Es gibt viele Arten, einen Menschen zu vermissen. Manchmal ist es ein Freund oder eine Freundin, die auf eine lange Reise gehen. Manchmal vielleicht auch den:die Partner:in, den:die man unter der Woche nicht sehen kann, weil beide in unterschiedlichen Städten wohnen. Manchmal sind es vielleicht auch geliebte Menschen, die viel zu früh gehen mussten oder der Hund, den wir von Kindheitstagen an unserer Seite hatte und der stets auf uns aufpasste. Manchmal dauert es eine Weile, bis wir anfangen, Menschen zu vermissen und manchmal vermissen wir Menschen schon, wenn wir nur einen Gedanken daran verlieren, dass sie uns bald verlassen – ob kurz oder lang. Sehr oft kommt es aber auch vor, dass wir Menschen vermissen, die wir niemals kennengelernt haben oder kennenlernen werden. Es sind Menschen, mit denen wir niemals ein Wort wechselten, einen Blick austauschten oder sagten, wie sehr wir sie brauchen.

Während ich als kleiner Mensch noch durch die Welt tanzte und mir so gar nichts auf dieser Welt Angst bereitete, hatte ich schon immer dieses Gefühl. Manchmal war es wie ein Loch im Bauch, manchmal wie ein Loch Herzen oder manchmal auch ein Loch im Kopf. Es fühlte sich so an, als würde ein entscheidender Teil in meinem Leben fehlen. Ich fühlte mich unvollkommen. Ich hatte in meinem ganzen Leben nie ein Problem damit alleine zu sein, – ganz im Gegenteil. Obwohl ich schon immer mit Menschen gearbeitet habe, brauchte ich nach einer bestimmten Zeit „Erholungsphasen“ von dem ganzen sozialen Miteinander. Ich liebte es zwar, mit Menschen zu arbeiten, früher auf Partys zu gehen und ständig mit Freund:innen abzuhängen. Doch genauso liebte ich es, alleine zu sein und mich zu erholen. Und trotz der vielen Menschen, die ich in meinem Leben um mich scharrte, fehlte mir etwas und ich fühlte diese tiefe Einsamkeit.

Als ich ungefähr zwölf Jahre war, erzählte mir meine Mutter, dass ich einen Zwillingsbruder gehabt hatte, der bei der Geburt gestorben sei. Mein jüngerer Bruder, der eigentlich den Namen Florian tragen sollte, sei nicht lebensfähig gewesen, – so hieß es damals. Die Geschichte war spannend, aber ich nahm sie so hin. Als Zwölfjähriger hatte man doch noch anderes im Kopf, als sich über solche Dinge Gedanken zu machen. Ich fand die Vorstellung irgendwie interessant, irgendwie komisch und irgendwie unglaubwürdig. Letztlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass es jemanden geben sollte, der ein exaktes Ebenbild von mir sein könnte. Dass mein Gefühl etwas mit meinem Zwillingsbruder zu tun haben könnte, war mir in dem Alter nicht klar, – aber es blieb. Mit den Jahren fand ich eine Antwort und viele Argumente, woher diese Einsamkeit rührte. Ich war ziemlich gut darin, anderen Menschen, vor allem meinen Partner:innen, die Schuld für dieses Gefühl zu geben. Schließlich waren sie dafür verantwortlich, mir dieses Gefühl zu nehmen. Konnten sie es nicht, dann waren sie halt nicht die Richtigen. So einfach war das. Irgendwer musste ja schließlich schuld daran sein. Mit dem Gefühl lebte ich ganz gut, auch wenn das u. a. dazu führte, dass ich alle bisherigen Beziehungen mit 300 Sachen gegen die Wand fuhr. Am Ende gab mir aber genau dieses Scheitern wieder die Bestätigung dafür, dass ich Recht damit hatte. Sie waren nicht die Richtigen. 

Mit Anfang 30 befand ich mich gerade im Masterstudium und hatte ein Seminar zur Familienrekonstruktion mit Selbsterfahrungswoche. Alle Studierenden mussten dafür ein Genogramm ihrer Familien anfertigen. Darunter versteht mensch vereinfacht einen Stammbaum der eigenen Familie, der vor allem im therapeutischen Arbeiten oft genutzt wird, um u. a. familiäre Muster zu identifizieren, Krankheitsgeschichten aufzudecken und bestehende Konflikte über Generationen hinaus zu evaluieren. Die Aufgabe unserer Lehrtherapeut:innen vor dem Seminar: „Setzt euch mit euren Familien im Vorfeld zusammen und erstellt euer persönliches Genogramm mit allen relevanten Daten. Wichtig ist: Ihr lasst nichts aus! Absolut nichts und niemanden!“ Na gut, dachte ich mir und stellte mich auf einen sehr langen Abend mit meinen Eltern ein, der bei all den Geschichten familiärer Intrigen drohte, ein Krimi zu werden. 

Einige Tage später betrat ich mit einem riesigen Plakat den Seminarraum. Unsere Lehrtherapeut:innen teilten uns in verschiedene Gruppen auf. Dann bekamen wir gemeinsam mit ihnen die Möglichkeit, an unseren individuellen Fragestellungen beraterisch sowie therapeutisch zu arbeiten, die wir uns im Vorfeld im Hinblick auf unsere Familie überlegen sollten. Als ich am dritten Tag an der Reihe war, stellte ich der Lehrtherapeutin meine Geschichte vor. Bis dahin hatte sich das Gefühl der Einsamkeit immer stärker manifestiert, wofür ich mittlerweile ziemlich viele „abgeklärte“ Argumente hatte. Bis dahin war ich der einzige Akademiker, was zunehmend dazu führte, dass ich mich ausgegrenzt fühlte. Oft fehlte mir und meiner Familie die gleiche Sprache, die gleichen Themen, die gleichen Ansichten. Daraus ergab sich für mich die Frage, wie ich es schaffen konnte, diesem Gefühl der Einsamkeit und des Ausgegrenztseins zu entfliehen, um mich mehr als Teil der Familie zu fühlen. Ich hielt es für sinnvoll, diese Frage als mein Anliegen mit in das Seminar zu nehmen. Zudem hatte ich mir immer ziemlich viele blöde Kommentare anhören müssen, als ich gerade im Bachelorstudium steckte. Für mich war klar, dass dies ein weiterer Grund war, mich einsam zu fühlen.

Die Lehrtherapeutin und Leiterin des Seminars schaute sich meine Familie an und begann, mir Fragen zu stellen. Irgendwann deutete sie auf einen bestimmten Punkt im Genogramm hin. Ein für mich belangloses kleines Quadrat mit einem Kreuz durchgestrichen. Ein Quadrat, das zwischen all den anderen Quadraten und Kreisen keine Bedeutung zu haben schien. „Was hat dein Zwillingsbruder für eine Bedeutung bei deinem Thema?“ Von da an begann ein Moment, der niemals zu enden drohte. Ich schaute auf dieses Quadrat, auf dieses Nichts in meinem Leben. Ich versuchte zu antworten, doch ich konnte es nicht. Von einer Sekunde auf die andere nahm mir diese Frage jeden Atem, jede Luft und jedes Gefühl. Niemals hatte dieses Quadrat eine Rolle gespielt, doch ich konnte der Lehrtherapeutin das nicht mitteilen. Ich sah weder sie noch meine Kommiliton:innen, noch irgendetwas anderes um mich herum. Ich hörte nichts mehr, keine Frage, kein Laut oder irgendeine Reaktion auf meine gegenwärtige Apathie – einzig eine unglaublich laute Stille, die mich mit aller Kraft anschrie. Dann verschwamm alles, meinen Augen fühlten sich mit Tränen und ich weinte mehr, als ich es jemals im Leben getan hatte. 

Erst ab diesem Moment begann ich zu verstehen, was mir all die Jahre gefehlt hatte. Ich lebte früher in einer ganz kleinen WG mit einem Menschen, der mir näher war, als es jemals jemand sein würde. Ich teilte mir neun Monate lang auf engstem Raum eine Wohnung mit ihm. Wir teilten alles, was wir zum Leben brauchten. Es fühlte sich an diesem Tag an, als wäre gerade mein bester Freund gestorben, der einzige Mensch, der mich jemals verstehen würde. Damit würde ich nun leben müssen. Die Bedeutung dieses vorgeburtlichen Traumas um den Verlust dieses anderen Ichs war mir nicht bewusst. Doch ab diesem Moment durchlebte ich jede Phase der Trauer, immer und immer wieder. Jahrelang wollte ich nicht wahrhaben, dass da etwas war, bis ich wütend wurde und alle Gefühle aufbrachen. Am Ende blieb da nur ein Gefühl von Schuld. Warum er und nicht ich? Es sollte noch viele Wochen und Monate dauern, bis ich für mich die passenden Antworten gefunden hatte. Irgendwann stand ich im Archiv des Krankenhauses, um meine Geburtsakte einzusehen. Zwei Wochen später die Ernüchterung: Akten werden nach 30 Jahren in den Ofen geschmissen und verfeuert. Kurz hatte ich mir gewünscht, dass alle Beteiligten, die an diesem Morgen im August 1986 dabei waren, im Ofen brutzeln würden. Vielen Fragen blieben unbeantwortet und würden es immer bleiben. Ich war zu spät. Ich hasste sie, ich hasste ihn, ich hasste mich.

So lernte ich, jemanden zu vermissen, den ich niemals kennenlernen würde. Ich stellte mir oft vor, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wäre Florian dabei gewesen. Nach der Ungewissheit kam die Trauer, dann die Wut, dann wieder die Trauer und irgendwann die Dankbarkeit und der Wunsch, das Beste aus dem zu machen, was mein Zwillingsbruder mir hinterlassen hatte: Das Leben! Heute weiß ich, warum ich bestimmte Sachen im Leben so gemacht habe, wie ich sie gemacht habe, auch wenn sie manchmal Quatsch waren. Als ich anfing, ihn als einen Teil von mir zu begreifen, der immer noch da war und durch mich und das, was wir erlebt hatten, handelte, fühle ich mich nicht mehr so einsam. Solche vorgeburtlichen Traumata können Menschen ein Leben lang begleiten und beeinflussen. Selbst heute, wo der Mensch schon soviel über die Geburt und den Beginn des Lebens weiß, sind die Verluste eines Geschwisterkindes während oder bei der Geburt und die dadurch entstehenden Traumata noch ein weit unterschätztes Phänomen. Dabei sind laut dem aktuellen Stand der Wissenschaft 20 Prozent aller Schwangerschaften anfangs Mehrlingsschwangerschaften, wobei allerdings nur 1,2 Prozent Zwillinge geboren werden. Das zeigt schon, dass ein verlorener Zwilling keine Seltenheit ist und die daraus – möglichen – entstehenden Traumata durchaus eine Relevanz haben. Erst wenn wir uns dem Thema annehmen und den Verlust akzeptieren, stecken viele Chancen darin. Einen Zwilling zu verlieren bedeutet allerdings nicht immer auch darunter zu leiden. Der Prozess des Verlustes ist ebenso schmerzhaft wie individuell und ob wir später an Einsamkeit oder Verlustängsten leiden, lässt sich im Vorfeld nicht sagen. Umso wichtiger ist es, sich dem Thema hinzugeben, egal wie schmerzhaft es auch ist. Denn nur so gewinnt man die Lebensqualität und Klarheit, die es für ein sinnerfülltes Leben benötigt.

Als ich damals nach meiner Krankenhausakte suchte, stand das Krankenhaus so wie in den 80ern schon nicht mehr. Es wurde nach einem Brand neu aufgebaut. Auch den anliegenden Friedhof, auf dem totgeborene Kinder zumindest eine Nummerierung bekamen, gibt es nicht mehr – dort ist heute ein Park. Es gibt keinen Platz, an dem ich trauern oder mit ihm reden kann. Doch ich sehe und fühle ihn in allem, was ich tue und manchmal lächelt er mir sogar zu, wenn ich in den Spiegel schaue. 

Autor: Sebastian Bünger

Illustration: Mara Breuninger

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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