Ich saß auf dem Fahrrad und raste durch Berlin-Mitte. Ich war auf dem Weg zu einem Freund. Mein Herz pochte wie wild. Mir lief der Schweiß von der Stirn und plötzlich bekam ich keine Luft mehr. Ich hatte Todesangst, fühlte mich machtlos und verspürte einen Kontrollverlust. Als ich wenige Wochen zuvor meine beiden ersten Panikattacken hatte, lag ich im Bett. Ich weiß noch, dass ich mehrere Minuten am Stück ein unkontrolliertes Zittern am gesamten Körper erlitt. Diesmal befand ich mich jedoch nicht in einer vertrauten Umgebung wie meinem Zimmer. Ich war als Fahrradfahrerin im Straßenverkehr – und hinter mir drängelten hupende Autos. Und leider gibt es kein Zeichen, dass ich als Antwort geben kann, wenn ich gerade eine Panikattacke habe. Deshalb fuhr ich an den Rand. Dort stellte ich das Fahrrad ab und setzte mich auf die Treppen eines Mehrfamilienhauses. Mit Telefonaten und einfühlsamen Gesprächen versuchte ich, mich ablenken. Das half mir dabei, mich zu beruhigen. Zwei Stunden später war es schließlich vorbei und ich fuhr weiter in Richtung Kreuzberg. Den restlichen Abend verbrachte ich mit Freund:innen und einfühlsamen Gesprächen.
Für Menschen, die in solch scheinbar ausweglosen Momenten feststecken, hat die freie Künstlerin Chris Gust Anfang 2019 „Mutruf“ ins Leben gerufen. Ein Telefondienst, der Menschen mit Panikattacken ehrenamtlich betreut. Sie selbst hat ihre Angst in ihrer Kunst verarbeitet. Heute möchte sie für andere Betroffene da sein. Ein Gespräch über den Umgang mit der Angst.
DIEVERPEILTE: Wann trifft der erste Anruf normalerweise ein?
Chris Gust: Ziemlich direkt danach, wenn wir unsere Schicht um 10 Uhr beginnen. In der Regel sehen wir dann die verpassten Anrufe. Viele probieren auch nachts uns zu erreichen.
Angenommen ein Anruf würde eintreffen. Was höre ich am Ende der Leitung?
Die meisten Leute, die bei uns anrufen, sind sehr zittrig. Deshalb klingen sie zu Beginn des Gesprächs abgehakt. Das liegt daran, dass sie zwischendurch immer wieder von der Angst geflutet werden. Aus diesem Grund ist das Erste, was wir am Telefon sagen: „Du hast Zeit. Nichts muss dir unangenehm sein“. Wir möchten, dass sich Betroffene mit uns wohlfühlen können. Meist erzählen sie uns von ihrem angespannten Zustand, sobald es ihnen besser geht. Manche sagen auch, dass sie gerade eine Panikattacke haben. Und dann geht es wie beim Pingpong hin und her. Wir fragen: „Wo bist du gerade?“ Dann fragen wir wieder: „Kannst du etwas trinken? Hast du die Möglichkeit, dich während des Gesprächs zu bewegen?“. Bis zu diesem Zeitpunkt kommt oftmals noch kein richtiges Gespräch zustande. Es fallen eher einzelne Wortfetzen – weil die Person gerade noch in der Angst-Situation steckt. Außerdem versuchen wir, herauszufinden, in welchen Verhältnissen sich die Betroffenen befinden. Zudem fragen wir, womit sie sich wohler fühlen: „Möchtest du von dir aus erzählen? Oder sollen wir dir etwas über das Thema Angst verraten?“

Und dann?
Sobald wir den:die Anrufer:in an diesem Punkt haben, fängt er:sie an zu erzählen. Meistens geht es um eine blöde Situation, die noch ansteht oder um etwas, das passiert ist. Viele Menschen kennen ihre Triggerpunkte schon sehr gut. Sie wissen also oftmals, wie es zur Panikattacke kam. Durch das Feedback, das sie durch uns erhalten, werden sie dann ruhiger. Erst danach ist es ihnen möglich, von ihren Erfahrungen erzählen.
Das klingt nach einem therapeutischen Ansatz.
Ein bisschen, ja. „Mutruf“ ersetzt aber keine Therapie. Wir sind keine Ärzt:innen oder Vergleichbares – alles, worauf wir diesen Dienst aufbauen, ist unsere eigene Erfahrung mit der Angst. Und verständnisvoll für jemanden da zu sein, das geht eben auch über ein Telefongespräch. Sobald die Person am Telefon dann ruhiger wird, schauen wir, welche Möglichkeiten gibt und überlegen, was jetzt hilfreich sein könnte.
Wie lange geht ein solches Telefonat normalerweise?
Ungefähr 15 bis 20 Minuten. Wir versuchen, die Gespräche zeitlich zu begrenzen, da wir möglichst allen helfen möchten. Außerdem können wir hören, wenn ein:e Anrufer:in bei uns „anklopft“. Manchmal, wenn uns die Zeit dafür bleibt, sprechen wir auch mal länger mit den Leuten. Unser Ansatz ist: Wir möchten den Menschen zu einem selbstständigen Umgang mit der Angst verhelfen. Sobald wir also das Gefühl haben, dass sich der:die Anrufer:in beruhigt hat oder in einem Zustand ist, indem er:sie alleine bleiben kann, beenden wir das Gespräch – damit die Person an dieser Situation wachsen kann. Nach dem Motto: Es fühlt sich zwar immer noch blöd an, denn ich bin immer noch zittrig. Aber ich komme jetzt damit klar. Und dann zum Abschied die klare Ansage: „Wenn die Angst wiederkommt, dann melde dich bei uns!“.
Gibt es Menschen, die regelmäßig bei „Mutruf“ anrufen?
Ja! Das geht teilweise so weit, dass wir Personen, die uns jedes Mal beim Spazierengehen anrufen wollen, klar sagen müssen, dass das nicht möglich ist. Denn regelmäßige Telefonate gehen über unsere Zielsetzung hinaus. Eine solche alltägliche Begleitung können wir einfach nicht leisten. Natürlich ist nichts verwerflich daran, Hilfe anzunehmen. Doch wir möchten, dass die Leute, die bei uns anrufen, lernen, wie sie sich bei künftigen Anfällen selbst aus der Angst heraushelfen können.
Zumal regelmäßige Gespräche ja auch wieder eher in Richtung Therapie gehen würden, oder?
Nicht unbedingt. Als Freund:in hört man immer wieder zu. Man redet über die Situation und tauscht sich aus. Und so ähnlich ist das auch bei uns. Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe in Akutsituationen der Angst, nicht um eine konstante Begleitung. Deshalb ist es für uns wichtig, immer wieder klarzustellen, dass es sich bei unserem Angebot um ein Mensch-zu-Mensch-Angebot handelt. Das kann man sich wie ein Telefonat unter Freund:innen vorstellen. Dadurch, dass die Gespräche so offen stattfinden, trifft man sich vergleichsweise schnell auf einer sehr intimen Ebene. Wodurch sich eben auch eine Vertrauensbasis für diesen Kernbereich entwickeln kann. Aber genau das bietet unser Telefondienst: Ein Gespräch unter Menschen, die sich verstehen und die einander beruhigen können – und sich Tipps für den Umgang mit der Angst mitgeben.
Warum ist das für euch wichtig, klarzustellen, dass ihr keinen therapeutischen Ansatz verfolgt?
Wir möchten mit unserer Arbeit ernst genommen werden. Deshalb betonen wir immer wieder, was unser Kompetenzbereich ist, und was nicht.
Ich habe auf eurer Homepage gelesen, dass ihr Anrufe und deren Absender:innen, die außerhalb eurer Sprechzeiten eintreffen, nicht zurückruft. Weshalb?
Genau! Wir wissen nie, in was für einer Situation die Menschen zu diesem Zeitpunkt stecken. Du kannst dabei auch an eine Person geraten, die gerade auf der Arbeit ist und nur kurz auf die Toilette gegangen ist, um uns anzurufen. In der Zwischenzeit hat sich diese Person vielleicht schon wieder gefangen und ist zurück am Arbeitsplatz. Oder auch Menschen, die sich zum Beispiel im privaten Umfeld noch nicht geoutet haben. So jemand möchte vermutlich nicht in Verlegenheit gebracht werden. Das denken wir uns dabei zumindest. Wir wollen niemanden bloßstellen oder in eine unangenehme Situation bringen – das steckt hauptsächlich dahinter.
Manchmal steckt ja auch eine Impulsentscheidung dahinter: Im dem einen Moment ist das Gefühl von Panik akut, in dem anderen schon wieder ganz weit weg.
Ganz genau. Und es soll von unserer Seite aus in keiner Form übergriffig sein oder so. Deswegen rufen wir niemanden zurück.

Wer ruft bei euch an?
Hauptsächlich Frauen. Ich würde sagen, dass die Aufteilung bei 90 zu 10 Prozent liegt – mehr Frauen als Männer. Die männlichen Personen, die dann aber bei uns anrufen, sind dafür sehr offen.
Wie meinst du das?
Dass sie ihre Geschichten mit uns teilen.
Ist das typisch, dass euch die Menschen ihre Geschichte über das Telefon anvertrauen?
Ja, das ist meistens so. Nach meinem Empfinden steckt dahinter eine große Sehnsucht danach, gehört zu werden. Und viele Anrufer:innen freuen sich darüber, dass da jemand ist, der zuhört.
Wie erklärst du dir das, dass die Zahl der männlichen Anrufer vergleichsweise so gering ist?
Stark vereinfacht würde ich sagen, dass Frauen in unserer Gesellschaft immer noch mehr das Emotionale zugesprochen wird. Selbst wenn Männer ihre Emotionen auch fühlen und ausleben wollen, haben diese Schwierigkeiten, einen offenen Umgang damit zu finden. Es herrschen einfach noch andere Verhaltensmuster, Prägungen und Tabus, die es in unserer Gesellschaft abzubauen gilt. Da haben wir Frauen einen Vorsprung. Was es uns an dieser Stelle einfacher macht, diese ausleben zu können. Das spiegelt sich auch in den Anrufen bei „Mutruf“ wider.
Welche hilfreichen Maßnahmen gibt es im Umgang mit Menschen mit Panikattacken?
Sobald wir merken, dass der:die Anrufer:in damit beginnt, uns zuzuhören und aufnahmebereit ist, soweit das eben in dieser Situation möglich ist, schauen wir: An welchem Punkt befindet sich dieser Mensch gerade? Hat die Person schon Therapieerfahrung? Gab es schon eine Abklärung von medizinischer Seite? Kann ausgeschlossen werden, dass es sich dabei um etwas Organisches handelt?
Weshalb ist das wichtig?
Damit wir schauen können, was der nächste Schritt für diesen Menschen sein könnte, um gegebenenfalls noch weitere Hilfe zu erhalten – oder auch, um überhaupt Unterstützung annehmen zu können. Denn oftmals ist es das erste Mal, dass die Menschen Hilfe suchen, wenn sie bei uns anrufen.
Warum findest du, dass ihr für diese Menschen die richtige Anlaufstelle seid?
Als Betroffene bieten wir ein besonderes Vertrauensverhältnis für viele Menschen. Dadurch, dass wir selbst durch diese qualvollen Erfahrungen gehen mussten, können wir anderen Betroffenen eine gute Unterstützung bieten. Ich glaube, was vielen Anrufer:innen gut tut, ist die Vermittlung des Gefühls: „Hilfe anzunehmen ist etwas Gutes“. Und das fühlt sich gut an. Mit jemanden über die Angst zu reden oder sich zu öffnen – alles mal auszusprechen, den Unmut zu äußern, zu weinen oder wie auch immer.
Wie geht es Menschen nach einem Telefonat mit euch? Mit welcher Stimmung werden Gespräche nach deinem Empfinden oftmals beendet?
Viele machen einen entspannten Eindruck auf mich – jedoch nicht im Sinne von tiefenentspannt und fröhlich lächelnd. Aber sie sind entspannter als zu Beginn des Telefonats. Sie sind über diesen Hochpunkt der Angst-/Panikattacke hinweg. Bestenfalls lachen wir gegen Ende des Gesprächs miteinander. Viele der Anrufer:innen fühlen sich dann wohlig und geborgen, da sie wissen: Ich musste da nicht alleine durch. Da ist jemand und ich bin auch nicht alleine mit dem, wie es mir geht. Ich glaube, das ist so ein Gefühl, was sie aus dem Telefonat mit uns für sich mitnehmen.
Humor kann ja auch Leichtigkeit in schwere Zeiten bringen.
Ja, genau. Der sogenannte Galgenhumor kommt bei uns ganz gerne zum Einsatz – dabei halte ich jedoch einen offenen Umgang damit für wichtig. Indem wir zum Beispiel Dinge klar ansprechen und auch mal nachfragen, ob sich die Person damit wohlfühlt, wenn wir Humor mitbringen. Ich finde das einfacher, als mich auf die Suche nach dem „Richtigen“ zu begeben.
Was hilft Menschen noch, die von Angst und Panik betroffen sind?
Allgemein kann es helfen, unseren psychischen Widerstand, also die für uns typischen Resilienzfaktoren zu stärken. Zum Beispiel: Bewegung, Schlaf und Ernährung, aber auch das Erlernen von Atem- und Entspannungstechniken, Achtsamkeitstraining sowie Meditation. Für Menschen, die mit Ängsten zu tun haben, ist es wichtig, sich Tools zu anzueignen, die dabei helfen, ins Jetzt zu kommen. Und dafür können wir beispielsweise prima unsere Sinne nutzen. Alles, was mit Bewegung und Sport zu tun hat – je nachdem, was für den Menschen körperlich überhaupt möglich ist – hilft dem Körper auf natürliche Art, Stresshormone abzubauen. Auch Reden kann guttun. Sich jemanden anzuvertrauen. Und je nachdem, wie der Leidensdruck im Leben ist, sollte man sich ganz ehrlich fragen: Schaffe ich das alleine? Oder brauche ich Hilfe? Denn der gute Umgang mit sich und eine positive Bewertung des Selbst sind die Grundpfeiler für eine starke Resilienz. Dazu bieten die Krankenkassen eine Auswahl an Angeboten.
Kannst du dich noch an deine erste Panikattacke erinnern?
Ich war Anfang 20, saß gerade im Auto und steckte im Stau fest. Damals befand ich mich in einer toxischen Beziehung, – konnte aber noch nicht einordnen, was zu diesem Zeitpunkt mit mir passierte. Plötzlich wurde mir schwindelig und ich erlebte weitere typische Merkmale von Angst. Mein Herz schlug plötzlich sehr schnell. Ich weiß noch, dass ich instinktiv probierte, mich zu kneifen oder andere Reize zu setzen, indem ich das Fenster runterdrehte. Ich dachte: Ich muss hier raus! Ich steckte fest in einer Situation, in der nichts mehr ging. Das war einfach furchtbar.
Aber du hast es geschafft.
Genau! Denn im Moment der Panikattacke passiert einem ja nicht wirklich etwas. Damals ging ich nicht zu einem Arzt, obwohl ich im Anschluss im häufiger Panikattacken erlitt – was ich mit meiner Partnerschaft in Verbindung brachte. Irgendwann habe ich mich aus der Beziehung befreit und lernte einen anderen Mann kennen. Mit ihm gründete ich dann eine Familie. Durch meine Kinder hatte ich schlagartig andere Prioritäten, wodurch die Angst erst mal nicht zurückkam.
Wie ging es dann weiter?
Im Jahr 2010 hatte ich erneut eine Panikattacke im Auto. Damals schwor ich mir: Meine Angst kriegt mich nicht klein! Ich fuhr weiter, kam aber total verschwitzt und zitternd an. Heute denke ich, dass es der falsche Weg war, gegen die Angst anzukämpfen. Denn die Panikattacken begleiteten mich noch weitere 6 oder 7 Jahre, sodass ich gefühlt rund um die Uhr mit Angst zu tun hatte. Teilweise sogar mehrere Panikattacken am Stück erlitt. Vor meinen Kindern oder auch im Job ließ ich mir jedoch nichts anmerken. Als ich dann für mich erkannte, was die Angst in mir auslöste und an dieser Stelle gezielt ansetzen konnte, hörte es auf. Das ist meiner Meinung nach viel sinnvoller, als zu kämpfen.
Was hat dir noch geholfen?
Seinerzeit habe ich ein Selbstportrait gemalt. Es war inspiriert von einem Bild, dass ich mal im Internet gesehen hatte. Darauf zu sehen war eine bunt gemalte Frau. Ihre Hände an das Gesicht gelehnt, die Augen geschlossen. Das Bild postete ich im Jahr 2016 zusammen mit meinen Erfahrungen der letzten Jahre auf Facebook – sozusagen mein Outing als Paniklerin.
Welche Reaktionen hast du daraufhin erhalten?
Es haben sich dann andere betroffene Menschen bei mir gemeldet und teilten ihre Geschichten mit mir. Einige davon kannten auch Menschen mit Angststörung aus ihrem Umfeld. Sie wollten dann zum Beispiel von mir wissen, wie ich es geschafft hätte, mich von der Angst zu lösen. Ich versuchte jede Nachricht einzeln zu beantworten, was mir aber nicht gelang. Daraufhin beschloss ich, meine Geschichte zusammen mit ein paar Tipps, die ich zu diesem Zeitpunkt geben konnte, in einem Buch zusammenzufassen. Und während ich an meinem diesem Buch arbeitete, kam mir die Idee, „Mutruf“ zu gründen.
Gibt es einen Fall, der dir besonders stark in Erinnerung geblieben ist?
Die Geschichte eines 80-jährigen Mannes hat mich mal zu Tränen gerührt. Er hatte einen Artikel über mich als Künstlerin in einer Hamburger Zeitung gelesen, worin „Mutruf“ erwähnt worden ist. Als er anrief, begann er zu weinen. Er erzählte mir davon, dass er sein Leben lange dachte, er wäre allein mit der Angst. Er, ein gestandener Kaufmann, der immer nur gearbeitet hat. Seine Panikattacken hatten während des Krieges begonnen. Im Bunker überkam ihn mal eine solche Panik, dass seine Mutter mit ihm durch die Gegend lief, um ihn zu beruhigen. Damals konnte er die Angst jedoch nicht als eine solche einordnen.

Das klingt nach einer emotionalen Geschichte.
Er war so froh, all das einfach mal erzählen zu können. Seinem Umfeld würde er das wohl niemals anvertrauen – aus Sorge, dort auf Verständnislosigkeit zu treffen. Umso befreiender empfand er das Telefonat mit uns. Es tat ihm sichtlich gut, eine virtuelle Umarmung zu erhalten und zu hören: „Hey, du bist nicht alleine!“ Und das nach so vielen Jahren. Dementsprechend beendete er das Telefonat überaus dankbar und schien erleichtert. Für mich sind solche Erfahrungen einfach unbezahlbar. Und das ist ja letztendlich auch genau das, was wir mit unserem Telefondienst erreichen wollen: Dass es den Menschen durch die Gespräche mit uns besser geht.
Die Erfahrung wird er wahrscheinlich nicht so schnell vergessen. Wie hat er das wohl durchgestanden?
Man passt sich an. Zumal er noch aus einer anderen Generation stammt. Da hat man nicht so viel über Selbstreflexion gesprochen, wie wir es heute tun. Damals schien es normal, Gefühle zu verstecken. Aus Angst, diese würden abgesprochen werden. Die Menschen haben mehr oder weniger durchgehend funktionieren müssen.
Haben sich die Probleme der Menschen seit eurer Gründung im Jahr 2019 verändert?
Durch die Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns hat sich einiges geändert. Die Isolation hat viel mit den Menschen gemacht – und die Folgen davon spüren wir immer noch.
Zum Beispiel?
Die Zahl der Menschen, die von Ängsten und Depressionen betroffen sind, ist angestiegen. Für viele war die Corona-Pandemie eine mentale Ausnahmesituation. Da sind Beziehungen auseinandergegangen, Berufe haben sich verändert und Menschen, die vorher nichts mit psychischen Erkrankungen zu tun hatten, lernten erstmals kennen, wie es ist, im eigenen Kopf gefangen zu sein. Das hat auf der einen Seite das wundervolle Potenzial mit sich gebracht: Die Leute sind offener geworden. Auf der anderen Seite ist das Leben weiter gegangen. Für Menschen, die noch immer mit Pandemie-Folgen wie Angst zu kämpfen haben, ist das ein Problem. Denn diese fühlen sich oftmals „falsch“. Viele denken, sie wären die Einzigen, die „zu schwach“ für diese Welt wären. Das sind Gedanken, die natürlich nicht der Wahrheit entsprechen – die aber sehr häufig vorkommen. Die Leute, die davon betroffen sind, fühlen sich mehr oder weniger alleine gelassen damit. Sie fühlen sich irgendwie unter den Tisch gekehrt. Nach meiner Erfahrung mit „Mutruf“ müssten die psychischen Folgen der Corona-Pandemie viel mehr thematisiert werden. Oder auch Krieg in Europa: Das brachte eine Welle an Anrufer:innen mit sich. Besonders Menschen mit Kleinkindern haben vermehrt bei uns angerufen, weil die Sorgen zu groß wurden. Auch das führte dazu, dass Menschen Ängste entwickelten.
Findest du, der Staat müsste gegen diese Entwicklung mehr machen?
Es wäre auf jeden Fall vorteilhaft, mehr über mentale Gesundheit zu wissen. Denn das ist auch der Grund, warum es „Mutruf“ gibt. Ich denke: Wir brauchen mehr Aufklärung! Mentale Gesundheit sollte bereits im Stundenplan eingebunden werden. Man sollte den Menschen von klein auf zeigen, wie wichtig mentale Gesundheit ist. Dass wir uns darauf genauso achten müssen wie auf unseren körperlichen Zustand. Es geht einfach darum, deutlich zu machen, dass Körper, Geist und Seele ein eingespieltes Orchester sind. Das kann auch helfen, um in Schulen auf die Folgen von beispielsweise Mobbing aufmerksam zu machen. Oder, um zu zeigen: Ihr seid nicht allein! Um die aktuelle psychische Krisen-Situation, in der man gerade steckt, besser einordnen zu können, ist es wichtig, zu wissen: Was sind die ersten Anzeichen von Angst? Und wo hört gesunde Angst auf? Ist es bedenklich, wenn ich mich nicht mehr traue, einkaufen zu gehen? Weshalb?
Danke für das Gespräch Chris!
Du erreichst Chris und ihr Team unter 04191 – 2749280 von montags bis donnerstags von 10 bis 18 Uhr. Freitags von 10 bis 12 Uhr.

Jetzt unabhängigen Journalismus supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folge uns auf Facebook und Instagram.
Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.