Eine offene Beziehung zu führen, wird in jungen Kreisen immer häufiger diskutiert und auch ausgelebt. Dabei sollten beide Beteiligte – sprechen wir von der Norm einer partnerschaftlichen Dyade – die Möglichkeit dazu haben, sich auch abseits der bestehenden Beziehung mit anderen Personen zu treffen und sexuelle Erfahrungen zu erleben. Ein Grund dafür ist häufig die Hoffnung auf ein selbstbestimmteres Sexualleben, oft auch der Wunsch, einen gewissen Funken in der herkömmlichen Partnerschaft erneut zu entfachen. Meine persönlichen Erfahrungen mit einer offenen Beziehung beinhalten zwar sexuelle Erlebnisse mit anderen Personen, der gewisse Funke entwickelte sich jedoch schnell zur aufschießenden Stichflamme, die mir eher eine Verbrennung vierten Grades zufügte. Es folgt ein Einblick auf einen erkenntnisreichen Fehlversuch.
Es war Frühling 2020, die Pandemie hatte uns den Jahresstart ordentlich versaut und viele Träume wurden durch Ausgangsbeschränkungen in den eigenen vier Wänden eingesperrt. Für mich bedeuteten die gesetzten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus vorerst, dass ich meinen Auslandsaufenthalt abbrechen werde und zurück in die Heimat fliege. Dort musste ich mich der schwierigen Entscheidung stellen, ob ich lieber bei meinen Eltern auf der Couch schlafe oder bei meinem Partner, den ich erfolgreich in den paar Wochen Distanz das Herz gebrochen hatte, da für mich während sechs Monaten im Ausland kein Sex definitiv keine Option war. In der Kategorie Entscheidungen treffen bin ich ausgezeichnet miserabel, weswegen ich mich schlichtweg dazu entschloss, keine Entscheidung zu treffen und the best of both worlds zu vereinen. Immer dann, wenn mein damaliger Partner und ich wieder etwas Raum für uns selbst brauchten, packte ich meine sieben Sachen und schlief bei meinen Eltern. Dieser Raum wurde immer öfter von uns beiden benötigt, da wir uns beide – trotz ewiger Gespräche, aufrichtigen Entschuldigungen und einer tiefen Scham meinerseits – meine Untreue nicht ganz vergeben konnten.
Unsere Beziehung war bis zu dem Abend, an dem ich stockbesoffen beschloss, mit einem der Austauschstudenten zu schlafen, monogamer als die von Kaiserpinguinen. Seit dieser einen Nacht konnte ich mir die Art und Weise, wie ein Pinguin zu lieben, nicht mehr zuschreiben. Pinguine schaffen es auch trotz Tausender Kilometer Entfernung und monatelanger Distanz einander treu bleiben. Ich nicht mal einen Monat. Autsch.
Raus aus dem Pinguintraum, rein in die Realität der menschlichen Unvernunft. Und wie es nun mal so ist, wenn du Anfang 20 bist und manche Entscheidungen nicht als Fehler wahrhaben willst, dachte ich, es wäre jetzt wohl die beste Idee der Welt, wenn mein Freund und ich eine offene Beziehung führen. Denn der fehlende Sex und die darin involvierten Zuneigungen waren meines – damals äußerst beschränkten – Erachtens die einzigen Gründe, warum ich in einer von Wodka durchtränkten Nacht einfach so mal alle Hemmungen sowie Hüllen fallen ließ. Keine Sekunde lang dachte ich daran, dass die Beziehung, die wir führten, schon lange an einem überspannten Faden hing. Wir waren beide nicht mehr 16, sondern 21. Und im Laufe dieser Jahre entwickelten wir uns zu völlig anderen Personen mit sehr unterschiedlichen Lebensvorstellungen. Aber nein, diese Gegebenheit wollte ich nicht wahrhaben, viel eher setzte ich heroisch an besagtem hauchdünnen Faden, der unsere Beziehung zusammenhielt, zum Bungee-Jump an. Passend zu meiner komplett gestörten Vorstellung von romantischer Liebe formulierte ich schon die Parole, die wir uns beide bis zum Sieg in die Ohren schreien würden: Alles wird besser, sobald wir alles und jeden* oder jede*, der* oder die* unseren Weg kreuzt, vögeln! Denn dann – ja genau dann, wenn uns grenzenlose sexuelle Erfahrungen möglich sind, finden wir heraus, dass alles, was wir wollen, ja eigentlich die ganze Zeit da war. Wenn ich diese Gedanken jetzt in meinem Kopf durchspiele, muss ich mir demütig eingestehen, dass mir von diversen traditionellen Stereotypen der Massenmedien wohl das Hirn bedingungslos weggeballert wurde. Wie dramatisch – fuck.
Einen dramatischen Verlauf hatte das Öffnen unserer Beziehung verwunderlicherweise wirklich. Mein Ex-Partner und ich waren uns einig, dass es doch eine ganz grandiose Idee sei, wenn sich unsere Auswahl an potenziellen Sexualpartner:innen nicht nur auf wildfremde Tinder-Bekanntschaften beschränkt, sondern auch unseren engsten Freundeskreis mit einbezieht. Eine fabelhafte Idee, nahezu grenzgenial. Was soll schon passieren? Meines – wie schon gesagt, damals äußerst beschränkten – Erachtens konnte da absolut nichts schief gehen. Nun konnten auch all unsere Freund:innen an unserer offenen Beziehung teilhaben, wie schön.
In der Praxis entpuppte sich die vermutete Genialität als überbordende Katastrophe. Drei Wochen nach dem Schwur zur offenen Liebe fuhr ich nachts völlig verloren zwischen dem Haus meiner Eltern und der Wohnung meines Ex-Freundes herum, weil ich unter keinem dieser Dächer eine Zuflucht für die tiefe Trauer sah, die ich in meinem Herzen fühlte. Die einzige Lösung, um den stechenden Schmerz zu eliminieren, den der Gedanke, dass mein nun Ex-Freund gerade seinen Horizont erweiternde sexuelle Erfahrungen mit einer langjährigen Freundin gesammelt hat, lag für mich darin, Beruhigungstabletten bis zum Einschlafen zu schlucken. So katapultierte ich mich zumindest für ein paar Stunden zurück ins Land der Pinguine.
Geplatzt wie ein ekelhaft klebriger Kaugummi hingen mir die Reste unserer Beziehung nun in den Haaren. Beinahe neurotisch versuchte ich in den einzelnen zerzausten Strähnen immer noch so etwas wie Liebe zu finden. Doch mittlerweile war der Zug so selbstverständlich gegen die Wand gefahren, dass ich nicht einmal mehr mir selbst etwas vorspielen konnte. Die Hoffnung war weg.
Mit der sich vorerst schleichend einstellenden Akzeptanz über den unverhofften Crash unserer Beziehung drängte sich eine Frage immer stärker in mir auf: Wie kam ich überhaupt auf die Idee, dass eine offene Beziehung ein geeigneter Lösungsansatz multipler Probleme sein könnte?
In einer 2017 durchgeführten Studie wurden 5.600 deutsche Internetnutzer:innen über 18 Jahre zu modernen Erlebnissen innerhalb ihrer Partnerschaft befragt. Bei der Frage, ob trotz einer Beziehung und in Absprache mit der/dem Partner:in schon einmal Sex mit anderen Personen dazu kam, antworteten 5,5 Prozent mit einem klaren Ja. Mit anderen Personen Sex zu haben, definierte in dieser Umfrage eine offene Beziehung. Durch das andauernde und verzweifelte Scrollen nach Antworten stieß ich auf ein Interview mit dem Paartherapeuten Pedram Moghaddam, der im Öffnen von Beziehungen häufig einen Lösungsversuch sieht, welcher angesteuert wird, sobald eine ehrliche Kommunikation in der Partnerschaft beidseitig nicht funktioniert. Die Beteiligten suchen so krampfhaft nach Auswegen aus der Beziehungsmisere und schlagen dabei oftmals überstürzt den Weg zur offenen Beziehung ein. Dieser Weg ist laut Moghaddam aber nur sinnvoll, wenn beide gleichermaßen diesen Willen und Wunsch haben und eindeutige Regeln untereinander formuliert werden.
Aha, ich war schon um einiges klarer im Karussell der Gefühle. Es geht bei offenen Beziehungen also wirklich hauptsächlich um Sex mit anderen Personen, aber es ist kein hirnloses Herumvögeln, sondern ein klar definierter sexueller Freiraum außerhalb der bestehenden Beziehung, den sich beide Beziehungsakteure gleichermaßen wünschen. Klingt machbar.
Zwei Gedanken später scheint es mir jedoch wieder unmöglich. Wie soll Freiraum mit Regeln funktionieren? In der weitläufigen Meinung schränken Regeln eher ein, anstatt mehr Platz für Individuelles zu schaffen.
Und genau hier liegt, glaube ich, der Knackpunkt. Regeln sind nicht nur beschränkend, – nein, sie sind vor allem raumgebend. Auch wenn das auf den ersten Blick abwegig erscheinen mag, aber bei genauerer Betrachtung ist klar, dass definierte Grenzen mit mehr Selbstbestimmtheit und Gleichberechtigung einhergehen. Ein gutes Beispiel dafür sind die hart erkämpften Rechte für die größere Selbstbestimmtheit von weiblich gelesenen Personen, die Gründung von Gewerkschaften oder jegliche gesetzliche Veränderung, die benachteiligten Minderheiten eine Stimme gab. In einer Beziehung können Regeln vor allem eins heißen: Klarheit. So oft wollen wir in den Kopf unseres Gegenübers hineinschauen und verstehen, wie sich die andere Person wirklich fühlt. Da wir aber nicht einfach so die Schädeldecke aufreißen und das Hirn unseres:r Geliebten* zerteilen können bis wir eine Antwort gefunden haben und nie die Seele des oder der anderen zu ergründen vermögen – zumal wir das noch nicht einmal bei uns selbst schaffen –, bleibt uns nicht mehr, als so offen und ehrlich wie möglich miteinander zu sprechen – über unsere Bedürfnisse, Ängste, Träume und Sehnsüchte.
Das offene Beziehungsmodell war für mich bis jetzt nicht mehr als eine misslungene Exkursion Richtung Abgrund. Dennoch glaube ich daran, dass sich darin eine Art des Liebens finden lässt, nach der wir uns sehnen. Dazu bedarf es aber nicht nur Sex mit Tinder-Dates, sondern vor allem einer Sprache, mit der wir zeigen können, was wir brauchen, um einander zu lieben. In diesen Worten werden Regeln auch nicht nach Einschränkungen klingen und wir haben Wörter, um einander zu sagen, dass wir Menschen in Beziehungen nicht zwingend mehr voneinander wollen, als Geborgenheit und Zuneigung. Um das zu finden, müssen wir nicht in tausend verschiedenen Betten schlafen, sondern sollten eher in den Laken, die auf unserer Matratze liegen, für Klarheit sorgen. Ich denke, eine offene Beziehung sollte so viel mehr darstellen als bloßen Sex; mehr, als nur die Offenheit zu verschiedenen Sexualpartner:innen. Offen sollte in diesem Fall wirklich als Synonym für hoffen stehen.
Illustration: Laura Sistig
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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