven Sexlebens noch nie auf Geschlechtskrankheiten testen ließen; die mich fragen, ob es wirklich so anstrengend ist, zu menstruieren. Ich habe Freundinnen, die mit Mitte zwanzig nicht wissen, wie ihre Vulva aussieht; die sich Sorgen machen, zu wenig oder zu viel Interesse an Sex zu haben; die trotz jahrelanger Einnahme der Pille keine Ahnung haben, wie diese funktioniert. Und ich kenne heterosexuelle Paare, bei denen es der Standard ist, dass sie nur ihm zuliebe Sex hat und dass er häufiger einen Orgasmus hat als sie. 

Denn den Großteil unserer Vorstellungen von Sexualität bezogen meine Freundinnen und ich als Teenager aus Serien wie O.C. California, Gossip Girl und Skins. Und wer die gesehen hat, dürfte wissen, dass sie nicht gerade zur Aufklärung dienen. Mit Beginn meiner Zwanziger klärte ich mich im Laufe der Jahre nach und nach selbst auf – beispielsweise darüber, dass Sex auch Frauen Spaß machen soll, dass ich niemandem Sex schulde und dass es normal ist, dass unterschiedliche Menschen einen unterschiedlich ausgeprägten Sexualtrieb haben. Dabei half mir der Austausch mit meinen Freund:innen, meine feministische Instagram-Bubble und entsprechende Autorinnen wie Katja Lewina und Margarete Stokowski.

Heute habe ich zum Glück das Gefühl, meinen Körper und meine Sexualität gut zu kennen und mich damit wohlzufühlen. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich nicht hin und wieder Unsicherheiten habe oder Dinge lerne, die ich eigentlich schon wissen sollte, wie die tatsächliche Größe der Klitoris. Was also muss sich ändern, damit zukünftige Generationen an Schulen besser aufgeklärt werden? Ein großes Problem ist laut Johanna, dass der familiäre Umgang mit dem Thema einen großen Einfluss darauf hat, wie Schüler:innen diesem im Unterricht begegnen: „Man sieht anhand ihrer Reaktionen, ob Sexualität bei ihnen zu Hause ein Tabuthema ist oder ob sich dort damit auseinandergesetzt wird, – sei es nur damit, dass es keine Scham bezüglich Nacktheit gibt”, sagt sie.

In meinem Fall kann ich meinen Eltern keinen Vorwurf machen: Während der wenigen Male, als ich ihnen als Teenager Fragen rund um meine Sexualität oder meinen Körper stellte, reagierten sie toll. Das Problem war, dass ich mich dafür so sehr schämte, dass ich in erster Linie gar nicht mit ihnen darüber reden wollte. Daher würde ich einen Schritt weiter gehen und sagen, dass die gesellschaftliche Schambehaftung von Sexualität der Grund dafür ist, dass sich sowohl Schüler:innen als auch Eltern und Lehrkräfte häufig mit dem Thema unwohl fühlen.

Es ist also wichtig, dass wir lernen, Sexualität nicht mehr als Rand-Aspekt unseres Lebens, sondern als essenziellen Teil unserer psychischen und physischen Gesundheit zu sehen. Johanna stimmt dem zu: „Mit unserer Generation kommt das Thema sowohl an Schulen als auch gesellschaftlich erst richtig an. Ich würde mir wünschen, dass die Schambehaftung von Sexualität weiter abnimmt. Lehrkräfte sollen professionell und verantwortungsbewusst damit umgehen – das geht aber nur, soweit es die Bedingungen erlauben.”

In der Zwischenzeit gibt es Möglichkeiten, wie Lehrkräfte den Schüler:innen mehr Raum geben können, um Fragen zu stellen und ihren Körper und ihre Sexualität kennenzulernen. So erzählt Jeffrey, dass er die Schüler:innen mitentscheiden ließ, wie der Sexualkundeunterricht ablaufen soll. Beispielsweise sammelten er und seine Kollegin anonyme Fragen von den Schüler:innen, die im Laufe des Unterrichts beantwortet wurden, wodurch Themen im Fokus standen, die für die Kinder relevant waren. Zusätzlich wurden sie gefragt, ob sie nach Geschlechtern aufgeteilt werden möchten. „Wir halten diese binäre Aufteilung zwar für gesellschaftlich überholt”, sagt Jeffrey. „Die Kinder wünschten sich das jedoch einstimmig.”

Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass der Sexualkundeunterricht von einer Person gehalten wird, die auch pädagogisch dazu ausgebildet ist – und nicht von meinem überforderten Biolehrer. Auch Unterstützung durch Sexualtherapeut:innen halte ich für sinnvoll. Außerdem hätte der Sexualkundeunterricht meine Schullaufbahn begleiten sollen. Denn in meinem Fall ging es in der vierten Klasse um die Befruchtung und in der achten Klasse noch ein wenig um Verhütung, mehr nicht. Es wäre toll gewesen, hätte man mir bis zum Ende meiner Schulzeit beigebracht, welche nicht-hormonellen Verhütungsmethoden es gibt, was die Klitoris ist und wie Konsens funktioniert.

Vor allem aber hätte ich mit elf Jahren gerne gelernt, wie ich zwischen Binden, Tampons und Co. die passenden Hygieneprodukte finde und, dass ich Zyklusbeschwerden auch mit Mönchspfeffer anstatt der Pille entgegenwirken kann. Dann hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, als ich auf der Schultoilette Blut in meiner Unterhose entdeckte.

Autorin: Lena

Illustration: Laura Sistig

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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