WARNUNG: Dieser Text thematisiert Symptomatik und Auswirkung einer Essstörung.

Ich saß wieder da und spielte dasselbe 3:52 Minuten lange Lied ab, blickte in die Kloschüssel, flüsterte den Text mit: „Cause baby, I’m fragile.“ Und ich dachte mir, dass es okay ist, dass das schon vorbeigeht. Dass ich das nur so lange mache, bis die Waage mir Zahlen anzeigt, mit denen ich okay bin. Bis die 56 verschwunden sein wird und anstelle dessen eine 53, vielleicht 52 da stünde. Das würde mir reichen, dachte ich. 

Ich fühle mich wie eine Gefangene in meinem Körper, leide an einer Sucht nach einem Körper, der anders als der jetzige ist. Sucht sieht man nicht, dachte ich mir, wenn ich das alles im Rahmen halte, wenn das alles nie unkontrollierte Ausmaße annimmt. War ich längst nur noch ein Schatten von mir, dachte ich dennoch, ich sei der Löwe. Ich hielt meine Eigenkontrolle für sicher, wobei ich längst unter der Kontrolle meiner Gedanken stand. 

November 2018, ich bin 16 Jahre alt. Seit ich vor einigen Monaten begann, regelmäßig mein Essen zu erbrechen, fiel es mir schwerer und schwerer, Lebensmittel noch bei mir zu behalten. Ich begann, stundenlang herumzulaufen, über Felder, nach jeder Mahlzeit. In dem Versuch, den Kopf wieder etwas freizubekommen und nicht ausschließlich an das zu mir genommene Essen zu denken. Ich rannte verzweifelt, öffnete die Schritt-Tracker-App immer wieder panisch und fragte mich: War die Pizza jetzt ansatzweise verbrannt? Hab ich sie mir abgelaufen? Nehme ich die Kippe, ess’ ich noch das Eis? Immer mit dem Gedanken, dass es sich dann leichter erbrechen lässt. Dass ich mich dann leichter brechen lasse. Ich gehe aufs Klo, während ihr den Film in Ruhe weiter schaut. Mir geht’s gut. Noch habe ich kein riskantes Gewicht. Es sind immer noch knapp 54 Kilo. Mir geht’s gut – mit den Worten habe ich mich unzählige Male wieder beruhigt, mir alles etwas schöner geredet. Ich kann mein Gesicht noch im Spiegel ansehen, ich esse doch noch genug. Noch. 

Ein Jahr später änderte sich etwas. Ich bekam Bauchschmerzen. Dauerhafte Bauchschmerzen. Nach jeder Mahlzeit. Ich rede mir ein, dass es daran liegt, dass ich mir massive Mengen an Essen erst einverleibe und diese dann wieder ausstoße. Aber ich wollte die Schmerzen nicht mehr und versuchte, meinen Ernährungsplan gesund, ausreichend und kalorienarm zu halten. Ich zwang mich, mit dem Erbrechen aufzuhören und klammerte mich fest an die Hoffnung, dass sich mein Magen dadurch etwas beruhigen würde. Dass die Beschwerden aufhören würden. Doch die Schmerzen ließen nicht nach, und nach etwa zwei Monaten des Leidens kam im August 2019 die Diagnose vom Hausarzt: Fructoseintoleranz. 

Ich konnte mir darunter nichts vorstellen, daher begann ich zu googeln. Laut der Fachgesellschaft für Ernährungstherapie und Prävention (FETeV) ist Fruktose ein Einfachzucker, der als Bestandteil von Haushaltszucker hauptsächlich in Obst, Süßwaren und einigen Gemüsen vorkommt. Man vermutet, dass drei von zehn Personen im westlichen Kulturkreis betroffen sein sollen. Fragen prasseln auf mich ein: Was darf ich jetzt noch essen? Die Störung in meinem Kopf freut sich, dass meine Ernährung, die vorher vorsätzlich aus Obst und Gemüse bestand, nochmals minimiert wurde. „Ich vertrage das nicht“, war meine neue Ausrede, die in den meisten Fällen sogar stimmte. Und alles, was ich essen könnte, war mir zu aufwendig zu kochen. Mein Kopf rannte in die Ecke der Ausrede: „Nein, das verträgst du nicht.“

Plötzlich hatte ich panische Angst. Angst davor, dass mein Magen nach dem Essen wieder für Stunden krampft. Dass es mir wieder und wieder sauer die Speiseröhre hochsteigt. Die Kopfschmerzen, meine Müdigkeit und der Wunsch, jetzt irgendwie doch endlich essen zu können, was ich will, wurden dringender und dringender. Irgendwie war es absurd. Davor hatte ich knapp ein Jahr lang zwanghaft versucht, möglichst wenig zu essen, und jetzt wünschte ich mir nichts mehr, als doch genügend essen zu können. Es wieder zu vertragen. Meine täglichen Begleiter waren Bilder im Kopf von Pfirsichen, Snickers-Riegeln und Mangos. Die Fruktose-Mauer erlaubte mir nicht, irgendwas davon zu essen. Bis ich zurückgeworfen wurde – in die Bulimie, die weder jemals offiziell diagnostiziert wurde, noch je eine Stimme nach außen fand. Ich nahm mir alles, wonach ich Cravings hatte. Ich schloss mich mit einem Obstsalat und mehreren Packungen Süßigkeiten im Bad ein. Drei Milka-Oreo-XXL-Tafeln gingen in Minuten runter. Und dann kam die Angst. Vor den Bauchschmerzen. Den Folgen darauf, dass ich nicht verzichten konnte. Doch die Rettung war direkt vor mir und zwinkerte mir mit dem Kunststoffdeckel zu. 

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„Ich fühlte mich nicht verstanden. Dachte immer wieder nur, dass die mich nicht kennen. Die wussten nicht, wie schwer es mir fiel, das ganze Essen gar nicht essen zu dürfen.“ © Hendrik Nix

Im Laufe der Zeit fanden immer mehr Schnittwunden den Weg auf meine Haut. Selbstverletzendes Verhalten prägte meinen Alltag. Mir wurde alles zu viel, meine Gedanken waren nur noch wirr. Ich wollte die Angst vor dem Essen irgendwo rauslassen, hasste meinen Körper. Ich hasste ihn dafür, dass er nicht dünn sein konnte, nicht alle Lebensmittel verdauen konnte, dafür, dass er so schwach und müde war. Und tatsächlich setzte die Ruhe in meinem Kopf ein, bis das dritte Pflaster durchgeblutet war. Bis ich dann wieder Angst bekam. Diesmal davor, dass etwas auf meine Kleidung kommen könnte. Angst, dass meine Mutter irgendwas mitbekommt; nicht jetzt, nicht nach fast zwei Jahren, die ich es alleine geschafft hatte. Aber alles ging gut. Immer, bis auf ein einziges Mal. 

An einem Abend sah meine Mutter die Narben auf meinem Bein, reagierte panisch und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie verstand die Welt und mich nicht mehr, holte meinen Vater dazu. Beide blickten mich an wie ein Schauobjekt, als sei ich jemand plötzlich vollkommen Fremdes. Für mich brach alles zusammen. Die Mauern, die ich mir aufgebaut hatte, stürzten ein. Ich wusste nicht, was ich auf die Fragen „Was ist das?“ und „Warum hast du das gemacht?“ antworten sollte. Meine Gefühle, meine Erlebnisse und die Gedanken des letzten Jahres konnte ich nicht einfach in ein paar spontane Worte fassen und ich wusste auch nicht, wie ich mit den beiden darüber reden sollte. Ich war absolut nicht bereit dazu. Ich wollte nicht zugeben, dass etwas ganz und gar nicht okay ist, und brach in Tränen aus. Ich weinte stundenlang, während meine Eltern aufgelöst daneben saßen und versuchten, irgendetwas zu verstehen. Die Situation war für sie vollkommen unverständlich, da es mir aus ihrer Sicht ja immer gut ging und ich hätte „immer mit ihnen reden können“.

Ich wollte nicht erzählen, wie es mir geht. Ich war noch nicht so weit, mit meinen Eltern über irgendwas zu reden, was in mir vorging. In meinem Kopf war Chaos, ich konnte ihnen nichts sagen, was für sie Sinn ergeben würde – immerhin hatten sie bis zu dem Punkt rein gar nichts von meiner Essstörung oder meinem selbstverletzenden Verhalten mitbekommen. Ich habe immer penibel darauf geachtet, alles vor ihnen zu verstecken und mein Verhalten unauffällig zu kaschieren. Mir ging es nicht gut, und das wurde mir gerade schmerzhaft bewusst. Ich wusste in dem Moment, dass etwas an meinem Verhalten ganz und gar nicht normal war. Eine Kurzschlussreaktion führte dazu, dass ich den unglaublichen Schritt ging, unter Tränen meinen verzweifelt dreinblickenden Eltern zu sagen: „Ich würde gerne eine Therapie anfangen.“ Der Mut, den ich dafür aufbringen musste, war immens. Ich zitterte, war vollkommen am Ende, wollte die Situation beenden, wusste aber auch, dass ich mich meinen Eltern noch nicht anvertrauen wollte. Sie waren immer zu nah dabei gewesen, aber zu blind, um zu erkennen, wie schlecht es mir wirklich ging. Doch das wollte und konnte ich ihnen nun auch nicht vorwerfen. Immerhin war ich es, die immer alles diskret gehalten hatte. Die sinnvollste Lösung wäre gewesen, wenn sie mir beigestanden hätten und ich tatsächlich eine Therapie angefangen hätte. 

Für meine Eltern waren und sind psychische Störungen aber ein Tabu und vollkommen unverständlich, es kam ein schockiertes „Nein, du bist doch nicht krank, was für ein Quatsch!” und „Künftig, wenn irgendwas ist oder passiert, kannst du immer mit uns reden!“. Es war vorher für mich schon nie eine denkbare Option gewesen, mit meinen Eltern über Intimes und Privates zu reden, da ich wusste, dass sie nicht das nötige Verständnis für psychische Probleme hatten. Doch ab diesem Punkt war es für mich vollkommen vorbei. Was für andere Eltern vermutlich ein Warnschuss gewesen wäre, der zeigt, dass es dem eigenen Kind nicht gut geht und dass es professionelle Hilfe benötigt, war für meine Eltern bereits nach kurzer Zeit wieder okay. Es war wohl „die Schule Schuld“ und es würde sich schon alles wieder selbst einpendeln. Ihre Reaktion hatte mich mehr verletzt als jeder Schnitt. Und den Mut, den ich aufbringen musste, um den erneuten Wunsch nach einer Therapie zu äußern, verlor ich doppelt. Ich verschloss mich vollkommen und beschloss, die Beziehung zu meinen Eltern auf eine oberflächliche Art zu reduzieren. Ich zog mich zurück in meine Gedanken und passte genau auf, dass mein Verhalten nicht zu auffällig wurde. Weder meinen Eltern gegenüber, noch meinen Freund:innen. Aus Angst, sie würden ähnlich reagieren. 

Mich quälte der Hunger, tagelang. Meine fruktosearme Ernährung, die mich nach der Diagnose begleitete, bestand aus Brötchen, Gurken, Naturfrischkäse, Eiern und ab und zu mal etwas Reis oder Dinkelbrei. 90 Prozent der Dinge, die ich hätte essen können, mochte ich nicht oder wollte ich einfach nicht essen. Ich war nie satt, bis auf die Male, an denen ich aus dem Raster ausgebrochen bin. Was früher an der Tagesordnung stand, reduzierte sich auf maximal einmal alle zwei Wochen. Dass ich meinen Magen bis an die Grenzen ausgereizt und ihn anschließend wieder zwanghaft entlastet habe. 

Hunger, dauerhaft. Meine Nerven zerrissen. Ich muss und will mein Abitur machen. Und irgendwie schaffe ich es, zwischen dem permanenten Gedanken an Essen ohne Tabus, ein Abi mit 1,3 zu absolvieren. Im Nachhinein frage ich mich, wie ich es geschafft habe, mich jeden Tag an meinen Schreibtisch zu setzen, stundenlang zu lernen und parallel meine sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten. Dass ich diese krisenreiche Phase überstanden habe, verdanke ich größtenteils der Musik, dem mittlerweile gewohnten und beruhigenden Hunger und der Klinge. Immer wieder bin ich vor meinem Schreibtisch in Tränen ausgebrochen. Doch ich wollte mir beweisen, dass ich funktioniere. Wollte, dass alles „normal“ ist. Genauso wie die anderen um mich herum es auch machen. Die Abiturzeit war eine der schwierigsten Phasen in meinem Leben, vor allem, da sich immer wieder Bilder von Lebensmitteln, die ich nicht essen kann, zwischen die Aromaten, die pH-Berechnungsformeln und die Titrationsverfahren drängten, die ich für den Chemie-LK durcharbeiten musste. Wie so häufig ignorierte ich meine Gedanken, meine Gefühle und meinen Hunger. In der Zeit habe ich es geschafft, mir ein Au-pair-Jahr zu organisieren und den Weg ins Erwachsensein zu betreten. 

Nach einem Jahr im Leben mit der Fructoseintoleranz folgten im März 2020 die ersten Reaktionen: „Du bist so dünn geworden!“, „Mensch, iss doch mal was!”, „Nein, so lassen wir dich nicht in dein Au-pair-Jahr starten.“ Der letzte Kommentar war es, der mich tatsächlich tief traf. Weil ja, ich hatte 10 Kilogramm abgenommen und wog mit 1,73 m und 18 Jahren nur noch 45 Kilogramm. Dennoch gingen alle anderen Kommentare an mir vorbei, ohne dass ich ihnen Beachtung schenkte. Niemand kannte mich wirklich. Ich fühlte mich nicht verstanden. Dachte immer wieder nur, dass die mich nicht kennen. Die wussten nicht, wie schwer es mir fiel, das ganze Essen gar nicht essen zu dürfen. Kommentare von außen machten mich wütend. Weil sie immer nur an der Oberfläche kratzten und nie nach dem Hintergrund suchten, nie auf mich als Person eingingen. Aus meiner Sicht konnte ich noch problemlos Sport machen. Und meine Angst, etwas nicht zu vertragen, war größer als alles andere. Die Kommentare waren für mich also nicht nur nichtssagend, sondern auch unbegründet. Doch wenn ich dadurch meinen Traum als Au-pair nicht leben durfte und meine Eltern mich nicht ins Ausland lassen wollten, musste sich etwas ändern. Ich suchte eine Naturheilpraktikerin auf, die meine Unverträglichkeit bestätigen sollte. 

Spoiler: Mein Leben drehte sich noch einmal um 180 Grad. 

Nach zwei Stunden verließ ich die Praxis und fühlte mich wie ein neuer Mensch. Die Diagnose des Hausarztes war falsch. Das letzte Jahr der Qual umsonst. Weizen- und Laktoseunverträglichkeit, das war es. Nichts mit Fructose. Der Gewichtsverlust, die Gedankenketten, die mich einschränkten; alles war umsonst. Und jetzt hatte ich eine Angst vor Essen in mir, die ich ebenfalls “ganz umsonst” dazu bekommen habe. Mein Darm: total zerstört. Unfähig, viel zu verdauen. Kleine Portionen wie ein halbes Brötchen oder eine halbe Packung Quark waren das Maximum. Mein Kopf, der nicht zu überzeugen war, dass ich mehr vertragen kann, als ich angenommen hatte. 

Überforderung machte sich in mir breit. Der ursprüngliche Wunsch, abnehmen zu wollen, wandelte sich zu dem Wunsch, essen zu können, ohne Schmerzen zu haben, hin zu der Angst vor den meisten Lebensmitteln. Anvertrauen wollte ich mich niemandem. Bis hierher hatte ich es auch selbst geschafft. Nach der Geschichte mit meinen Eltern vertraute ich mich einer Freundin aus der Schule an. Doch als ich einige Wochen später in ihrem Beisein sagte, wie schön dünn ein Mädchen in der Nähe doch sei, erntete ich den Kommentar „Steck dir deshalb jetzt aber nicht wieder die Finger in den Hals“ von ihr. Die Lektion war für mich gelernt: Ich mache das alleine, will nicht, dass noch einmal irgendjemand meine Gedanken erfährt. Eine ähnlich verletzende Erfahrung wollte ich nicht noch ein weiteres Mal machen.

Ich bemühte mich, meine Eltern weiter zu beruhigen. Sie wussten weder von der Bulimie noch erkannten sie eine andere Essstörung. Für sie lag der Grund meines Gewichtsverlustes alleine an der fälschlich diagnostizierten Fructoseunverträglichkeit. Als die Diagnose widerrufen war, hatten sie Hoffnung und dachten, dass sich jetzt alles wieder einpendeln würde. Somit startete ich einige Monate später, im September 2020, in mein Au-pair-Jahr in Paris. Nun ganz alleine, hatte ich die absolute Kontrolle über das, was ich tat. In diesem Jahr haben mich meine Fitness-App und mein Kalorien-Tracker begleitet. Während ich Schwierigkeiten hatte, sozialen Anschluss zu finden und ich aufgrund der Corona-Pandemie durch zahlreiche Ausgangssperren eingeschränkt war, meisterte ich dennoch meinen Job als Au-pair. Da ich getrennt von meiner Gastfamilie in einem eigenen Appartement lebte, fiel es nie auf, dass meine Essensportionen als 18-Jährige denen eines Kindes entsprachen. Dass ich versuchte, mit möglichst wenig Kalorien durch den Tag zu kommen. Die nächste Station war erreicht: Die Magersucht – auch, wenn ich es da noch längst nicht realisiert hatte. 

Meine Periode setzte bereits im Jahr 2019 aus – ein Jahr nachdem meine gestörte Beziehung zu Lebensmitteln begann. Aber es war mir egal. Da ich zu dem Zeitpunkt noch nie Geschlechtsverkehr hatte, war eine Schwangerschaft ausgeschlossen; infolgedessen musste ich mir darum keine Sorgen machen. Erzählt habe ich niemandem davon. Mir war bewusst, dass es vermutlich an dem damals aktuellen Mix aus fructosearmer Ernährung und Bulimie lag. Mein Körper war zu schwach, um eine Regelblutung zu bekommen. Sicherheitshalber machte ich einen Termin bei meinem Frauenarzt aus, welcher mir bestätigte, dass bei meinen inneren weiblichen Geschlechtsorganen aus medizinischer Sicht alles in bester Ordnung war. Vorsichtig setzte er hinzu, dass ich etwas zunehmen könnte. Eine Bedeutung hatte diese Aussage für mich nicht. Ich fühlte mich missverstanden. Er wusste ja nicht, wie es war, sich ein Lebensmittel anzuschauen und zu wissen, dass man es nicht ohne Bauchkrämpfe und andere Beschwerden essen kann. Andererseits weiß ich auch nicht, was er damals hätte tun sollen, damit ich mich wohler fühle. Vermutlich wollte ich einfach keinen Kommentar über meinen Körper hören, weder von ihm, noch von irgendjemand anderem. Der Besuch beim Arzt fand statt, bevor ich mein Au-pair-Jahr startete. Danach war ich nicht wieder bei einem Frauenarzt. 

Das Jahr als Au-Pair in Paris war Ende Juli 2021 vorbei. Ich war 19 Jahre alt und meine Nerven am Ende. Mein Frühstück bestand aus 30 Gramm Porridge, mein Mittagessen aus einer Scheibe Schinken, Gewürzgurken, Knäckebrot und etwas Salat. Der Fitnesstracker zählte täglich um die 25.000 Schritte, die Kalorien kamen nie über die 1.200 hinaus. Ich wusste, dass mein Gewicht zu gering war. Doch der Blick in den Spiegel und mein Blähbauch lenkten meine Gedanken immer in die andere Richtung. Für mich war ich nicht so krankhaft dünn, wie mein Umfeld es mir erzählen wollte. Ich hörte immer wieder: „Bist du wirklich schon satt?“ oder „Du bist schon echt dünn, ist alles okay?“ Doch Corona machte es mir leicht, den Sozialkontakt zu minimieren und alle Freundschaften oberflächlich zu halten. Meiner Familie, die meine Fotos mit „Bekommst du genug zu Essen?“ kommentierten, antwortete ich, dass es daran liege, dass ich mich so viel bewege; was ja zusätzlich zu der Magersucht stimmte. Bis ich irgendwann nicht mehr konnte.

Ich wollte nach meinem Heimkommen nach Deutschland wieder gesund werden. Ich beschloss, dass ich mein Studium gesund beginnen möchte. Meine Eltern blickten mich mit traurigen Augen an, als sie mich vom Bahnhof abholten, doch das war mein Kampf. Ich wollte meinen Kampf ganz alleine kämpfen. Ich war schon immer ein Sturkopf, eine Einzelkämpferin, die Hilfe nicht annehmen wollte. Den Weg in die Essstörung hatte ich meines Erachtens selbst betreten. Ich hatte mir das Problem selbst eingebrockt und wollte niemanden sonst damit belästigen. Und ich wollte stolz darauf zurückblicken können, wenn ich es alleine wieder herausschaffte. Ich fühlte mich missverstanden und bis auf „dass ich dünn bin“ konnte mir niemand etwas vorwerfen. Denn ich aß. Ich habe immer etwas gegessen. Viel zu wenig für die Menge an Bewegung, meine Größe und mein Gewicht, aber das war mir nicht bewusst. 

Fortan transformierte sich die Essstörung hin zu einem „zwanghaft genug und gesund, aber nie zu viel essen”. Verzweifelt musste ich feststellen, dass es für eine Person, die 10 Kilogramm von der Untergrenze des Normalgewichts entfernt ist, nicht ausreicht, den laut Kalorien-Tracker angegebenen Kalorienbedarf am Tag abzudecken. Natürlich habe ich keinen Deut zugenommen. Mich hat es genervt, dass mir jeder sagte, dass ich zu dünn bin – aber vorwerfen konnte mir weiterhin niemand etwas, weil ich plötzlich tatsächlich normal gegessen habe. Natürlich habe ich meinen eigentlichen Zwang, wenig zu essen, dadurch wiederholt brechen müssen; doch das alles war es mir wert, um den Schein aufrechtzuerhalten. Um einen Schein nach außen für mein Umfeld zu erschaffen, der zeigt „Hey, ich bin okay, keine Sorge!“ Als Untergewichtige hätte ich wahrscheinlich das Dreifache essen müssen, um wenigstens etwas zuzunehmen. Doch das ging nicht. Mein Kopf war auf den Gedanken fixiert, bloß nicht mehr als „genug“ zu essen. Nicht unter den Tagesbedarf, aber auch nicht darüber. Und kalorienreiche Getränke wie eine Limo oder einen Cocktail habe ich konstant vorher in meinen Tageskalorienbedarf eingeplant oder dankend abgelehnt, da ich ja sonst „zu viel“ gegessen hätte. 

Jedoch wäre das nicht meine Geschichte, wenn der Plot nicht noch mal twisten würde. Im Juli 2021, in der letzten Woche in Paris, lernte ich jemanden kennen. Ich verliebte mich. Merkte, dass es mir ohne die Person nicht gut geht. Dass es mir nie wirklich gut ging und ich mich nicht um mich selbst kümmern kann. Ich merkte, dass ich mir selbst wehtue, mich in Grenzen zwänge, mir selbst Kontrolle aufzwinge, dass ich alleine nicht klarkomme und nie jemanden hatte, bei dem ich ich selbst sein konnte. Mit ihm konnte ich die Gedanken fliegen lassen, ihm konnte ich alles anvertrauen. Ich zog bei meinen Eltern aus, begann mein Studium und wollte alles, außer alleine sein. Er zeigte mir, wie einfach es sein kann, zu essen. Für ihn war das alles kein großes Thema. Während ich vor einem Treffen immer zwanghaft planen wollte, was wir wie und wo essen würden, war er der Typ Mensch, der sagte: „Lass uns doch spontan schauen, worauf wir Lust haben, okay?“ Ich beneidete ihn um seine Unbeschwertheit, die Lebensfreude. Aber ich spürte auch einen Wandel in mir, diese neue Lebensfreude, mit ihm. Das Einzige, was ich jetzt tatsächlich wollte, war herauszukommen aus jeglicher Art der Essstörung. Ich war nach drei Jahren so müde davon, immer nur an Essen zu denken. Ich wollte das Gefühl der Unbeschwertheit, wie ich es mit ihm hatte, behalten. Für immer. Wollte den ganzen Scheiß vergessen und nie wieder darüber reden. Es fühlte sich an wie Seelenverwandtschaft. Er hat mir geholfen, mehr zu essen, gesunde Mengen zu essen. Mengen, die mein Körper braucht. Er hat mir geholfen, mit meinen Unverträglichkeiten klarzukommen, hat mir beigebracht, auf meinen Körper zu hören und losgelöster zu sein. Mir auch mal einen Snack zu nehmen. Ich konnte nicht ohne ihn, er nicht ohne mich, und so zog er für mich um und wir zusammen.

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Vee (Name von der Redaktion geändert) Anfang August in Mannheim © Hendrik Nix

Mit ihm schaffe ich es heute, normal zu essen und habe innerhalb von einem dreiviertel Jahr 12 Kilogramm zugenommen. Nur ein Jahr nach unserem Kennenlernen im Juli 2022 finde ich mich im Normalgewicht wieder. Und wenn ich hin und wieder ein schlechtes Gewissen wegen eines Kuchenstückes habe, erinnert er mich daran, warum ich hier bin, wo ich bin: weil ich leben will. Weil ich nicht alle drei Stunden Schwindelanfälle haben will, weil ich nicht genug gegessen habe. Ganz losgelöst habe ich mich noch nicht – doch es funktioniert. Ich fühle mich besser, Tag für Tag. Meine Periode setzte nach zwei Jahren wieder ein. Es ist ein Auf und Ab, aber ich hoffe, irgendwann keine Zwangsgedanken oder Angst mehr rund um das Essen fühlen zu müssen. Besonders dann, wenn ich unter psychischem Stress stehe oder ich mich nicht gut fühle, überträgt sich das teilweise noch auf die Gedanken rund um das Essen. In diesen Momenten frage ich mich wieder, ob es okay ist, die Mengen zu essen, die ich esse. Ich frage mich, ob es okay ist, auch zwischen den Mahlzeiten etwas zu snacken, ob es okay ist, wenn ich mehr als andere und auch ungesunde Dinge wie Kuchen oder Eis esse. Bis heute habe ich aber gelernt, dass ich den Kampf nicht alleine bis zum Ende kämpfen muss. Wenn mir das Essen wieder schwerfällt, vertraue ich mich meinem Freund an und wir sprechen darüber. Er redet mir gut zu und erinnert mich daran, dass mein Körper Energie braucht, um zu funktionieren. Dass ich Essen brauche, um zu leben. Dass auch ungesunde Dinge okay sind und zu einer ausgewogenen und abwechslungsreichen Ernährung dazugehören. In den Momenten nimmt er mich in den Arm und ich merke, wie viel es wert ist, jemanden zu haben, dem man sich anvertrauen kann. 

Wie meine Geschichte weitergeht, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich dieses Kapitel meines Lebens abschließen will und dass ich meine Erfahrungen endlich teilen möchte. Dass ich dazu ermutigen möchte, mehr darüber zu reden. Dass ich Betroffenen zeigen will, dass eine Essstörung sich wandeln kann, diverse Formen annehmen kann und dass jede:r es verdient, Hilfe zu bekommen. Ein „krank genug“, um professionelle Hilfe anzunehmen oder sich jemandem anzuvertrauen, gibt es nicht. Ich bitte dich: Lass dir helfen. Es kann eine Menge an Leidensweg ersparen oder die Steine, die du aus dem Weg schaffen musst, zumindest verkleinern. 

Erkennst du Anzeichen einer Essstörung bei dir oder einem nahestehenden Menschen? In Deutschland bekommst du Hilfe unter der Nummer 0221 89 20 31 und bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Außerdem findest du Hilfe bei ANAD und dem Therapienetz Essstörung.

Autorin: Vee

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE. Du willst auch für uns schreiben? Dann schick uns deine Geschichte an info@dieverpeilte.de.

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