WARNUNG: In diesem Text geht es neben Kaufsucht und Kleptomanie auch um psychische und körperliche Erkrankungen.

600.000 bis 800.000 Menschen aller Altersgruppen, Bildungs- und Einkommensschichten sind von Kaufsucht betroffen. Etwa 5 Prozent der Deutschen sind laut den Befragungen von Prof. Müller, die zum pathologischen Kaufen an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover forscht, sogar stark von Kaufsucht gefährdet – in Österreich sollen ein Viertel der Bewohner:innen kaufsuchtgefährdet sein. Doch Hilfe gibt es für Kaufsüchtige meist erst dann, wenn es zu spät ist – das kenne ich aus eigener Erfahrung. Mit 20 habe ich mit 10.000 Euro Schulden aus Verzweiflung Privatinsolvenz angemeldet. Doch geholfen hat es nicht. Es sollten noch viele Jahre vergehen, in denen ich wie in Trance weiter – von Kleidung bis Technik über die Einrichtung meiner Wohnung – alles, was mich durch die Online-Shops anlächelte, bestellte. Meist auf Rechnung. Das machte ich so lange, bis ich auf einem Schuldenberg im Wert eines Kleinwagens saß und Briefkasten, Gerichtsvollzieher:innen, Polizei und Gerichtsverhandlungen zu meinem persönlichen Albtraum wurden. Wie ich es da raus geschafft habe? Das erzähle ich ein anderes Mal. Heute spreche ich mit der 23-jährigen Alizah aus Köln, die über sich selbst sagt, dass sie schon immer eine Tendenz zur Kaufsucht hatte. Was dies genau bedeutet und warum die Hilfe für Betroffene meist zu spät kommt, darüber sprechen wir im Interview. 

DIEVERPEILTE: Wann hast du das letzte Mal etwas gekauft? 
Alizah: Gestern.

Und was?
Dieses Hemd (zeigt auf das schwarze Hemd, das sie trägt) und eine Hose.

Kannst du mir beschreiben, wie du das gekauft hast? Also von vorn: Du gehst in den Laden und siehst das Hemd. Was passiert mit dir, was denkst du darüber? Bis zu dem Punkt, wo du es dann tatsächlich kaufst und wieder zuhause bist.
Ich bin in den Laden gekommen und war sehr angetan von der großen Auswahl. Ich habe dieses Hemd gesehen und dachte: Okay, gutes Material, nicer Schnitt, es wird mir stehen! Dann habe ich es in die Hand genommen, um es mit in die Umkleide zu nehmen. Und dann sah ich die Hose: Okay, geile Hose. Ich bin relativ geübt im Shoppen. Ich weiß einfach, was gut an mir aussieht. Dann habe ich die Sachen und noch ein paar Dinge, wo ich Hmm, vielleicht dachte, mitgenommen. Zuerst kam ich mit der Hose raus. Der Laden war so klein und als ich aus der Umkleide trat, sahen mich die Verkäufer:innen an und bestätigten mir, was ich auch dachte: „Ja, das sieht wirklich gut aus!” Dann dachte ich schon: Boah, jetzt muss ich die Hose eigentlich kaufen. Aber ich war mir nicht sicher. Dann dachte ich: Man muss ja auch gucken, wie man die kombiniert. Also zog ich das Hemd dazu an und war überzeugt: Jetzt muss ich das Hemd auch noch kaufen, weil es so gut zusammen aussieht. 

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Die 23-jährige Alizah Ende Juli 2022 in Köln © Lea May

Und sonst hast du nichts, was du dazu anziehen könntest?
Ich habe schon Sachen, die ich dazu anziehen könnte. Aber sie passen nicht so perfekt wie das Hemd und die Hose. Und dann habe ich halt beides gekauft. Ich gehe da schon rein und meistens ist es so, dass ich die Sachen, die mir gefallen, direkt sehe – und eigentlich weiß, dass ich sie mitnehmen werde. Ich verarsche mich jedes Mal selber so ein bisschen in diesem ganzen Einkaufsprozess. Meine Gedanken sind: Ja, aber vielleicht steht dir das auch überhaupt nicht und in der Umkleide wirst du das dann ja richtig sehen … Und letztendlich passiert dann das, was ich mir als Erstes dachte: Ich nehme alles mit.

Was haben die zwei Teile zusammen gekostet?
110 Euro. 

Ist das viel Geld für dich?
Ja.

Hat also wehgetan beim Bezahlen.
Ja, aber ich hatte noch ein bisschen Weihnachtsgeld in der Schublade und deswegen fühlte es sich okay an. Aber im Nachhinein dachte ich mir, ich hätte es auch gekauft, wenn ich das Geld nicht gehabt hätte – und das hätte mich ins Minus gebracht, was wiederum nicht so schön gewesen wäre.

Was passiert bei dir, wenn du durch einen Laden läufst und schöne Dinge siehst?
Rauschhaft ist das ja schon. Es ist nicht so, dass ich, wenn ich in der Stadt bin, auch immer etwas kaufe. Aber allein die schöne Kleidung anzufassen, zu sehen und so, das macht schon was mit mir.

Was für Gefühle kommen in dir hoch, wenn du schöne Kleidung siehst oder anfasst? 
Glücksgefühle einfach. Ich bin erstmal freudig. Natürlich macht es dann auch schon Lust darauf, etwas zu kaufen. Das hyped mich total. Könnte man mit Vorglühen vergleichen.

Und wenn du die Sachen nicht gleich kaufen oder mitnehmen kannst?
(Überlegt lange) Hm, ja gut. Ich komme selten in die Situation, dass ich Dinge nicht kaufen kann. Man kann sie sich vielleicht nicht leisten, aber ich frage mich tatsächlich: Wann ist es mir das letzte Mal passiert, dass ich mir etwas nicht leisten konnte, was ich unbedingt haben wollte und deshalb nicht gekauft habe? Ich glaube, das ist extrem lange nicht passiert. 

Wie du schon sagst, gibt es einen finanziellen Rahmen, der darüber entscheidet, ob man sich etwas leisten kann oder nicht. Was ist, wenn es sich dabei um Luxusartikel handelt, die außerhalb deiner finanziellen Spannbreite sind?
Ich würde schon sagen, dass ich Luxusartikel, die wirklich absoluter Luxus sind, einfach meide. Also ich gucke mir das gar nicht erst an. Obwohl, es gab mal eine Carhartt-Latzhose in lila-grau, die war richtig geil. Ich habe sie online gesehen und immer wieder angeguckt und in den Warenkorb gelegt – manchmal auch gekauft, aber dann halt direkt wieder storniert. Das fühlte sich ein bisschen wie eine Subvention an. Man drückt auf „Kaufen“ und denkt: Ja! (hebt die Arme in die Höhe) und dann storniert man es. Aber man hatte kurz dieses Gefühl. 

War der Preis der Grund, warum du dir die Latzhose nicht gekauft hast? Weil sie zu teuer war?
Genau, die hat irgendwie knapp 200 Euro gekostet.

Okay, aber dann hast du dir ja trotzdem diesen kurzen Glücks-Booster-Moment beschaffen können, indem du es gekauft hast, dann zwar wieder storniert hast, aber du hattest dennoch das Gefühl, welches damit einhergeht, wenn man sich die Sachen beschafft. Auf diese Weise kann man ja die eigene Kaufsucht quasi auch austricksen.
Voll, ja. 

Bist du denn eher eine Online-Shopperin oder gehst du lieber in Läden?
Ich glaube, ich gehe lieber in Läden.

Wo liegt der Unterschied für dich?
Man kann die Sachen anfassen und anziehen, das finde ich einfach schöner. Für mich ist das ein mit positiven Gefühlen besetztes Ritual, eine solche Tour zu machen – durch die Läden, in die ich gerne gehe, zu streifen und dabei schöne Musik zu hören. 

Eine Art „Langeweile- und Zeitvertreib“?
Hm … schon, also ich gehe auch aus Langeweile shoppen. Wobei ich das Gefühl habe, wenn ich aus purer Langeweile einkaufen gehe, habe ich mich besser unter Kontrolle und dass, wenn ich mich gegen eine Sache entscheide, dies auch aus Vernunft passiert. Es dient schon als Coping-Strategie für mich: Wenn etwas Unangenehmes passiert und mir geht’s kacke, ist meine erste Reaktion: Hm, ich sollte jetzt einkaufen gehen. Dann wird alles wieder gut.

Ist das denn auch so? Geht’s dir danach besser?
Es ging mir danach definitiv oft besser. Aber es hält jetzt nicht so lange an – und es löst auch keine Probleme. Manchmal passiert es, wenn ich innerhalb einer Woche mehrmals aus Coping-Gründen einkaufen gehe, dass es mich dann noch trauriger macht. Beim ersten Mal geht es mir besser. Beim dritten Mal kippt die Stimmung dann aber – weil ich es mir auch einfach nicht leisten kann.

Ist es denn ausschließlich das Finanzielle, was dir ein mieses Gefühl vermittelt? Oder ist es auch ein schlechtes Gewissen in Form von: Ich bin wieder rückfällig geworden. Eigentlich wollte ich nicht so viel kaufen.
Ja, genau. Wenn es zum Beispiel dreimal die Woche geschieht, dann fühle ich mich relativ machtlos, was dieses Thema angeht. Fast so, als wäre es außerhalb meiner Kontrolle und dann macht es mich eher traurig und nicht mehr so glücklich. 

Was, außer Kleidung, kaufst du noch?
Schmuck und Schminke – aber nicht in demselben Ausmaß. Ich gebe zu, dass ich bei so kleinen Sachen eher dazu verleitet bin, auch mal etwas mitgehen zu lassen, ohne dafür zu bezahlen. 

Also hauptsächlich Produkte, die dazu beitragen, dass du dich optisch besser fühlst. 
Ja.

Gibt dir das dann auch mehr Selbstbewusstsein?
Schon, ja. 

Erhältst du viele Komplimente durch dein Umfeld?
Ja.

Zum Beispiel?
„Du hast so einen coolen Style“, „Du bist immer so gut angezogen“, „Das ist schön“ und so weiter. 

Und gefällt dir das?
Ja.

Hast du auch mal Phasen, in denen du genervt bist, wenn du Komplimente erhältst?
Ja, in Momenten, in denen mich das Kaufen an den Punkt von Verzweiflung gebracht hat. Einmal hatte ich zum Beispiel etwas online bestellt und als das Paket dann auf dem Weg zu mir war, habe ich so geheult, weil ich dachte, dass ich es nicht zurückschicken kann. In Zeiträumen, in denen ich Sachen mit einem solchen Gefühl gekauft habe und dafür dann Komplimente erhielt, tut das gar nicht gut.

Also man fühlt sich eh schon schlecht und dann kriegt man noch ein Kompliment für etwas, was man selber eigentlich gar nicht gut findet. Irgendwie absurd, oder?
Ja, und bei mir ist es im Umfeld irgendwie sehr zweigeteilt: Von einem Teil der Menschen bekomme ich ganz viele Komplimente, aber es gibt auch viele Menschen in meinem inneren Kreis, die sehr enttäuscht von mir sind, sobald ich wieder etwas gekauft habe. 

Diese Leute wissen dann schon von deinem Problem?
Ja.

Wann wurde dir denn bewusst, dass dein Kaufverhalten nicht der Norm entspricht?
Ich bin zum Glück nicht wirklich verschuldet, aber ich habe mir irgendwann von einer Freundin 500 Euro geliehen. Das war Ende des Monats und ich hatte kein Geld mehr – also habe ich es einfach gemacht. Und als ich das Geld dann hatte, habe ich mich im Nachhinein gefragt: Wofür habe ich eigentlich 500 Euro ausgegeben? Ja, Kleidung. Das ist sehr viel für meine Verhältnisse. Da ist mir dann so richtig bewusst geworden, dass ich ein Problem habe. Und dann habe ich auch mal zurück geguckt, woher das eigentlich kommt. In der Schulzeit hatten wir einen Secondhand-Laden um die Ecke. Ich bin da in der Mittagspause hingegangen, kam mit zwei Jutebeuteln voller Kleidung zurück und saß damit im Nachmittagsunterricht, weil mir das Einkaufen den Schultag einfach erträglicher gemacht hat. Da ist mir bewusst geworden, dass das ein Cope ist und wahrscheinlich auch kein guter. Der hat dann irgendwann so eine Maßlosigkeit erreicht – das war leider schon immer so. 

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Coping (auch Bewältigungsstrategie, Coping Mechanism oder Coping Skills) kommt vom englischen Verb „to cope with“ (deutsch: etwas bewältigen). Der Begriff beschreibt in der Psychologie den Umgang eines Menschen mit belastenden Lebensphasen und einschneidenden Erlebnissen. 

Wann hattest du dir die 500 Euro von deiner Freundin geliehen?
Anfang oder Mitte des letzten Jahres.

Du meintest, dass du dich „nicht wirklich“ verschuldet hättest. Was bedeutet das?
Also, mein Konto ist die meiste Zeit gedeckt. Ich habe keine unbezahlten Rechnungen oder so, wo sich jetzt Mahnungen häufen.

Hattest du das jemals?
Ich hatte schon mal eine Rechnung nicht bezahlt. Deshalb kamen Mahngebühren drauf und dann habe ich sie bezahlt. 

Hattest du nie etwas mit Inkassobüros oder Gerichtsvollzieher:innen zu tun?
Genau, ne. Ich habe mich da immer irgendwie relativ gut drum herum gewunden oder mal von der Tante Geld bekommen. Es ist nie so, dass ich jetzt zu Leuten hingehe und sage: Bitte gib mir jetzt Geld, ich muss etwas kaufen. Sondern ich bin dann im Minus oder so und dann sagt jemand: Ach komm, Alizah.

Wenn du online shoppst, wie machst du das dann? Wie bezahlst du deine Sachen?
Ich kaufe das meistens per Rechnung oder per Sofort-Überweisung. 

Und wenn du per Rechnung bestellst: Bezahlst du die Rechnung pünktlich?
In der Regel schon, ja.

Was wäre ein Grund für dich, sie nicht gleich zu bezahlen?
Im Moment habe ich keinen Grund. Ich kann mein Konto leider sehr weit überziehen.

Was heißt weit?
Um die 800 bis 900 Euro.

Wie weit hast du das bisher schon ausgedehnt?
Ich hatte das schon mal bis 700 Euro ausgereizt.

War das dann in Verbindung mit der Kaufsucht?
Ich bin aktuell seit einigen Monaten krankgeschrieben, mache aber eigentlich eine Ausbildung und erhalte Krankengeldbezug und Jobcenter-Leistungen. Währenddessen habe ich auch extrem über meine Verhältnisse gelebt. Da gehört das Kaufen von Kleidung auf jeden Fall ebenfalls dazu – doch dann kam irgendwie ein Geburtstag oder was weiß ich. Irgendwer hat mich halt immer wieder aus diesem Minus herausgeholt. Auch wegen der Möglichkeit des Kontoüberziehens. Klar ist es nicht gut, mein Konto regelmäßig zu überziehen. Trotzdem bezahle ich die Rechnungen immer – wegen der Mahngebühren. 

Weshalb bist du krankgeschrieben?
Wegen meiner psychischen Situation.

Magst du erzählen, um was es da geht?
Also der Hauptgrund ist meine Borderline-Diagnose. Und dann geht es noch um Depressionen – mal mehr, mal weniger.

Du hattest mir im Vorfeld von einem Medikament erzählt, dass du letztes Jahr eingenommen hast, welches dazu beitrug, dass sich deine Impulsstörung noch stärker ausprägte.
Genau, ABILIFY. Das ist ein Antipsychotikum. Ich hatte mal eine Psychose und im Anschluss daran bekam ich das Medikament verschrieben, das ich dann viel zu lange einnahm bzw. „nehmen durfte“. Durch die Einnahme merkte ich, dass ich das Kaufen weniger kontrollieren konnte. Als ich es dann reduzierte, habe ich auch wieder mehr Kontrolle darüber bekommen.

Wie äußerte sich das bei dir, dass du weniger Kontrolle über dein Kaufverhalten hattest?
Ich habe sonst das Gefühl, dass ich schon darauf achte, was ich kaufe. Dass ich nicht wahllos jedes Kleidungsstück, das mir ansatzweise gefällt, in den Einkaufswagen schmeiße. Sondern dass ich mir Gedanken über die Qualität, den Schnitt, die Passform und ob ich es überhaupt brauche, mache. Dass ich also schon Ansprüche hatte an das, was ich kaufe. Unter dem Medikamenteneinfluss hatte ich das Gefühl, diese Ansprüche verschwinden und ich denke: ICH MUSS DAS JETZT KAUFEN!

Hauptsache haben.
Genau, es hatte mehr so einen „Hauptsache haben“-Charakter bekommen. 

Wie ging es weiter, nachdem du ABILIFY abgesetzt hast?
Der Kaufdrang wurde weniger. Es ist schwer zu beschreiben, weil ich das Problem ja auch vor der Medikamenteneinnahme hatte, aber beim Runtersetzen hatte ich wieder das Gefühl, sagen zu können: Ne, das ist zum Beispiel an der Stelle falsch vernäht, deswegen nehme ich das nicht mit. 

Wie wurde bei euch zuhause mit dem Thema Geld umgegangen? Und welchen finanziellen Umgang hast du durch deine Familie mit auf den Weg bekommen?
Meine Mutter hat, zumindest seit ich sie kenne, als freiberufliche Künstlerin gearbeitet. Grob zusammengefasst war es so: Wir haben kein Geld, wir haben kein Geld, wir können uns nichts leisten – oh mein Gott, wie sollen wir das bezahlen? Ich habe ein Bild verkauft! Wir haben unglaublich viel Geld – du bist 11 Jahre alt: Hier hast du ein MacBook! Wir müssen es ausgeben, bevor es weg ist – und dann wieder von vorne. Davon bin ich nicht frei. Das hat sich schon so ein bisschen eingebrannt. Besonders dieser Spruch: „Wir müssen es ausgeben, bevor es weg ist!“. 

Sind deine Eltern getrennt?
Ja, genau. Ich bin bei meiner Mama aufgewachsen. 

Wie ist die Situation mit deinem Vater?
Er hat eine neue Familie mit drei Kindern und verdient auch nicht viel. Ich würde sagen, er pflegt einen durchschnittlichen Umgang mit Geld. Es wird gehaushaltet, es ist aber auch kein Raum für Luxus oder so etwas.

Gibt es eine Person bei dir in der Familie, die gut mit Geld umgehen kann?
Ja, meine eine Tante – die mich auch ein paar Mal aus dem Minus geholt hat. Sie verdient recht gut, und sie hat auch einen guten Umgang damit. So nach dem Motto: Alle zwei Jahre leiste ich mir mal etwas. 

Wie geht’s dir nach dem Einkaufen? Wenn du nach einer Shoppingtour zuhause ankommst? Was passiert als Erstes?
Wahrscheinlich lege ich mich hin und denke darüber nach, wann ich es anziehe und mit was.

Und wo ist die Tüte?
Auf dem Stuhl neben dem Tisch.

Also nicht ausgeräumt?
Genau.

Und dann liegst du im Bett und träumst davon, wann du es tragen wirst?
Schon gerne, ja. 

Du hast kein schlechtes Gewissen?
Ich glaube, dieser erste Moment des Träumens, wenn die Sachen also noch in der Tüte sind, beinhaltet noch keine Schuldgefühle. Aber sobald ich es in den Schrank räume, geht es los. 

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Kaufsüchtige sind im Moment des Kaufens davon überzeugt, dass sie die Ware auch tatsächlich brauchen. Es besteht ein starker Besitzwunsch. Das Kaufen wird dazu genutzt, sich besser oder selbstbewusster zu fühlen oder um negative Gefühlzustände zu überdecken. Das Stimmungshoch ist aber von kurzer Dauer, da sich nach dem Kaufakt Einsicht und Reue einstellen. Während des Kaufens werden die negativen Konsequenzen aber ausgeblendet.

Weil der Kauf dadurch real wird?
Ja, ich schneide den Zettel ab und es gehört jetzt wirklich mir. Es wird jetzt nicht mehr zurückgegeben, sondern es liegt nun im Schrank. Es ist angekommen.

Was sagt Alizah dann zu dir – in deinem Kopf?
Das ist dein sechstes langärmliges Oberteil mit Cut-outs. Wie viele davon brauchst du noch? Und wieso sollte dich genau dieses Oberteil glücklicher machen, als die fünf Teile davor? Es wird dich auch nicht länger glücklich machen!

Was antwortest du ihr dann?

Das Gespräch geht dann meistens wie folgt weiter: Ja, du hast schon Recht. Im Laden kam es mir noch so vor, als wäre es so besonders. Und ich hatte das Gefühl, dass ich es kaufen muss und wenn ich es im Vergleich zu den Sachen sehe, die ich schon habe, denke ich mir nur: Jetzt muss ich weniger oft waschen. 

Ja, so kann man sich selbst verarschen.
Genau.

Wie oft gehst du einkaufen?
Das ändert sich phasenweise, würde ich sagen. 

Beschreib mir mal eine Phase, in der du die Kontrolle über dein Kaufverhalten hast. Und eine, in der du gefühlt gar keine Kontrolle hast.
Wenn ich das Gefühl habe, ich habe Kontrolle: vielleicht so alle zwei Wochen. Gerne auch mal mit einer Freundin, nicht unbedingt nur für mich. Dann denke ich aber auch: Ich habe nicht so viel Geld, ich gehe nur in diese zwei Secondhand-Läden, die unglaublich günstig sind. Wenn ich dann etwas finde, nehme ich es mit.

Wie ist deine Stimmung, wenn du nichts findest?
Wie gesagt, wenn ich das Gefühl habe, ich habe so ein bisschen mehr Stabilität und Kontrolle, dann fühlt sich das auch nicht schlimm an. Dann denke ich: Okay, habe ich halt was unternommen. Wie so ein kleiner Ausflug. Aber wenn es mir schlechter geht, dann geht es schon darum, etwas zu kaufen und dann ist es auch enttäuschend, wenn ich nichts finde. Dann gehe ich in weitere billige Second Hands. Und wenn ich dort nichts finde, geht es in die nächsthöhere Preiskategorie – und immer weiter in teurere Läden, bis ich etwas gefunden habe. 

Was macht das dann mit dir, wenn du dann endlich etwas gefunden hast?
An einem solchen Tag, an dem ich „nur“ einen Ausflug in den Second Hand gemacht habe, weil es mir schlecht ging, dann ist das schon so: Okay, jetzt habe ich das. Bist du jetzt glücklich, Alizah?

Spielt Diebstahl eine wichtige Rolle für dich in deiner Kaufsucht? Also wenn du dir etwas nicht leisten kannst, ist dann die andere Option, es zu klauen?
Nicht unbedingt. Ich würde mich als eine relativ ängstliche Person beschreiben, und ich klaue ab und an. Aber dann klaue ich Dinge, bei denen ich mir sehr sicher bin, dass ich damit nicht erwischt werde. Ich würde jetzt nichts sehr Teures klauen.

Was sind das für Dinge?
Ohrringe in günstigen Läden. Also 12-Euro-Ohrringe oder einen Eyeliner, sowas.

Um was geht es dann? Geht es dir darum, dass du diese Ohrringe gerade wirklich brauchst oder darum, dass du irgendwas brauchst.
Ja, das ist schon so, dass ich einfach irgendetwas haben möchte. Ich würde es mir auch kaufen, aber es ist nicht wie bei diesem Hemd hier: dass ich es für besonders kostbar halte und dafür dann auch Geld ausgeben würde. Es geht mehr darum, dass ich irgendwas haben will.

Ist das Gefühl, dass du etwas haben möchtest, beim Diebstahl stärker ausgeprägt als beim Kaufen?
Ja.

Wie erklärst du dir das?
Ich glaube, diese Ohrringe hier habe ich geklaut (zeigt auf die Ohrringe, die sie gerade trägt). Ich hätte sie mir auch gekauft, weil ich sie wirklich mag und ich zieh sie auch oft an (lange Pause), aber es ist so einfach – und ich habe dann die ganze Zeit im Hinterkopf: Ich gebe ja schon so viel Geld aus mit den ganzen Sachen, die ich kaufe. Wenn es jetzt etwas gibt wie dieses Paar Ohrringe, was ich auch klauen kann, dann mache ich das einfach.

Vielleicht auch mit so einer Art Rechtfertigung: „Ich gebe ja schon so viel Geld für die ganzen anderen Sachen aus, dann kann ich das ja jetzt eigentlich auch klauen“.
Ja, genau. Mir ist das zum Beispiel schon öfter passiert, dass ich zwei Paar Ohrringe gefunden hatte, die ich haben wollte, aber nicht beide bezahlen möchte. Dann kaufe ich halt nur ein Paar und klaue das andere – und es fühlt sich an wie ein Schnäppchen.

In welcher Regelmäßigkeit klaust du Dinge?
In den letzten acht Wochen hat es wieder zugenommen. Ich habe auch ganz oft lange Phasen, wo ich das gar nicht mache.

Aber in den letzten Wochen wurde der Drang stärker? Wann hat das angefangen mit dem Klauen?
Ich hatte mit 15 oder 16 Jahren so eine krasse Klau-Phase und da wurde ich auch einmal erwischt. Ich war zum Glück noch zu jung für eine ernsthafte Strafe, aber das hat mich dann erstmal für eine Zeit abgeschreckt. Danach passierte es halt immer wieder, wenn es sich angeboten hat oder ich unbedingt etwas haben wollte, aber kein Geld dafür hatte.

Würdest du sagen, dass du darüber die Kontrolle hast?

Auf jeden Fall eher als übers Kaufen.

Woran machst du das fest?
Naja, weil ich beim Klauen ja auch noch die Option hätte, es zu kaufen.

Aber das eine ist legal, das andere ist illegal. Bei der illegalen Handlung zieht ja auch noch das Risiko mit, erwischt zu werden und eine Strafe zu bekommen.
Ich glaube, es kommt so ein bisschen auf mein Mindset an. Die letzten Wochen hatte ich so eine Art „Das passiert mir eh nicht“-Einstellung.

Aber vielleicht auch deshalb, weil du einen guten Lauf hattest und länger nichts passiert ist. Das heißt ja nicht, dass du nie erwischt wirst, sondern nur, dass es gerade einfach gut für dich läuft.
Ich habe schon das Gefühl, dass langsam wieder die Stimme der Vernunft einsetzt, die sagt: Das Risiko wird immer höher, dass du erwischt wirst –  je öfter du das machst. Warum ich denke, dass ich über das Klauen mehr Kontrolle habe als über das Kaufen, ist der Fakt, dass ich, wenn ich etwas nicht klauen kann, kaufen die nächste Alternative ist. 

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Der Verlauf der Kaufsucht kann sehr unterschiedlich sein. Betroffene berichten von langen Phasen, in denen sie symptomfrei sind, die sich mit Phasen abwechseln, in denen der Kaufsucht täglich nachgegangen wird.

Du meinst, dass, wenn du einen scheiß Tag in der Schule hattest und es dich dann in den Laden gezogen hat, hat dir das dann schon einen besseren Tag beschert? Was hat dazu geführt, dass ein Schultag scheiße für dich war?
Die Tatsache eines Schultages und wenig Schlaf. 

Aufgrund von was?
Diese ganze Jugend-Oberstufenzeit war sehr belastend für mich. Und ich meine, man kann eine Borderline-Störung erst ab 18 Jahren diagnostizieren. Das heißt nicht, dass die Erkrankung vorher nicht da ist. Nur ohne Diagnose kann sie auch nicht therapiert werden. Hinzu kommt, dass ich damals sehr dünnhäutig war. Jeder noch so kleine Kommentar oder blöde Blick triggerte mich. Zum Beispiel, wenn mir jemand ins Wort fiel. Solche „Kleinigkeiten“ brachten das Fass zum Überlaufen.

Hast du dich in deiner Schulzeit denn auch mal ausgeschlossen gefühlt?
Ja, vor der Oberstufe.

Was ist da passiert?
In der Grundschule wurde ich gemobbt. Danach wechselte ich die Schule. Doch das Problem bestand weiterhin, da ich in der weiterführenden Schule keinen Anschluss fand. Es fiel mir schwer, herauszufinden, wie ich mich nun verhalten sollte, ohne die Erfahrung ein Mobbingopfer zu sein. 

Könnte das für dich denn ein Grund gewesen sein, warum du dich in der Shoppingwelt gut gefühlt hast? Oder anders gefragt: Dient es dazu, schlechte Erfahrungen aus der Vergangenheit zu kompensieren?
Ich finde es schwierig, es so zu pinpointen: Das ist passiert und deswegen kaufe ich. Das alles ist so ein Mischmasch. Aber klar, solche Erfahrungen wie mit dem Mobbing und die gesamte Kindheit allgemein tragen maßgeblich zu einer Krankheit wie Borderline bei. Gerade Borderline ist eine Krankheit, wo es Probleme mit der Impulskontrolle gibt. Kaufen hat auch etwas mit Impulskontrolle zu tun. Und ich habe dann eher das Gefühl, dass die Kaufsucht so eine Art Auswuchs dieses ganzen Problem-Cocktails ist. 

Vielleicht auch so eine Art Urlaub.
Ja, ich rauche zwar, wie du siehst, aber ich nehme keine Drogen. Ich trinke keinen Alkohol und bin deshalb nüchtern. Da ist Kaufen irgendwie das Einzige, was mir ein gewisses Rauschgefühl gibt – wonach sich viele Leute in einem gewissen Ausmaß auch immer wieder mal sehnen.

Hast du dich damals bei der Borderline-Diagnose selbst dafür entschieden, dir Hilfe zu holen?
Genau, und dann habe ich vorläufig diese Verdachtsdiagnose bekommen und mich schon in diesem Krankheitsbild wiedererkannt. Daraufhin fing ich eine ambulante Psychotherapie an, während der sich das Krankheitsbild auch im weiteren Verlauf bestätigte. Es wurde tiefer beleuchtet und gleichzeitig bemerkt, dass die Behandlung, die für die Erkrankung vorgesehen ist, auch funktioniert. 

Das Tückische beim Kaufen ist, wie ich finde, dass es etwas ist, was gesellschaftlich gefeiert wird. Wie du vorhin sagtest: Man erhält Komplimente dafür, dies gibt uns Glücksgefühle, man kurbelt die Wirtschaft an, es sprechen eigentlich so viele Dinge fürs Kaufen, dass es schon schwerfällt, damit aufzuhören. Wie geht dein Umfeld mit deinem Kaufverhalten um?
Bis zu einem gewissen Punkt erhalte ich eben Komplimente und Lob. Irgendwann fingen Leute aber damit an zu sagen: „Alizah, brauchst du das?“ Dabei haben sie mein Kaufverhalten immer mehr von sich aus infrage gestellt. Bis ich dann irgendwann darüber geredet habe, dass mich das ebenfalls belastet. Daraufhin ist bei einigen Leuten etwas eingetreten, was mir nicht gefällt. Und zwar, dass sie jedes Mal, wenn ich was gekauft habe, sagen: „Oh nein“. Wie so eine enttäuschte Mutti.

Was dir noch mal zusätzlich das Gefühl vermittelt, etwas falsch gemacht zu haben?
Genau.

Gehst du denn generell offen mit deinen Käufen und auch mit den Diebstählen in deinem Umfeld um?
Ähm, bei Freund:innen ja. Sobald sie dann aber aufmerksamer werden und es negativ bewerten, denke ich: Hm. Vielleicht erzähle ich dir lieber nicht, dass ich das erst letztens gekauft habe.

Warum nicht?
Weil derjenige vielleicht enttäuscht von mir sein könnte und das fühlt sich wiederum nicht schön an. Gleichzeitig setzt bei mir so ein fieses Gefühl ein, weil ich ja wie gesagt finanziell nicht so gut aufgestellt bin, von wegen: Wir waren gestern zusammen unterwegs. Du hast mir den Kaffee und den Kuchen bezahlt, weil ich kein Geld hatte und am nächsten Tag gehe ich los und kaufe mir ein Hemd für 50 Euro. Da fühlst du dich doch bestimmt verarscht. Deswegen sage ich manchmal lieber nichts

War das jemals so, dass das jemand zu dir gesagt hat?
Das hat noch nie jemand gesagt. Aber es gibt bei uns im Kreis schon das grundlegende Verständnis, dass ich ein Problem damit habe. Ich denke nicht, dass sich da irgendjemand verarscht fühlt – aber es ist halt eine Angst von mir. 

Wenn du mit deinen Freund:innen über deine Kaufsucht sprichst: In welchen Momenten suchst du das Gespräch mit ihnen?
Das war vor allem in dieser schlimmen Phase, als es mich bei jedem Kauf nur noch belastete. Wenn ich aber das Gefühl habe, dass ich es kontrollieren kann, suche ich ungern das Gespräch – ich möchte ja am liebsten vergessen, dass es dieses Problem überhaupt gibt. 

Gibt es etwas, was dein Umfeld tun könnte, in genau solchen Momenten des, ich sag mal, Schwachwerdens?
Ich glaube, ich finde es nicht so gut, wenn ein solches Gespräch direkt mit einem Kauf verknüpft ist – weil ich dann nicht unmittelbar mit dieser vorhin beschriebenen Enttäuschung konfrontiert werden möchte. Ich denke, ich fände es am besten, wenn der Kauf so weit hingenommen wird, wie man es eben hinnehmen kann. Vielleicht nicht unfassbar abfeiern die ganze Zeit, aber auch nicht enttäuscht sein, aber dass das Passierte erst mal neutral entgegengenommen wird. Und dass das Problem vielleicht in einem Moment angesprochen wird, in dem jetzt nicht gerade etwas gekauft wurde. So wie: „Jo Alizah, ich weiß, du hast da irgendwie ein Problem damit. Wenn ich dich unterstützen kann oder du darüber reden möchtest, sag gerne Bescheid.“ 

Kam das schon mal vor?
Nein. 

Was glaubst du, woran es liegt, dass dich bisher niemand auf diese Art angesprochen hat?
Ich glaube, dass sich die Leute in dem ”Alizah hat etwas Neues gekauft-Moment“ denken: Ach Gott, schon wieder! Und sonst ist die Kaufsucht vielleicht nicht so etwas, was man als eigenes Problem auf dem Schirm hat. Wäre ich jetzt zum Beispiel Alkoholikerin, dann hätte das schon eine andere Ernsthaftigkeit für die Leute. Oder es wäre mehr als Problem verortet, dass man sich dann vielleicht eher denkt: Okay, dann spreche ich sie jetzt mal in einem ruhigen Moment darauf an. 

Glaubst du, dass dein Umfeld anders mit deiner Kaufsucht umgehen würde, wenn du Schulden hättest?
Schon, ja. Je größer das Ausmaß an Leid ist, was man nach außen hin mitbekommt, desto mehr Reaktionen wird man darauf bekommen. Aber wo genau zieht man da die Grenze? Ich denke auch, dass man bei mir sehr leicht denken könnte: Okay, sie hat einfach passion for fashion und kauft deswegen gerne ein. Das stimmt ja auch, doch es stimmt eben auch das andere. 

Dass du ein Kaufproblem hast?
Und wahrscheinlich ist das bei allen Sachen so, bevor nicht so eine Art “Abschlusspunkt” erreicht ist, dass man von außen eher denkt: Ach, ist irgendwie ein Problem. Wir haben alle Probleme, so ist es ja nicht. Aber um nochmal auf das Beispiel mit dem Alkohol zurückzukommen. Ich habe bei mir im engen Freundschaftskreis schon mitbekommen, dass Leute übermäßig Alkohol konsumiert haben und dann andere aus dem Umfeld in einem ruhigen Moment das Gespräch gesucht haben. Deswegen habe ich dieses Beispiel so im Kopf, weil es zumindest in meinem engen Kreis ein Bewusstsein dafür gibt: Okay, das sieht nach einem Suchtproblem aus. Doch dieses Kaufsucht-Ding ist so, dass man so salopp sagt: „Haha, ich habe mir wieder was gekauft, bin kaufsüchtig“. Und da habe ich in meinem Umfeld nicht das Gefühl, dass das Bewusstsein für solche Problematiken da ist. 

Aber das Problem ist trotzdem da. Fühlst du dich damit allein gelassen?
Schon, aber ich habe auch das Gefühl, nicht genug versucht zu haben, um das zu ändern. Ich finde nicht, dass ich mich zu 100 Prozent gerechtfertigt damit alleingelassen fühlen kann. 

Was hast du denn aus deiner Sicht schon probiert, um es zu ändern? 
Ich habe es mal bei einigen Leuten angesprochen und bin da auch irgendwie auf Verständnis gestoßen. Meine Psychotherapie läuft erst seit Kurzem wieder und da habe ich es noch nicht großartig zum Thema gemacht, zum Beispiel. Weil ich denke, andere Dinge sind wichtiger.

Zum Beispiel?
Konflikte in der Familie und sehr private zwischenmenschliche Sachen, die aktuell sind. 

Hast du Angst, wenn du über deine Kaufsucht sprichst, dass sie dann „zu real“ für dich wird? Dass du dich diesem Problem dann wirklich stellen musst? Und es dann somit auch kein Zurück mehr gibt?
Schon. 

Aber das scheint der einzige Weg zu sein, um das Problem anzugehen. 
Ja, ich frage mich halt wirklich, wie. Also wie das werden kann. Ich kann ja kein Leben führen, in dem ich niemals wieder einkaufe. 

Das ist ja auch nicht das Ziel von all dem. Sondern, dass du einen Umgang damit lernst und deine negativen Gefühle nicht weiter mit dem Einkaufen kompensieren und eher durch andere Dinge ersetzen kannst. 
Ja, ich habe schon das Gefühl, dass ich auch andere Möglichkeiten habe, meine Emotionen zu regulieren. Nur anscheinend nicht genug. 

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„Liegt eine behandlungsbedürftige Störung vor, kann psychotherapeutisch behandelt werden. Wir behandeln mit der kognitiven Verhaltenstherapie. Für den tiefenpsychologischen Ansatz gibt es noch zu wenig Studien zur Wirksamkeit bei Kaufsucht. Betroffene besuchen bei uns eine Gruppentherapie, an der nur Kaufsüchtige teilnehmen. Vier Monate findet jede Woche ein 90-minütiger Termin statt. Dort werden Verhaltensanalysen gemacht, über die Auslöser von Kaufexzessen gesprochen und nach alternativen Verhaltensweisen gesucht“, sagt Prof. Dr. med. Dr. phil. Astrid Müller in einem Interview mit der AOK – sie ist Expertin auf dem Gebiet der Kaufsucht © Alle Fotos: Lea May

Wir reden seit knapp 1,5 Stunden. Bisher hast du einen ziemlich entspannten Eindruck auf mich gemacht, was deine Situation angeht. Wie geht es dir gerade mit deinem Kaufverhalten? 
Ich glaube, ich bin so ein bisschen angepisst. Es macht mich wütend, also wütend auf mich selbst, dass ich es einfach nicht im Griff habe. 

Dass du rückfällig wirst und deinem Impuls nachgibst?
Ich mag es nicht, dass ich dem Kaufdrang zu oft nachgebe und ich hasse es, dass es so gut funktioniert. Ich schreibe zum Beispiel Gedichte, ich mache Musik, ich kann auch anders mit Gefühlen umgehen und es ist sehr viel sinnvoller und bringt mich wesentlich weiter. Es bringt mir mehr Klarheiten, ein Gedicht zu schreiben, wenn es mir schlecht geht. Aber es hat einfach nicht diesen Kick – es verursacht nicht so viele Glücksgefühle wie das Einkaufen und das fuckt mich so ab – daran, dass es für mich nichts gibt, was vergleichbar viele positive Gefühle in mir auslöst. 

Gerade hast du ja schon gesagt, was du dir von deinem Umfeld wünschen würdest. Wie sieht es denn mit gesellschaftlicher Unterstützung aus? Was würdest du dir da wünschen?
Ich würde es gut finden, wenn Kaufsucht als anerkannte Krankheit gelte. Dann würde es wahrscheinlich auch ein darauf zugeschnittenes Therapieangebot geben. Meine Therapeutin hätte dann vielleicht in ihrem Studium etwas darüber gelernt. Und allein dadurch, dass es zu einer anerkannten Erkrankung wird, gibt es dem Thema auf einer gewissen Ebene mehr Ernsthaftigkeit. Das ist der gesellschaftliche Part, den ich mir wünsche. 

Vielleicht auch ein paar Warnschilder in den Einkaufsläden oder den Online-Shops?
Ja! Kaufsüchtige müssen leider draußen bleiben!

Alizah, ich danke dir für das Gespräch! 

Anmerkung der Autorin: Dieses Interview wurde im Juli 2022, wenige Wochen vor meiner Brustkrebs-Diagnose initiiert und kurz darauf pausiert. Das hier veröffentlichte Gespräch wurde Ende Februar 2023 geführt.

Du hast dich selbst oder eine dir nahestehende Person im Interview wiedererkannt? Hier findest du Hilfe: Mittlerweile gibt es Therapieangebote speziell für Kaufsüchtige. Dort werden Verhaltensanalysen gemacht, über die Auslöser von Kaufexzessen gesprochen und nach alternativen Verhaltensweisen gesucht. Führend auf dem Gebiet ist Prof. Dr. med. Dr. phil. Astrid Müller. Sie ist leitende Psychologin und Lehrbeauftragte an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Bei Frau Bartels kannst du unter +49 511 532 3136 oder psychosomatik@mh-hannover.de einen Termin für ein Erstgespräch vereinbaren. Auch über Suchtberatungsstellen kannst du Hilfe finden, wie bei Susanne Gutzeit von der Drogenhilfe Köln. Sie ist Projektleiterin bei „Wege aus der Kaufsucht“.

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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