Was bedeutet es, eine Grenze zu überqueren? Wenn ich mit meiner Familie reiste, merkte ich es meistens nicht einmal, wenn wir von einem Land ins andere fuhren. Negative Erfahrungen beschränkten sich auf Staus auf der Autobahn. Die Grenzen waren für mich so unsichtbar, dass wir einmal extra im Zollhäuschen an der Schweizer Grenze hielten, weil ich einen Stempel in meinen Reisepass haben wollte. Der Kontrast dieser privilegierten Position zu der Realität so vieler Anderer ist absurd.
Absurd ist auch der mehrdeutige Status der polnischen Grenze. Während zu Kriegsbeginn Millionen Geflüchtete die Grenze zur Ukraine überquerten, wurde Zeitgleich an der Grenze zu Belarus eine 186 Kilometer lange Mauer gebaut. Mitten durch einen geschützten Urwald.
Es ist eine Grenze, die längst nicht mehr unsichtbar ist. Sie zeigt sich in Blut, Schweiß und Tränen. Die Menschen, die diese Grenze passieren oder es zumindest versuchen, sind unglaublicher Gewalt ausgesetzt. Auf der einen Seite werden sie von der belarussischen Grenzwache zu Grenzübertritten gezwungen, auf der anderen vom polnischen Militär illegal zurückgedrängt. Was dazwischen passiert, ist nicht weniger furchtbar. Die Geflüchteten sind zwischen beiden Seiten gefangen, viele erfroren im Wald.


Es ist eine humanitäre Katastrophe. Seit über einem Jahr lockt das belarussische Regime Geflüchtete mit dem Versprechen, in die EU zu gelangen, und treibt sie auf brutalste Weise nach Polen. Gruppen von bis zu 3000 Menschen werden an die Grenze gebracht und taktisch positioniert. Obwohl sie als Geflüchtete rechtlich gesehen an jedem Punkt ins Land kommen können, werden sie in den Wald gedrängt und durch Stacheldraht gezwungen. Egal wie. Die Geflüchteten werden von den belarussischen Wächtern getreten, geschlagen, von deren Hunden gejagt und ausgeraubt.


Das Ziel, Polen und die EU damit zu destabilisieren, haben sie vielleicht nicht erreicht, aber die Strategie zeigte ihren Effekt. Denn die Reaktion Polens ist eine Schande. Die illegalen Pushbacks verstoßen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, das EU-Recht und jeden menschlichen Anstand. Ebenso das polnische Gesetz, das diese Praxis legalisieren sollte. Monatelang war Hilfsorganisationen jeglicher Zutritt zu einer drei Kilometer langen Sperrzone verwehrt. Ärzt:innen, Journalist:innen und Aktivist:innen durften den Geflüchteten dort nicht helfen.
Getan haben sie es trotzdem – so gut es ging. Die Grupa Granica („Grenzgruppe“) vereint verschiedene Initiativen und Organisationen, die vor Ort humanitäre Hilfe leisten sowie Bericht erstatten. Einer der Aktivist:innen ist der Fotograf Karol Grygoruk. Seit 2018 dokumentiert er die Lebensrealität Geflüchteter rund um Europa. Er zeigt sie in Momenten, die sonst unsichtbar bleiben würden. Momente, die dem klassischen Nachrichtennarrativ entgehen. So entsteht eine Ehrlichkeit, in der die Zeit stillzustehen scheint.


Die Bilder dieser Reihe wurden 2021 und 2022 an der belarussischen und ukrainischen Grenze in Polen aufgenommen. Weitere Arbeiten von Karol Grygoruk findet ihr auf seinem Instagram Account und dem von RATS Agency.














Weitere Arbeiten von Karol Grygoruk findest du auf seinem Instagram-Account. Du kannst ihm auch folgen.

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folgt uns auf Facebook, Instagram und Spotify.
Autor:innen
War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften in Wien studiert und befindet sich aktuell im
Philosophiestudium. Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Wirtschaft und
Poltik.