Warnung: Dieser Text enthält Schilderungen von Selbstverstümmelung.

Im Internet erklären Neurologen und Psychiater, was unter selbstverletzendem Verhalten zu verstehen ist:

„Jugendliche mit psychischen Störungen oder Problemen haben ein besonders hohes Risiko selbstverletzendes Verhalten zu entwickeln. Unter selbstverletzenden Verhalten versteht man Handlungen, bei denen es zu einer bewussten Schädigung der Körperoberfläche kommt. Diese Handlungen sind sozial nicht akzeptiert und nicht suizidal intendiert. Selbstverletzung ist kein eigenständiges Krankheitsbild sondern tritt als Symptom einer psychischen Störung oder Erkrankung auf. Die häufigste Form der Selbstverletzung ist das Zufügen von Schnittverletzungen mit scharfen oder spitzen Gegenständen wie Messern, Rasierklingen, Scherben oder Nadeln.“

Vielleicht finde ich das nur so komisch, aber haben wir da nicht etwas übersehen?

Als Teenager dachte ich, es wäre cool, wenn ich mich ritze. Ich erinnere mich an viele Sportunterrichtstunden, in denen mein Ärmel in Blut getränkt war, weil ich mich am Abend zuvor geschnitten hatte. Aufmerksamkeit und die Besorgnis der anderen trieb mich an, aber in Wahrheit dachte ich: Ich will sterben. Gleichzeitig erfüllte ich ein damit noch heute bestehendes Stigma: der stumme Schrei nach Liebe. Damit war ich nicht allein. Viele Menschen in meinem Umfeld ritzten sich, darunter auch enge Freund:innen. Nach einiger Zeit aber legten sie das autoaggressive Verhalten ab. Im Gegensatz zu mir. Seit meiner Jugend hatte ich das nie hinterfragt. Bis ich 25 wurde.

Selbstverletzendes Verhalten muss nicht bedeuten, dass man seinem Körper Schaden zufügt oder dass man sich nur verletzt, wenn man jung ist oder eine psychische Störung hat. Ja, etwas stimmt nicht. Doch wenn wir ehrlich sind, wird unser Handeln doch erst dann besonders gefährlich, wenn wir anderen verkaufen wollen, nicht selbstzerstörend zu handeln, während die Verachtung uns selbst gegenüber unbeschwert wächst. Die Annahme, dass Narben sichtbar sein müssen, macht die Umwelt zu Täter:innen. Was ist mit den Menschen, die sich – unvoreingenommen – mit Alkohol oder Drogen betäuben, in einer toxischen Beziehung verweilen oder kaufsüchtig sind? Ich meine, ist das nicht auch eine Form von Selbstverletzung? Wenn ich so darüber nachdenke, ja. Trotzdem fühlte ich mich gesellschaftlich akzeptiert. Im Gegensatz zum Ritzen sind diese Formen der Selbstverletzung bekannt. Unter dem Decknamen „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“.

Hm, ja, also ich war 14, als ich anfing zu trinken. Fast immer mit dem Willen mich zu betäuben. Vielleicht war es aber auch gar nicht so schlimm, vielleicht habe ich auch einfach keinen Alkohol vertragen. Erst neulich wurde ich von einem Typen zum Trinken aufgefordert, meinte ich solle doch einfach mal Spaß haben. Da frage ich mich, hat mein immer gleicher Gesichtsausdruck – etwas mürrisch, eigentlich konzentriert, aber (fast) immer falsch interpretiert – eigentlich eine Daseinsberechtigung? Ja schon, aber wirklich willkommen ist er auch nicht. Also greife ich zur Flasche, zur Line oder zur Pille; ich möchte mich nämlich wohlfühlen.

Mit 18 bekam ich Lust auf Shoppen. Am liebsten ohne zu bezahlen. Das endete schon mal böse, ein bisschen verletzend, aber meistens machte mich der ganze Kram glücklich. Für ein paar Minuten. Toxische Beziehungen hingegen führte ich mein Leben lang. Zuhause, im Bett, mit Freund:innen, am Arbeitsplatz. Dafür, dass ich dadurch weder meinen Körper noch meine Schufa oder mein Führungszeugnis zerstörte, hinterließen sie ganz schön große Narben.

Inspiriert von meiner Vergangenheit mache ich mich also gedanklich auf die Suche nach einer Antwort. Zur Erinnerung: Es geht um Selbstverletzung und darum, dass diese so viel mehr einschließt, als sich ins eigene Fleisch zu schneiden.

Will man sich einen Spiegel vorhalten, wenn man gerade dabei ist, sich selbst zu verstümmeln? Will man Menschen darauf aufmerksam machen, dass sie gerade dabei sind, ihr Leben wegzuwerfen? Will man mit dem Scheiß anderer etwas zu tun haben, wenn‘s doch gesellschaftlich gesehen gar nicht so schlimm ist?

Sich zu ritzen sei was für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen. Ein Stigma, sage ich. Wer sich selbstverletzt, setzt einen Reiz, um sich damit aus einem negativen Gefühlszustand zu befreien. Ein Gefühl, dass ich beim Trinken, Kaufen, Konsumieren, Lieben verspürte. Wie wäre es, wenn wir mal darüber reden?

Die schnellste Hilfe finden Betroffene in einer Beratungsstelle, denn bei Psychologen sind zumeist die Wartezeiten bis zu einem Termin leider länger. Die Beratung in einer Beratungsstelle ist, wie bei Psycholog:innen, absolut vertraulich und zudem auch kostenfrei. Hilfe bei der Findung einer nächstgelegenden Beratungsstelle gibt es beim Hilfetelefon zur Suchtvorbeugung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: 0221 / 892031 (montags bis donnerstags von 10:00 – 22:00 Uhr, freitags bis sonntags von 10:00 – 18:00 Uhr).

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE / Foto: Fabian Meier

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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