Auch die Bettler, jene, die ihre Knie und Ellenbogen in den Asphalt drücken und die Hände in Richtung Himmel halten, während sie einen Pappbecher und ein Schild mit der Bitte um eine Spende vor sich aufgestellt halten, sind schon bedauernswert genug. Aber sie haben wenigstens unseren Respekt. Sie sind mehrere Stunden täglich in einer Position gefangen, in der es kaum ein privilegierter Mensch aushalten würde, geschweige denn mehrmals die Woche. Sie sind uns also etwas voraus und haben wahrscheinlich auch ein Heim und eine Familie, die auf sie wartet. Sie sind reich gegen die Obdachlosen, die sich müde durch die Nacht schleppen. Hoffnungslos hoffen sie, von uns ignoranten und voreingenommenen Staatsdienern, ein paar Cent zu kriegen, damit sie sich wenigstens etwas zu Essen kaufen können; vielleicht ein Lächeln abbekommen, denn das würde ihnen das Gefühl geben, sie würden existieren.

Zu denken, dass wir ein Teil davon sein könnten, mitspielen in der Welt der heimatlosen Kämpfer, war nie unser Plan. Wer sich noch nie in einer menschenunwürdigen Situation wie dieser wiedergefunden hat, kann schlecht darüber urteilen, welche Empfindungen und Absichten man als solcher pflegt. Wenn der Tag zwei warme Mahlzeiten bereithält und man nur einen Wasserhahn aufdrehen muss, um den Durst zu stillen oder die Haut zu reinigen, hat man keine Ahnung, was es heißt, obdachlos zu sein. Und wichtiger noch, so jemand ist nicht befugt, Ansprüche zu stellen an diejenigen, die Tag für Tag durch die Hölle gehen.

Es ist Freitag, der 16. Oktober 2020 – 15 Uhr. Beckie, Tomas und ich wollen es wissen, wie fühlt es sich an, 24 Stunden auf Barcelonas Straßen zu leben, und was wird das mit uns machen?

Allein die Vorbereitungen in Beckies Wohnung lassen vermuten, dass wir das Gefühl haben, aus Zuckerwatte zu bestehen: Thermostrumpfhosen, zwei Paar Socken, Jeans, Ersatzunterhosen, mehrere T-Shirts, Longsleeves, Jacken, Rucksäcke, Decken, Kameras, Klopapier und eine halbe Packung Teelichter – wobei Letzteres gleich zweifach sinnvoll ist.

Die Tatsache, dass es uns egal ist, woher etwas stammt und was andere von uns denken, verhalf uns eine Stunde später, nachdem wir aus der Haustür geschlendert waren, zu unserem vorübergehenden Haus: Ein großer Pappkarton, der zwischen den Müllcontainern verweilte. Wir befinden uns zwar in Spanien, wo es auch noch nachts um die 18 Grad hat, doch ein Blick auf den Boden verrät uns, dass eine Decke als Unterlage nicht ausreicht. Zehn Minuten später, es ist 16:15 Uhr und wir beginnen unser Picknick gegenüber vom Plaça de Gaudí, direkt an der Hauptstraße – wobei: Zu einem Picknick gehört eine Mahlzeit und etwas zu trinken. Wir besitzen weder das eine noch das andere. Meinen Freunden macht es nichts aus, für die nächsten Stunden auf Nahrung verzichten zu müssen. Der Gedanke, ab sofort kein Wasser mehr griffbereit zu haben, löst eine fast schon lächerliche Nervosität und das dringende Bedürfnis nach Flüssigkeit bei mir aus. Eine Thermoskanne, vollgefüllt mit heißem irischem Tee, war alles, was wir hatten. Ein Liter für drei erwachsene Menschen.

Homeless 2
Foto: Tomas Russi

„What does it mean ‚being homeless’ for you?” – unsere Frage an die Passanten, die Beckie mit einem schwarzen Edding auf die frisch gestrichene Holzkiste schrieb: Eine Journalistin, ein Fotograf, eine Dichterin und eine Geschichte. In der Hoffnung, man würde uns dadurch Aufmerksamkeit schenken, platzierten wir die Box vor unseren Füßen, die nackt in die Sonne lachten, oder in unseren Schuhen kuschelten.

Die Mehrzahl der Menschen, die an uns vorbeigingen, waren Eltern mit ihren Kindern und Paare, die sich nicht dazu aufraffen konnten, Augenkontakt herzustellen. Teilnahmslos starrten sie ins Leere oder lasen unseren Spruch. Manche von ihnen fingen an, uns zu mustern, und schauten erneut weg. Nur wenn sie direkt angesprochen wurden oder etwas Außergewöhnliches in ihr Blickfeld kam, wie etwa ein Händewinken, flackerte in den matten Pupillen Leben auf, und sie blickten uns verwirrt an; verständnislos, weil sie nicht begriffen, wie jemand, der am Boden sitzt, es wagen kann, zu ihnen zu sprechen. Das Gefühl, nichts wert zu sein, stieg in mir schon nach einigen Minuten auf und das machte mich traurig und vielmehr noch: sauer.

Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass jemand wahrhaftes Interesse für uns aufbringen würde, als Marta, das 24-jährige Kindermädchen mit vier australischen Kids, bei uns Halt machte. Sofia, die älteste, wollte wissen, wieso wir auf dem Boden sitzen. Im Vorbeigehen hatte sie unsere Nachricht gelesen und für ihre neun Jahre verstand sie mehr, als der Großteil unserer Freunde. Kinder sind – um sich an unserem verblüffenden Glück zu bedienen – die Bürger unserer Träume. Ihr unschuldiger Verstand, ihre Neugier und die Liebe, die sie zu vergeben haben, lässt uns in Euphorie baden. Wir verabschiedeten uns mit einem feuchten Lächeln.

Homeless 7
Foto: Tomas Russi

„I don’t really know what it means to be homeless. I feel really sad for them. Everybody should have a place to live for.“ – Sofia (9)

Durst, Kälte und mein plattgesessener Hintern sorgen für Gejammer. Nach eineinhalb Stunden konnte ich an nichts anderes mehr denken, als das köstliche Gesöff aus dem Wasserhahn. Kein Vergleich zu der Wasserfontäne gegenüber im Park, deren kalkhaltige Flüssigkeit einen bitteren Geschmack in meinem Mund hinterlässt. Ich möchte so gerne eine Zigarette rauchen, habe jedoch Angst, danach noch durstiger zu sein – und trotzdem tue ich es, aus Langeweile. Beckies Gedichte und Unterhaltungen über vergangene Beziehungen lenken mich ab. Die Jacke auf meinem Schoß gibt mir Wärme, und immer noch sehne ich mich danach, mir etwas in den Mund zu schieben. Warten kann ich nicht gut. Wahrscheinlich eine gute Lektion, die glücklicherweise nicht mehr länger anhalten muss, denn die Kinder sind von ihrem Spaziergang im Park zurück. Marta fragt, ob wir ein paar Nüsse haben möchten. Unsere strahlenden Gesichter reichen ihr, um den Kindern im Anschluss zu vermitteln, dass sie uns die Mandeln in die Hände schütten dürfen.

Homeless 9
Foto: Tomas Russi

19:20 – wir ziehen um. Unsere Nachbarschaft wird ruhiger, mit der Kälte bleiben auch die letzten Passanten weg. Die Hoffnung auf Nahrung und etwas zu trinken stirbt an diesem Ort.

Not geht uns alle an – besonders aber die vielen heimatlosen Menschen weltweit. Mit diesem Projekt möchte ich meinen Lesern nicht nur etwas zum Durchlesen mitgeben, viel mehr noch: Es handelt sich um einen eindringlichen Appell! Obdachlosigkeit verdient Respekt. Die persönliche Not öffentlich zu machen, mit oder ohne betteln, erfordert Mut – und fordert mehr als Mitleid! Wenn du also, liebe Leserin, lieber Leser, deine geschätzte Aufmerksamkeit nicht irgendeinem Text zuwenden würdest, sondern ebendiesem hier, dürfen Sie sich als Lesewesen erleben. Mit einem Lächeln hilfst du Menschen dabei, sich menschlich zu fühlen. Mit einer Spende hilfst du ihnen dabei, Grundnahrungsmittel besorgen zu können – welche das auch immer sein mögen, denn das Urteil darüber steht uns Unwissenden nicht zu. Hierbei handelt es sich um eine Reihe, weitere Teile folgen. 

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

3 Comments on “Was bedeutet es, obdachlos zu sein?”

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