WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von Suizid.

In einer Reportage des ZDF sagt Jennifer Wrona „Man muss nicht sein Leben beenden, um den Schmerz zu beenden, den man fühlt“. Den Satz hörte ich erst viel später, aber vielleicht hätte er sich zwischen der Verklebung in meinem Kopf manifestieren können. Aber im Mai gab es nur die Verklebung und keine helfenden Sätze, die irgendwie hätten zu mir durchdringen können. Da war nichts. Nichts, was meinen Kopf erreicht hat jedenfalls. Ansonsten war da viel. Meine Familie, die mich zur Krisenintervention brachte und die Psychiatrie, die noch kurz vorher für einige Wochen mein safe space wurde. Und trotzdem kam der Punkt, an dem ich mich für das Sterben entschied. 

Aufgewacht im Städtischen Klinikum, kam das, wovor ich mich fürchtete – das Aufwachen nach dem gescheiterten Versuch zu sterben und besorgte, enttäuschte Blicke. Im Nachhinein ein Fiebertraum, der nun nicht mehr Traum, sondern Realität war. Halluzinationen, die mich nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Albtraum unterscheiden ließen. Die Erinnerungen sind wie ein Blick durch Milchglas. Nach mehrtägiger Verharrung und Neuauflösung im Klinikum bewegte sich mein Körper nach Hause. Gestützt von Eltern, deren Sorgenfalten körpergroß schienen und aus hundert Metern Entfernung zu erkennen waren. Eltern, die ich genauso wenig loslassen wollte wie sie mich. Seitdem trage ich da den neuen Rucksack des schlechten Gewissens und der Scham. Die Schnalle, die sich vorne  am Bauch verschließen lässt, damit der Rucksack festsitzt und nicht verrutscht, die habe ich gleich ein Dutzend Mal. Jede Einzelne ist verriegelt mit einem Zahlenschloss, dessen Kombinationen ich nicht kenne. Er lässt sich einfach nicht absetzen. Der Klinikaufenthalt, die Therapie, die Medikamente, die ambulant psychiatrische Pflege nach meiner Entscheidung, konnten einige Schnallen mit aufwendigem Tüfteln lösen. Die restlichen bleiben verschlossen. Das, was sich gelöst hat, übertrug sich. Nicht von heute auf morgen, sondern ganz langsam, ganz schleichend, sodass ich es noch lange verleugnete. Dass da sowas kam wie Wachstum. Wie atmen oder auch nur daran zu denken, dass Heilung passieren kann. Dass Schönes passieren darf und ich einen Schritt aus meinem Kreis treten darf. Und ich hab das so lange geleugnet, bis ich mit insgesamt acht Pfoten und einem Menschen einschlafe, die es vorher gar nicht gab. Den Menschen schon, aber eben nicht bei mir. Erst dann fiel mir auf, wie sich so was wie Leben wieder einschleichen konnte und dass dieses Einschleichen gar nicht so weh tat, wie ich dachte. Das kam auf einmal. Und was soll ich denn machen? Es kam einfach in mein Haus. Das wollte ich erst auch nicht, weil ich Schlimmes erwartete, aber das Schlimme blieb sogar fast ganz aus.  

Das ist keine Erfolgsgeschichte und ich hab dieses „Es wird besser“ eh nie geglaubt, denn die Aussicht war überhaupt nicht da. Aber trotzdem muss ich zugeben, dass das, was jetzt da ist, besser ist als das, was war. Es ist nicht ganz verschwunden, die Verklebung kommt und geht, aber immerhin geht sie auch mal. Viel öfter sogar. Und manchmal, wenn es sich in meinem Kopf lichtet, dann findet da auch Schönes statt. Manchmal sogar ganz lange und ganz viel. Und manchmal lebt es sich in einer Koexistenz. Das ist schon mal ganz viel besser. Also kann man vielleicht auch sagen „Es wird besser“. 

Ich hab den Tod gefragt, ob ich kommen darf und er hat ‚Nein‘ gesagt.

Autorin: Lilly G.
Foto: Viola Halfar

*Du bist nicht allein. Wenn du Selbstmordgedanken hast, teile dich jemandem mit. Du kannst dich zum Beispiel über WhatsApp oder per SMS an krisenchat wenden. Dort erhältst du rund um die Uhr kostenlose psychosoziale Ersthilfe – ganz egal ob du ein Kind, jugendlich oder erwachsen bist.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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