„Ich glaube, dass du ein Pattern hast, dass sich wiederholt. Vielleicht solltest du das auch mal überdenken, dass du Menschen immer wieder deswegen von dir wegschiebst“, schreibt A. Ich sitze gerade in einem Café in Neukölln, meinem Arbeitsplatz sozusagen, und lese mit hochgezogenen Augenbrauen A.s Textnachricht, die soeben in WhatsApp eingeflogen ist. Sie ist in meinem Alter, steht beruflich dort, wo sie sein möchte und weiß auch sonst, was wie will. Das machte die Treffen mit ihr interessant – und anstrengend. Seit ich in Berlin lebe, treffen wir uns regelmäßig, wir wohnen in derselben Nachbarschaft, sie kam einen Monat vor mir hier an. Ich kenne A. seit ungefähr 1,5 Jahren. Wenn Menschen sich noch nicht lange kennen, kommt man früher oder später an den Punkt, gewisse Regeln aufzustellen, die ein friedliches Miteinander ermöglichen. Aber wie macht man das? Und was kann man außerdem beachten, wenn diese Regeln gebrochen werden?
Es ist Samstagabend Ende Januar. Ich stehe im Flur über meinen rechten Schuh gebeugt, um die Schnürsenkel zuzuziehen. Das blaue Licht meiner Lampe an meinem Handy-Screen blinkt auf. Es ist eine Nachricht von A. „Lass mal am Edeka treffen, ich laufe da gerade mit H. hin“. Wer ist H.?, frage ich mich noch während ich das Smartphone in der Hand halte. Und wieso Edeka? Wir hatten doch eigentlich etwas anderes ausgemacht. Sie ist eine Person, die die Regeln in einer Beziehung bestimmt und mir das Gefühl gibt, nicht auf mich und meine Bedürfnisse einzugehen. Wir hatten uns für diesen Abend in unserem Kiez verabredet, um in eine Bar zu gehen. Ebenjene Vereinbarung wurde soeben gebrochen, als mich A. in ihre neuen Pläne einbezog.
Die Male, in denen wir uns trafen, passierte es kaum, dass wir nicht etwas machten, worauf A. Lust hatte. Meistens trafen wir uns bei ihr. Bei mir zu Hause war sie noch nie. Einmal lud ich sie ein, kurz darauf sagte sie ab, sie fühle sich nicht gut. Am nächsten Morgen schrieb sie mir eine WhatsApp, dass es ihr wieder besser gehe und ob ich Lust hätte, vorbei zu kommen. Ein anderes Mal kam ich bei ihr in der Wohnung an, ich war müde von einem langen Arbeitstag und freute mich auf ein entspanntes Gespräch mit Kaltgetränk am Tisch. Doch A. hatte Lust auf Backen und so verbrachten wir den ganzen Abend damit, Choux zu machen.
Es ist nicht so, dass die Erlebnisse mit ihr keinen Spaß machten. Ich hatte nur oft das Gefühl, dass sie die Kontrolle über unser Programm hatte und ich wenig Einfluss darauf, das einzubringen, was ich möchte. Diese Gleichstellung, die ich mir wünschte, existierte einfach bis zu jenem Zeitpunkt nicht. Es war ihre Selbstverständlichkeit, darüber entscheiden zu können, was wir tun, die mich störte und der ich mich hilflos ausgeliefert fühlte. Und es war ihre Unzuverlässigkeit, die an diesem Abend dazu führte, dass ich das Treffen absagte.
Die Male, die wir uns zuvor getroffen hatten, kam sie immer unpünktlich. Das sah sie aber nicht als respektloses Verhalten an, sondern verkaufte es als „ist doch nicht so schlimm“. Etwas in ihr weiß, dass ich Wert auf Pünktlichkeit lege. Darüber haben wir gesprochen, nachdem sie mich wiederholt in der Kälte warten ließ. Aber geändert hat sie ihr Verhalten trotzdem nicht. Jedes Mal, wenn wir verabredet waren, und ihre Standardnachricht „Sorry, laufe gerade los, bin in zehn Minuten da!“ bei mir eintraf, nachdem ich pünktlich am Treffpunkt auf sie wartete, spürte ich eine Wut in mir aufsteigen. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde man mir die Kleidung in aller Öffentlichkeit herunterreißen und mit dem Finger auf mich und meine Schwachstellen zeigen. Mein Stolz, meine Freude, mein Gefühl, alles verschwindet. Manchmal für ein paar Minuten, manchmal für Tage. Aber: Ich möchte mich so nicht fühlen. Also habe ich ihr nicht nur einfach abgesagt, ich habe mir auch die Zeit genommen, ihr zu erklären, wieso.
Ich gebe zu, was Zuverlässigkeit betrifft, bin ich eine Fanatikerin. Obwohl ich eigentlich ein sehr friedlicher Mensch bin. Mit dieser Ansicht bin ich auch nicht alleine: Laut einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2015 ist für 90 Prozent der Befragten Pünktlichkeit in einer Beziehung unerlässlich – und damit sogar wichtiger als Sex. Wenn ich also merke, dass jemand mein Bedürfnis nach Sicherheit nicht ernst nimmt, indem es beispielsweise keinen plausiblen Grund für die Verspätung gibt, ist das eine Grenzüberschreitung für mich, die dazu führt, dass ich wütend werde. A. verstand mein Problem gar nicht: „Ich finde es nicht normal, dass man sich immer Sorgen machen muss, dass du ständig genervt bist“, sagte sie mir. Mein Auge zuckte. Meine innere Wutbürgerin tobte. Doch dann kam ich ins Zweifeln. Sind Menschen, die immer zu spät kommen, einfach cooler und gelassener als der Rest?
Nein. Bei A. hatte ich oft das Gefühl, dass ihr die Empathie dazu fehlte, sich in meine Lage hineinzuversetzen und was dazu führte, dass ich mich in ihrer Gegendwart unwohl fühlte. Für mich ist das der Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, der anderen Person eine Grenze aufzuzeigen, damit sich die Situation nicht wiederholt – würde ich das nicht tun, würde ich der Unsicherheit verfallen und Unsicherheit bedeutet (psychischer) Stress. Um das zu vermeiden, schrieb ich A. eine Nachricht, nachdem ich das Treffen abgesagt hatte, in der ich ihr mitteilte, dass ich sie zwar sehr gerne habe, mir aber Zuverlässigkeit und Vertrauen noch wichtiger in einer Freundschaft seien und ich mir von ihr wünsche, dass sie darauf Rücksicht nimmt. Damit wollte ich ihr signalisieren: „Bis hierhin und nicht weiter!“. Grenzen haben mit Respekt zu tun. Mit ihnen können wir bestimmtes Verhalten einschränken, das uns unangenehm ist. Sie sind eine Möglichkeit, verbal und nonverbal zu kommunizieren, wie man behandelt werden möchte.
A. antwortete sofort und entschuldigte sich für ihr Verhalten. Sie klang aufrichtig, also schlug ich ihr am nächsten Tag vor, dass wir uns ein paar Tage später treffen könnten, um darüber zu sprechen. Das ist wichtig. Denn wenn du einem Mitmenschen eine Grenze setzt, erkennt die Person an, dass man mit dir nicht beliebig umgehen kann und, dass es Bedingungen für eure Beziehung gibt. Egal, ob es sich um eine Kollegin, eine:n Freund:in oder eine lose Bekanntschaft handelt. Im Nachhinein bin ich mir jedoch nicht sicher, ob sie wirklich verstanden hat, worum es mir ging. Doch als wir uns ein paar Tage später trafen, zeigte sie Einsicht und versprach, sich zu bessern. Sie erzählte, dass sie diese Situation schon einmal erlebt hatte und es sie stressen würde, wenn man „Druck“ auf sie ausüben würde, indem man auf „Kleinigkeiten“ wie Pünktlichkeit bestehe. Ich bewunderte ihre Offenheit und fühlte mich gleich besser. Und siehe da: Die nächsten Male, in denen wir uns verabredeten, kam sie sogar vor mir an. Ich freute mich, dass sie meinen Wunsch respektierte und sich Mühe gab, damit unsere Freundschaft bestehen bleiben konnte. Aber ihr guter Wille hielt nicht lange an. Es dauerte nur wenige Wochen, da zeigte sie das mir so unangenehme Verhalten erneut und ich spürte die Wut in mir aufkommen.
Zu diesem Zeitpunkt, mittlerweile ist es Ende April, saß ich also in meinem Lieblingscafé in Neukölln und wartete darauf, dass sich A. bei mir meldete, da wir uns für eine Kaffeepause verabredet hatten. Wenige Stunden zuvor hatte sie mich gefragt, ob ich ihr dabei helfen könne, ihr Reisegepäck in ihre Wohnung zu tragen. Das kam häufiger vor, dass sie mich um etwas bat und das wiederum stresste mich. An diesem Vormittag hatte ich jedoch keine Zeit, ich war beim Sport und danach musste ich noch etwas für die Arbeit erledigen, weshalb ich ihr absagte, gleichzeitig aber mitteilte, dass ich mich auf später freuen würde. Ich dachte nicht weiter darüber nach und konzentrierte mich auf meine Sachen.
Gegen Nachmittag, nachdem sie sich nicht mehr bei mir gemeldet hatte, schrieb ich ihr eine Nachricht und fragte, ob alles geklappt hätte. Sie antwortete prompt und fragte, ob ich vorbeikommen wolle. Eigentlich wollten wir uns draußen treffen, um eine Runde spazieren zu gehen. A. hatte es sich aber anders überlegt, da sie ziemlich „busy“ sei und die Zeit nicht für den „Weg“ verschwenden wolle. Dass ich den Weg auf mich nehme, sei wiederum okay? Ich fühlte mich verarscht. Auch ich habe Sachen zu erledigen und die Zeit, die ich mir für meine Freund:innen nehme, teile ich mir gut ein. Durch ihre Reaktion fühlte mich nicht wertgeschätzt und sprach sie darauf an. Daraufhin sagte sie, dass sie finde, dass ich das alles ein wenig „dramatisch“ sehen würde. Damit verlor ich die Kontrolle über meine Wut und ließ raus, was ich die Wochen zuvor unterdrückt hatte.
Normalerweise, wenn ich merke, dass ich mich mit einer Situation unwohl fühle, hilft mir, wenn ich mir Zeit nehme, um über die Person nachzudenken, mit der ich ein Problem habe: ihre Persönlichkeit, unsere Beziehung und alles, was sonst noch relevant sein könnte. Zum Beispiel: Bekommt A. konstruktive Kritik schnell in den falschen Hals? Dann muss ich vielleicht besonders auf meinen Tonfall und die Formulierung achten. Doch da war es schon zu spät. Zwar versuchte ich noch, ihr zu erklären, was an ihrem Verhalten für mich zu weit ging und wie ich mich damit fühlte, doch meine Emotionen übernahmen die Kontrolle und A. fühlte sich angegriffen. Es war nicht meine Absicht, einen Keil zwischen uns zu treiben, aber weiter zu machen, so wie es bisher war, war auch keine zufriedenstellende Lösung für mich. „Vielleicht verstehst du irgendwann mal, warum mich dein Verhalten nervt. Aber so lange ist es, denke ich besser, wenn wir uns nicht mehr sehen“, schrieb ich. Wie sie reagierte? Du erinnerst dich auf ihre Nachricht, indem sie mich auf mein Pattern aufmerksam machte? A. äußerte zudem die Sorge, dass ich „irgendwann alleine“ sein könnte. Sie meine es aber nur gut und ich sollte mir mal Gedanken darüber machen.
Das tat ich. Das Pattern, von dem sie sprach, sind meine Bindungsängste. Und sie hat recht, wenn sie sagt, dass sich dieses wiederholen könne. Dadurch, dass ich ein hilfsbereiter Mensch bin und schlecht Nein sagen kann, bringe ich mich manchmal in Situationen, in denen mich unwohl fühle. Wenn ich also merke, dass jemand meine Gutmütigkeit ausnutzt, fühle ich eine Ohnmacht und das macht mich traurig. Früher fiel es mir schwer, meine eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren, sodass ich meine Grenzen für mich behielt, in der Hoffnung, mein Gegenüber würde schon merken, wenn ein Verhalten nicht okay für mich ist. Das ist natürlich Quatsch, da andere nicht meine Gedanken lesen können. Als ich mal bei ihr zu Hause war, vertraute ich ihr meine geheimen Ängste an, in dem Glauben, dass diese bei ihr gut aufgehoben wären. Dass sie diese in einem Gespräch, indem es erneut um ihre Unzuverlässigkeit ging, gegen mich verwendete, war für mich eine Grenzüberschreitung, die ich nicht mehr tolerieren konnte, und ich zog meine Konsequenz daraus.
Das war der Moment, in dem ich eine Freundschaft wie eine Vase aus den Händen gleiten ließ. Ich mochte sie einfach nicht mehr halten. Vermutlich hätte ich „Gras über die Sache wachsen“ lassen können. Womöglich hätte ein klärendes Gespräch alles bereinigt. Wir hätten „ins Reine“ kommen oder uns eines der vielen anderen Werkzeuge bedienen können, die zur Reparatur unwuchtiger Freundschaften bereitliegen. A. hatte sich ja nicht verändert, sie hatte mir nichts angetan. Es lag an mir. Ich war nicht mehr die Freundin, die ein solches Gespräch hätte suchen wollen und beendete die Freundschaft.
Manchmal ist ein klarer Bruch vielleicht die bessere Lösung. Doch damals behandelte ich A. nicht sonderlich erwachsen, sondern reagierte zickig, also feige. Im Affekt packte ich das Erlebnis in eine unsensibel formulierte WhatsApp und nun in diesen Text, ohne sie zu nennen. Vielleicht liest sie gerade mit und erkennt sich. Jedenfalls habe ich nie wieder etwas von ihr gehört. Vergangenen Monat besuchte mich eine meiner langjährigsten Freundinnen, eine gemeinsame Freundin von uns, sie erzählte mir, dass A.s Version der Geschichte eine ganz andere wäre, sie meine Entscheidung, die Freundschaft zu beenden, als übertrieben empfand, weil sie „ein paar Mal“ zu spät gekommen wäre. So oder so bin ich stolz auf mich, für mich und meine Bedürfnisse eingetreten zu sein.
Heute ist unsere Freundschaft nicht mehr als eine verblasste Erinnerung im Regal meines Unterbewusstseins. Die Entscheidung, diese zu beenden, ist wie eine glänzende Trophäe, die ich mit einem erleichtertem Lächeln hervorziehe, um in Zeiten von Unsicherheit zu betrachten, weil sie mich daran erinnert, dass ich mich verändert habe und mich aus meinem Pattern, in toxischen Beziehungen zu verweilen, befreien kann. Ich bin nicht mehr die Person, die ihre Gefühle nach hintenanstellt, um es anderen recht zu machen. Heute bin ich der Mensch, der zuerst an sich und ihre Gefühle denkt und anderen Menschen klar machen kann, warum mir bestimmte Grenzen wichtig sind. Und das fühlt sich verdammt richtig an.
Foto: Lucas Peuser
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folgt uns auf Facebook, Instagram und Spotify.
Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.