WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von Drogenmissbrauch.

Ich sah meiner jüngeren Schwester in ihre getrübten Augen und wusste, etwas war anders. Vielleicht war sie müde, vielleicht war sie verkatert. Nach einem fünfminütigen Gespräch wusste ich es. Sie war drauf. Zum Muttertag um zwölf Uhr mittags. Sie war auf Drogen, vor den zwei Personen, die sie am meisten respektierte. Und dann stürzte alles auf mich ein, wie ein Anfall. Ich sah die letzten Monate an mir vorbeiziehen: Meine Schwester, mit der ich vor Corona noch täglich etwas unternommen hatte, wollte mich nicht mehr sehen. Hier und dort hatte ich Geschichten von ihren Freund:innen gehört, die nicht nach ihr klangen, ihr ganzes Verhalten hatte sich verändert. Vor ihrem exzessiven Drogenkonsum sprachen wir über alles, was uns betraf. Wir teilten unsere Wünsche, Sehnsüchte oder Sorgen miteinander. Wir lachten viel über alltägliche Situationen. Generell lachen wir sehr viel, wenn wir uns sehen. An den wenigen Tagen, an denen wir uns sahen, führten wir jedoch nur noch oberflächliche Gespräche. Sie erzählte mir mal, dass sie mir nicht mehr erzählen wollte, was sie die Tage unternommen hatte, oder wie es ihr ging, aus Scham, weil sie mir dann hätte erzählen müssen, dass sie Drogen nimmt. Andererseits interessierte sie sich nicht mehr für mich, vergaß unsere Treffen, wichtige Sachen, die ich erzählt hatte. Aus meiner Sicht war sie nicht mehr sie selbst. Sie wirkte kalt, verwirrt und mit schwerem Atem musste ich feststellen, dass sie weg war. Zumindest so, wie ich sie kannte.

Und dann folgte ihre Beichte zum Muttertag: „Mama, ich habe ein Drogen- und Alkoholproblem.“

Und so begann es. Wir stellten uns unzählige Fragen, machten uns unzählige Gedanken: Warum haben wir das so lange ignoriert, obwohl wir es hätten ahnen können? Warum geht es ihr so schlecht? Sind wir schuld? Was sollen wir jetzt machen? Wie helfen wir ihr? Sollen wir mit ihr reden?

Die Gründe für den Drogenkonsum meiner Schwester sind abgewichen von dem Streben nach Spaß und Feiern. Das Loch, in das sie gefallen war, wurde zum Teil auch von der Einsamkeit, die die Pandemie mit sich brachte, verursacht. Sie war gerade mit ihrem Freund in eine eigene Wohnung gezogen. Der Freund verließ sie. Gleichzeitig lag ein ihr wichtiger Mensch aufgrund von Corona fast im Sterben. Sein Überleben war unklar und schon kam der nächste Lockdown. Der zweite, dritte und vierte Lockdown machten sie fertig und so begann der Drogenmissbrauch. Ich habe gelesen, dass die Verringerung des Konsums vorwiegend mit der Einschränkung von sozialen Kontakten verbunden ist (Bericht zur Drogensituation 2020, S. 55). Die Drogen ermöglichten meiner Schwester den Kontakt mit anderen während der Pandemie, so fing es an, dass sie mehr konsumierte. In dem Bericht stand auch, dass erste nicht repräsentative Daten existieren “hinsichtlich des Konsums psychoaktiver Substanzen als Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen Eindämmungsmaßnahmen. Diese reichen von häufigerem Konsum über eine Reduktion des Konsums bis zum Konsumstopp, wobei der häufigere Konsum überwiegt.“ 

Die Drogen, die meine Schwester vorwiegend einnahm, waren Beruhigungsmittel. Während der Corona-Pandemie waren es Benzodiazepine. Davon war sie am meisten abhängig. Benzodiazepine bzw. „Benzos“ sind rezeptpflichtige Medikamente, die bei Angst- und Schlafstörungen verschrieben werden können. Sie zählen zu den psychoaktiven Substanzen. Das Medikament wirkt krampflösend, entspannend, beruhigend und angstlindernd. Aufgrund dessen, dass der Körper und die Psyche sich durch die häufige und langfristige Einnahme an die Wirkung von Benzodiazepinen gewöhnt, wird eine Hochdosisabhängigkeit verursacht, sagt das Gesundheitsportal. Der kalte Entzug von Benzodiazepinen ist laut Erfahrungsberichten sehr schwerwiegend und ähnelt einem Entzug von Heroin, manche sagen sogar, dass der Entzug schwieriger sei als bei Heroin. 

Gefährlich wird es bei den Benzos besonders dann, wenn man sie mit Alkohol zu sich nimmt. Laut meiner Schwester mischte sie beide Substanzen fast täglich. Die Mischung kann zu Bewusstlosigkeit, verlangsamter Atmung, Atemlähmung und sogar zum Tode führen. Am 17.08.2021 ist ein 17-jähriges Mädchen in Wien an dieser Mischung gestorben. Sie ist leider nicht die Erste in meinem Bekanntenkreis, die an dieser Kombination starb. 

Das war der Tag, an dem ich anfing, mir ernsthafte Sorgen um meine Schwester zu machen. Ich konnte nicht schlafen. Mama konnte nicht schlafen. Hilflos, verzweifelt und besorgt stellten wir uns die Fragen: Was ist, wenn sie heute stirbt? Was ist, wenn wir sie verloren haben? Jeden Tag telefonierten wir: Was ist unser nächster Schritt?

Wir ließen uns von Psychotherapeut:innen, Freund:innen, Menschen, die bereits einen Entzug hatten, beraten und hörten immer wieder dasselbe: Sie muss raus aus Wien, sie muss in eine Entzugsklinik, alleine schafft sie das nicht. Uns wurde vor allem die Therapiestation Lukasfeld, Stiftung Maria Ebene, empfohlen. Die Therapiestation spezialisiert sich auf Jugendliche und junge Erwachsene. Sie haben ein vielschichtiges Programm mit Sport, Kunst, Einzel- und Gruppentherapien sowie adäquater Betreuung. Meine Mutter und ich waren auf Anhieb begeistert von der Website. Leider vergeblich, denn wenn die Betroffenen nicht selbst aus der Sucht raus möchten, sind einem die Hände gebunden. Als wir meiner Schwester die Entzugsklinik vorschlugen, wehrte sie sich mit den Worten: „Sie werden mich einsperren. Ich verliere meine Freund:innen!!“

An einem guten Tag war der Wille meiner Schwester, etwas gegen die Drogensucht zu tun, da und an einem schlechten Tag war er auch schon wieder weg. Mal konnte ich mit ihr reden, nur um am nächsten Tag entsetzt feststellen zu müssen, dass sie fort war und am übernächsten Tag mit einem demolierten Gesicht wieder auftauchte. Auf die Frage, wie das passierte, kam die traurige Antwort: „Ich kann mich nicht mehr erinnern.“ Und so kam sie mehrmals mit Verletzungen zurück, ohne eine Ahnung zu haben, was passiert war. Aus unserer Recherche über die Abhängigkeit von Benzodiazepinen wussten wir um die Gefahr von Gedächtnisverlust und akuter Verwirrtheit bereits Bescheid. Diese Nebenwirkungen waren bei meiner Schwester zeitweise besonders akut.

Ihr zu helfen, bei ihr zu sein, für sie da zu sein, war eine tägliche Aufgabe für uns. Einerseits waren wir gedanklich bei ihr, andererseits versuchten wir auch physisch bei ihr zu sein. 

Wir redeten auf sie ein, schlugen ihr Entzugskonzepte vor, versicherten ihr, immer für sie da zu sein. Da sie nicht in die Entzugsklinik wollte, schlugen wir ihr vor, zurück in das Haus unserer Mutter zu ziehen. Es war wichtig, Kompromisse einzugehen, da sie nicht in eine Entzugsklinik wollte, mussten wir uns was anderes überlegen und das war das Zurückziehen zu unserer Mutter. Wir redeten unaufhörlich auf sie ein und wiederholten die Tatsachen jeden Tag. Und so hatten wir es nach einigen Wochen geschafft, dass sie zurück zu unserer Mutter zog. Natürlich hatte sie nicht aufgehört, Drogen zu nehmen, aber wenigstens wussten wir ungefähr darüber Bescheid, wo sie sich befand. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie mit den (illegalen) Drogen aufgehört, trank aber immer noch zwei bis drei Flaschen Wein am Tag.

Meine Schwester wollte anfangs nicht, dass ich ebenfalls bei meiner Mutter übernachte, solange sie da war. Doch so schnell konnte sie mich nicht loswerden. Außerdem hatte ich auch als „gemeine“ große Schwester einen Funken Spaß dabei, immer wieder ins Haus zu kommen und sie auf geschwisterliche Art zu nerven. Die oberflächlichen Gespräche hatten ihr Ende gefunden, als ich erklärt hatte, dass ich sie nicht dafür verurteile, dass sie sich nicht schämen müsse, dass ich mir nur für sie wünsche, dass sie glücklich ist. Wir saßen oft im Keller miteinander, wo wir rauchten, weinten oder lachten. Manchmal lachten und weinten wir gleichzeitig. Meine Mutter, meine Schwester und ich hatten uns zu der Zeit viele Liebes- sowie auch Hasserklärungen gemacht. Es ist ein Gefühlschaos, aber es ist wichtig darüber zu sprechen. 

Nach ein paar Wochen führte meine Mama ein sehr ehrliches und hartes Gespräch mit meiner Schwester. In dem Gespräch ging es darum, dass meine Mutter erschöpft davon sei, das alles länger mit anzuschauen, dass, wenn meine Schwester nicht aufhöre zu trinken, meine Mutter sie aufgeben würde, weil sie am Ende ihrer Kräfte angelangt war. Ich war bei dem Gespräch nicht dabei und es ist auch vieles unter ihnen geblieben, deswegen kann ich leider nur diese Bruchstücke davon berichten. Ich war meiner Mutter nur dankbar, denn das Gespräch bewegte meine Schwester dazu, für drei Monate keinen Schluck Alkohol zu trinken und keine weiteren Drogen zu nehmen. 

Seit einigen Wochen hat sie wieder begonnen zu trinken. Letzte Woche hat sie gesagt, dass sie wieder für einen Monat aufhören würde zu trinken, ob das stimmt, weiß ich nicht. Die Rückfallquote von Alkoholkranken liegt bei 70 bis 90 Prozent. Ich werde sie dennoch weiterhin auf ihrem Weg begleiten und unterstützen.

Zum Muttertag sitzen wir drei Mädels beisammen im Garten und grillen. Ich trinke meinen Aperol-Spritz und rege mich über alles und jeden auf. Meine Schwester zeichnet in ihrem Notizheft. Meine Mutter sagt etwas, bei dem wir uns beide fremdschämen. Unsere Blicke treffen sich und wir beginnen zu lachen.

Diese Augenblicke offenbaren mir, dass ich meine Schwester um nichts in der Welt verlieren will, und ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich mir wünsche, dass sie stärker ist als die Sucht.

Autorin: Celeste Sarah
Bild: @phoneizdeadagain / Edit: Teresa Vollmuth  

*Du hast ein Suchtproblem oder machst dir Sorgen um betroffene Freund:innen und Verwandte? Hilfe bei Drogenabhängigkeit findest du in Deutschland über das Suchthilfeverzeichnis, in Österreich bietet das öffentliche Gesundheitsportal anonyme lokale Suchtberatung und in der Schweiz findest du Beratung über Suchtschweiz.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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