Warnung: Dieser Text enthält Schilderungen von Gewalt gegen Kinder.

„Und dann ist es total eskaliert“, sagt mein Bruder am Telefon. „Wie?“, frage ich. „Na so wie früher. Also …“ Er zögert. „Ich weiß nicht, woran du dich noch erinnerst.“ Ich erinnere mich.

Mein Vater brüllt. Beschimpft sein Kind. Total außer sich. Geht auf meinen Bruder los. Mit der flachen Hand. Mit der Faust. Mit dem Teppichklopfer. Einmal sogar mit der Spitzhacke. Schreiende Kinder. Oder schreie ich? Mir klopft das Herz im Hals. Ich will, dass er aufhört.

Und genauso fühle ich mich jetzt. Herzrasen. Adrenalin. Ich habe Angst. Nein, ich bin wütend. Und unfassbar traurig. Er hat sich also doch nicht geändert.

„Du meinst unser Vater ist ausgerastet?“, frage ich fassungslos, als ich beginne zu begreifen. Alle Alarmglocken in mir schrillen. Mein Bruder erzählt mir vage, was passiert ist. Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen.

Es ist Ostermontag. Meine Eltern, mein Bruder und seine Kinder sitzen am Mittagstisch. Der Vierjährige macht Quatsch: Isst nicht, wirft Sachen herum, verhält sich destruktiv. Den ganzen Tag zerrt er schon an aller Nerven. Anziehen, Zähneputzen, ein Ausflug – alles wird zur Geduldsprobe, wenn ein Kind sich querstellt. Mein Bruder mahnt, versucht es mit gutem Zureden, dann wird er laut. Er fühlt sich machtlos. Alles hilft nichts. Dann mischen sich die Großeltern ein. Plötzlich läuft das Fass über – und mein Vater explodiert. Wie früher.

Der Opa brüllt. Beschimpft sein Enkelkind. Total außer sich. Geht auf meinen Neffen los. Mein Bruder greift rechtzeitig ein. Bringt den Kleinen in Sicherheit. Muss sein Kind vor seinem Vater schützen. Ich mag mir nicht vorstellen, wie er sich fühlt. Denn ich bin selbst Mutter – und Opfer.

„Du bist in unserem Haus nicht mehr willkommen!“, schreit der Opa seinem Enkel hinterher. Come on, Alter! Echt, jetzt?! Einem Vierjährigen. Wie erbärmlich.

Es ist richtig, der Kleine kann nerven und er legt es oft darauf an. Vielleicht fehlt es in seiner Erziehung an Konsequenzen. Doch vor allem: Er ist eben vier Jahre alt! Ein Kind. Ein kleiner Mensch, der die Welt entdeckt. Er muss herausfinden, warum Dinge so sind, wie sie sind, wann Menschen sich so oder anders verhalten, und wann er Dinge ändern kann – oder eben nicht.

Kinder kämpfen mit Ängsten, Unsicherheiten und Selbstzweifeln. Sie müssen lernen, damit umzugehen. Dabei brauchen sie Support und Verständnis, keine psychischen oder sogar physischen Verletzungen. Die bewirken das Gegenteil. Es ist ein tiefer Vertrauensbruch, wenn dir jemand, den du liebst und auf den du angewiesen bist, weh tut oder sogar seine blinde Wut an dir auslässt. Welche Lehre für das Leben soll das sein? Trau niemandem? Setz dich mit Gewalt durch? Lass deine Wut ungebremst raus?

Klar fällt es Eltern oder Erziehenden schwer, wenn jede Alltagssituation zum Kampf wird. Geht mir auch so. Ich fühle mich immer wieder überfordert oder spüre, wie es brodelt und die Wut hochkocht. (Ist ja erwiesenermaßen auch kein Wunder, wenn man von einem schlagenden Choleriker erzogen wurde.) Schlagen ist aber keine Option. Niemals. Es steht zu Recht unter Strafe. Seit 2000 steht im Bürgerlichen Gesetzbuch: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

Ein Klapps hat eben doch noch jedem geschadet. Und ja, die Hand kann einem ausrutschen, sollte sie aber nicht. Dafür muss man sich schämen und sich entschuldigen. Würdest du dich so gegenüber einem Erwachsenen verhalten, der dir gerade auf den Sack geht, Papa? Nein, das traust du dich nur bei einem wehrlosen Kind. Es tut mir leid, was dir in deiner Kindheit widerfahren ist. Und ich habe Mitleid mit dir, weil du so jähzornig bist und dich so wenig im Griff hast. Ich kann dich nicht hassen. Ich liebe dich sogar. Aber fass niemals mein Kind an!

Darüber reden hilft –
Nummer gegen Kummer.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Autorin: Babs Drischi
Illustration: Ramina Kalashnykova

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